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EXPERIMENT AUROVILLE
LEBEN AUF EIGENE GEFAHR

Herbert Eisenschenk

EXPERIMENT

AUROVILLE

LEBEN AUF EIGENE GEFAHR

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ALLEN GEWIDMET, DIE AUFRICHTIGE ANTWORTEN ANZUNEHMEN VERMÖGEN.

CHARTA VON AUROVILLE

VORWORT

WEGE NACH AUROVILLE

DREAMLINER

SRI AUROBINDO – MASTERMIND VON AUROVILLE

WAS IST AUROVILLE?

KEIMZELLE ZUR RETTUNG DER WELT?

ANNÄHERUNG DURCH VERIRREN

ERKLÄRUNGSVERSUCHE

MEIN ABENDESSEN MIT OTTO

MACH DOCH WAS DU WILLST!

JANE UND DIE SCHOKOLADENFABRIK

MIRRA ALFASSA – DIE MUTTER

FRANCIS MÖCHTE FRANZÖSISCH SPEISEN

WARUM IST HIER (FAST) NIEMAND DICK?

JULIA – ILLUSIONEN UND EIN BEAUTYSALON

KONFLIKTE UND LÖSUNGEN »MADE IN AUROVILLE«

MICHAEL BONKE – AIRCONDITION FÜR ALLE

IN JOHNNYS WEITER WELT

DAS AUROVILLE-EXPERIMENT BILDUNG

SRIMOYI

SATYAVAN

INGE

WIE WIRD MAN AUROVILLIANER?

AUFNAHMESPIEL MIT »B«

CRISTIANO – AM ENDE EINES LANGEN WEGES

WAHRE SPIRITUALITÄT – AUROVILLES ENERGIEZENTRALE

HALLELUJA MIT ANLAUF

DAS GÖTTLICHE UMARMT DIE UNVERNÜNFTIGEN

ESSENZ DES EXPERIMENTS – INTEGRALES YOGA

LEBEN AUF EIGENE GEFAHR = FREIHEIT

INTERVIEW MIT UMGEKEHRTEN VORZEICHEN

DANKE

GLOSSAR

DIE CHARTA VON AUROVILLE

1. Auroville gehört niemandem im
Besonderen. Auroville gehört
der ganzen Menschheit. Aber
um in Auroville zu leben, muss
man bereit sein, dem Göttlichen
Bewusstsein zu dienen.

2. Auroville wird der Ort einer
nie endenden Erziehung sein,
eines immerwährenden Fort-
schritts und einer Jugend,
die niemals altert.

3. Auroville möchte die Brücke
sein zwischen der Vergangenheit
und der Zukunft. Indem es
sich alle äußeren wie inneren
Entdeckungen zunutze macht,
wird Auroville zukünftigen
Realisationen kühn entgegeneilen.

4. Auroville wird der Ort materi-
eller und spiritueller Forschung
sein, für eine lebendige
Verkörperung einer wahren
menschlichen Einheit.

Mirra Alfassa, 28. Februar 1968

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WIR SETZTEN DEN FUSS IN DIE LUFT
UND SIE TRUG.

Hilde Domin

VORWORT

»WENN DU SCHON UNZUFRIEDEN UND MIT ANGST NACH AUROVILLE KOMMST, DANN WIRST DU AUCH HIER KEIN LEICHTES LEBEN HABEN.«

Martin, 38, seit 11 Jahren in Auroville lebend

Mein Blick wird düster, wenn ich den kompromisslos logisch konstruierten Beschreibungen eines zukünftigen Menschseins vertrauen soll. Dabei ist es nicht das enorme Verlangen nach einem Verlassen des gegenwärtig bestimmenden Zustandes, das beunruhigt. Wohin diese Reise gehen soll, verstört. Bestimmte Begriffe, die gegenwärtig immer häufiger zu vernehmen sind, dokumentieren, in welche andere Welt der anscheinend unvermeidliche, da vorgezeichnete Weg führen wird müssen. Transhumanismus: über das Menschliche hinausgehend. Technologische Singularität: die sich selbstständig verbessernde Maschine. Superintelligenz: der menschlichen Gehirnleistung überlegener Intellekt von Computern und Zukunftswesen. Von einem unmittelbar bevorstehenden Evolutionsschritt ist immer öfter zu hören und zu lesen. Dieser würde endlich den Menschen aus seiner simplen Konstruktion befreien. Das Zeitalter der Fusion von Technologie und menschlicher Intelligenz ist keine Utopie mehr, sondern bereits jetzt Realität mit ihren ersten ausgeführten Schritten. Das ist u. a. auch die Überzeugung des US-Amerikaners Ray Kurzweil, technischer Entwicklungschef bei Google und wesentliches Mastermind dieser Vision. Er nennt die Jahreszahl 2045 als unwiderrufliches Eintrittsdatum in dieses neue Zeitalter der Menschmaschine. In seinem Buch »Das Zeitalter der spirituellen Maschinen« schreibt er von der Erlangung eines Superbewusstseins, welches die zukünftige Menschmaschine klar und deutlich vom heutigen unkompletten Menschen unterscheiden würde. Für mich als Mensch mit dem historischen Hintergrund der abendländischen Kultur und mit der Fähigkeit zu Empathie, der Liebe zur Natur und dem Glauben an die Existenz einer Seele ist diese Vision einer Gesellschaftsentwicklung dystopisch, im Gegensatz zur Utopie der Veredelung menschlicher Eigenschaften stehend. Ein knappes Jahrhundert ist es her, als der indische Philosoph und Mystiker Sri Aurobindo in ähnlicher, doch in seiner Konsequenz vollkommen unterschiedlicher Weise zu denken begann. Auch er gewann die Überzeugung, dass der gegenwärtige Zustand der Menschheit bloß als unvollkommene Zwischenstufe eines langen und beschwerlichen Weges zu seiner wahren Veränderungsbestimmung zu betrachten sei. Aber am Ende dieser Entwicklung erkannte Sri Aurobindo das Erlangen eines höchsten Göttlichen Bewusstseins. Dieses Ziel läge zwar in weiter Ferne und Sri Aurobindo hätte wohl nie eine Jahreszahl damit verbunden. Aber erste real zu setzende Schritte müssten den Menschen für das Wesentliche seiner gegenwärtigen Bestimmung sensibilisieren: die Bewahrung der Natur und ein Leben im Einklang mit ihr, sowie bewusstes menschliches Handeln im Auftrag eines friedlichen Zusammenlebens. Fünfzig Jahre seines Lebens widmete Sri Aurobindo der Entwicklung eines gangbaren Weges für Menschen mit Entschlossenheit und Überzeugung zum Beschreiten desselben. Am Ende dieses visionären Denkprozesses stand als seine Manifestation die Gründung von Auroville, die Stadtutopie für das Experiment zur Entwicklung eines zukünftigen Menschseins in Indiens Süden.

Vor vier Jahren, es war an einem Abend in einem Hamburger Speiselokal, haben meine Frau und ich über Auroville gesprochen, diesen sonderbaren Ort, den ich im Rahmen einer Indienreise 1981 erstmals besucht hatte. Nicht viel war mir von diesem damaligen Aufenthalt, der nur einen Tag dauerte, in Erinnerung geblieben. Eine bunte Ansammlung von einigen Hundert Menschen aus aller Welt hatte sich dort eingefunden, deren Ziel es war, eine praktizierbare Alternative zum unbefriedigenden und destruktiven Ist-Zustand der Menschheit zu leben. Ihr Ziel: die Altlasten eines inhumanen Menschseins hinter sich zu lassen und ihren persönlichen Weg zu einer schließlich göttlichen Vereinbarung zu finden. Sehr verwegen, sehr esoterisch, sehr idealistisch kam mir diese Absicht zu jener Zeit vor. Doch das bisher Erreichte scheint dem außergewöhnlichen Experiment Recht zu geben. Seit fast 50 Jahren findet an diesem subtropischen Ort, mittlerweile von knapp 2.500 Menschen, die tägliche Überprüfung des eigenen Lebens auf recht einfach klingende Fragen statt: Was ist für mein Leben notwendig? Wo beginnt Überfluss? Bin ich in der Lage, mich von unnützen materiellen Werten zu lösen? Bin ich bereit, mich dem permanenten Spieltrieb von Missgunst, Gier und Neid zu entziehen? Erkenne ich in mir die Bereitschaft ein höheres menschliches Bewusstsein entwickeln zu wollen, welches nach einer Lebensausrichtung im unbedingten Einklang mit der Natur verlangt?

Auroville nennt sich selbst Experiment zur Entwicklung der Menschheit. Und es ist auch nicht mehr als ein »sich Ausprobieren« im Rahmen eines groß angelegten Laborversuches. Aber die Versuchsanordnung entspringt keinem Lernspiel, sondern erfordert große Entschlossenheit und mutiges Handeln eines jeden Teilnehmers. Die eigentliche Absicht ist nur mit großem energetischen Einsatz und entsprechender Standfestigkeit zu bewältigen, denn sehr rasch wird aus dem bloß Abenteuerlichen des Versuchs ein reales Wagnis unter Einsatz der eigenen Existenz.

Später an diesem Abend, ich war bereits am Einschlafen, schüttelte mich meine Frau nochmals am Arm. »Mach doch einen Film oder schreib ein Buch darüber. Ich glaube die Zeit ist reif für dieses Thema.«

* Mit Sternchen gekennzeichnete Namen und Begriffe werden im Glossar erläutert, Seite 335 – 338.

WEGE NACH AUROVILLE

DREAMLINER

Kurz vor Mitternacht. Der digitale rote Streifen über Osteuropa hat die rumänische Küstenstadt Constanza erreicht. Ein Bildschirm vor mir zeigt an, dass wir in wenigen Minuten über dem Schwarzen Meer sein werden. Dahinter beginnt eine Welt mit anderen Vorzeichen. Ich hänge mehr als dass ich sitze in meinem Economy-Sitz und versuche zu lesen. Um mich herum leise bis ausgeprägte Schlafgeräusche der hauptsächlich indischen Mitreisenden. Im Gegensatz zu mir können Inder überall schlafen. Farbenfroh wie in einer Bahnhofswartehalle irgendwo in Südindien ist es auch hier im Flugzeug der Air India. Mütter mit ihren kleinen Kindern, auf unnachahmliche Weise ein- und zusammengerollt und friedlich im Tiefschlaf auf einer schmalen Sitzreihe liegend. Die schlafenden Kinder, auf mich immer wieder berührende Anmut ausstrahlend, sind mit bunten Tüchern aus sehr weich wirkenden Stoffen bedeckt. Neben mir sitzen Vater und Sohn, Eigentümer eines deutschen Mittelstandsunternehmens, auf dem Weg zu einer Messe in New Delhi. Auch sie nun schlafend, nachdem wir uns davor über die Eigenart Indiens klar zu werden versuchten. Schon beim Einsteigen in das Flugzeug lag dieser unverwechselbare Duft wieder in der Luft. Ein Cocktail aus Sandelholz, Jasmin, einem Hauch von Gewürzen, ich glaube Zimt, Kardamom und ein wenig Kampfer. Immer wieder bin ich auf meinen Reisen diesem Grundgeruch, eigentlich ein Duft des Wohlbehagens, in unterschiedlichsten Mischungsverhältnissen begegnet. Er wurde zur nicht mehr löschbaren Quintessenz meiner Indien-Identifikation.

Nach drei Stunden Nachtflug bin ich nicht mehr sehr munter, aber eine innere Unruhe hält mich in statischer Bewegung. Ich versuche mich weiter auf mein Buch zu konzentrieren. Es ist schwere Lesekost. Immer wieder gleite ich mit meinen Gedanken ab. »The Life Divine«, auf Deutsch »Das Göttliche Leben«*, ist eigentlich keine geeignete Einstiegsliteratur in den Kosmos des indischen Philosophen und Masterminds von Auroville, Sri Aurobindo. Und schon gar keine Reiseliteratur. Aber wie schon so oft in den letzten Monaten nehme ich das Buch auch jetzt zur Hand. Der Versuch es zu lesen, zeigt mir doch die ernste Bereitschaft für meine ehrliche Reiseabsicht. Ich habe nicht vor, mich der Gemeinschaft von Auroville anzuschließen, also Aurovillianer zu werden. Aber die Überzeugung, ein Buch über diesen Ort zu verfassen, bedeutet doch im ähnlichen Ausmaß die eigene Offenheit ständig zu kontrollieren und zu hinterfragen. Sri Aurobindos eigentliche Absicht annähernd zu erfassen, auch ohne die Tausenden Seiten seiner Literatur gelesen zu haben, erscheint dabei unverzichtbar. Das umfangreichste und im Zentrum seiner Arbeiten stehende Werk »Das Göttliche Leben« ist der groß angelegte Versuch gleichermaßen für die indische Wahrnehmungsweise als auch für die westliche Mentalität einen sehr schwer zu verstehenden Grundsatz nachvollziehbar zu machen: Spirituelle Entwicklung ist nicht zwangsläufig eine radikal asketische Abkehr vom Leben. Hinwendung zu einem geistig hoch entwickelten Zustand ist nicht an die radikale Einfachheit und die damit verbundene Ablehnung vitalen Verlangens geknüpft. Ein höheres Bewusstsein, welches sich aus dem Begehren erhoben hat, bildet sich nach Sri Aurobindo nur aus »völliger Reinheit und Meisterschaft« aus dem Selbst. Diese Reinheit bleibe dieselbe, ob aus Armut oder Reichtum geboren.

Eigentlich ist ein Flugzeug auf seinem Nachtflug nach Indien doch der richtige Ort für diese Lektüre, denke ich mir. Fliegen ist ja auch nichts anderes als eine Art von vitalem Schwebezustand und man bewegt sich weit von seiner Erdung und Bodenhaftung entfernt mit enormer Geschwindigkeit etwas Neuem entgegen. Ich überlege mir, ob das physische Schweben kombiniert mit Sri Aurobindos Lektüre das alte Bewusstsein eher aus seinen Verankerungen reißen, den Geist in höhere Sphären befördern könnte. Ich lache selbst über meine schräge Idee. Und spinne diese weiter: In welchem Bewusstseinszustand werde ich in vier Stunden am Flughafen von Indiens Hauptstadt ankommen? Ich bin davon überzeugt, dass er meinem gegenwärtigen recht ähnlich ist. Weitere neue Gedanken: Werde ich eine reale Auswirkung von Sri Aurobindos Lehre zur Erlangung eines entwickelten Bewusstseins während des mehrwöchigen Aufenthalts an meinem Zielort Auroville erfahren können? Ist beabsichtigte Veränderung des menschlichen Geistes auf ein höheres Level überhaupt möglich? Und wenn ja, wie soll das gehen? Sri Aurobindos Philosophie dreht sich immer nur um dieses zentrale Thema: der Weg des Menschen aus der Gefangenschaft eines von niederen Wünschen und Sehnsüchten diktierten Lebens in die Zonen des Lichts, wo sich das Göttliche mit dem Menschlichen verbindet. Diese Fragen und Gedanken hindern mich an der Schlaffindung. Das Buch liegt aufgeschlagen auf meinem Schoß und wartet. Leider habe ich heute keinen Fensterplatz. Ich habe es vor einigen Jahren mühelos geschafft, mehrere Stunden während eines Flugs von Calgary nach Europa in das nächtliche Himmels- und Erdendunkel hinaus und hinunter zu starren. Nur die Anzeige am Bildschirm sagte mir, dass wir uns irgendwo über Kanadas menschenfeindlichem Nordosten befanden. Aus dem Schwarz des Himmels formten sich plötzlich türkisgrün wabernde Polarlichtschleier. In diesen Momenten machte sich in mir ein alltagsfernes Gefühl breit. Die Vorstellung einer anderen möglichen Weltsicht als der mir bekannten nahm in mir verschwommene Konturen an. Am Zielort meiner jetzigen Reise wird der weltweit einzige ernstzunehmende Modellversuch für die Ausrichtung einer anderen, im menschlichen Handeln höher entwickelten Welt von morgen gelebt. Auroville wird als Stadt für die Zukunft der Menschheit bezeichnet und sollte Ausgangspunkt eines nächsten, wesentlichen Evolutionsschrittes sein.

Eine neue Zukunft des Fliegens wurde auch vor vier Jahren vom Boeing-Konzern mit dem Dreamliner eingeläutet. Sich hoch erhitzende und damit explosionsgefährdete Batterien verhinderten vorerst dessen Etablierung. Mittlerweile ist das alles unter Anfangsproblemen abgelegt und Vergangenheit. Air India setzt seit drei Jahren dieses als Wunderwerk propagierte Fluggerät ein – und an diesem Septemberabend sitze ich in einem solchen Dreamliner der indischen Fluglinie. Die Begründung dafür ist einfach: Angst. Nicht meine Flugangst, die mich zur Wahl dieses Fluggerätes drängte. Diese Furcht ist bei mir glücklicherweise nicht vorhanden. Nein, es war die Angst der Lufthansapiloten. Und diese hat dann erstaunlicherweise wieder einiges mit dem Inhalt dieses Buches zu tun. Die Geschichte nahm am Morgen meines Abflugtages mit der Ankündigung eines weiteren Streiks der Piloten von Deutschlands großer Fluggesellschaft ihren Lauf. »Lufthansa-Piloten bestreiken am Dienstag alle Langstreckenflüge« eröffneten die Radionachrichten an diesem Tag. Nun ist die Strecke Frankfurt – Chennai mit 7.500 Kilometern keine Kurz- oder Mittelstrecke und damit war rasches Handeln von meiner Seite notwendig geworden, um nicht vor Reisebeginn schon zu stranden. Es dauerte dann doch viele Stunden bis meine Umbuchung auf Air India bestätigt und damit meine Abreise gesichert war. Was aber war die Begründung der wiederholten Streikmaßnahme? Es ging um Geld und es ging um Sicherheit – und damit ging es um Ängste. Drei enorm potente Triebkräfte der besonders wirksamen Art, die für das »einwandfreie« Funktionieren unseres westlichen Gesellschaftsmodells stehen. Vor allem vermag gesteuerte Verunsicherung eine Gesellschaft wie mit riesigen Backen eines überdimensionalen Schraubstockes zu umklammern und nach Bedarf zusammenzupressen. Werden Angstdruck vor dem Ungewissen und die Sorge vor finanziellem Verlust zu hoch, beginnt der Mensch doch fast immer nach dem Prinzip »ich mache, was ihr wollt« zu funktionieren – oder er streikt, wenn er diese Möglichkeit hat. Es war die Angst der, wie ich annehme, doch sehr gut entlohnten Piloten vor finanziellen Einbußen im bevorstehenden Pensionsalter, die schließlich zur Arbeitsverweigerung führte. So wussten es die Medien zu berichten. Was mag das wohl für das reale Leben dieser Menschen bedeuten? Statt 10.000 bloß 8.000 Euro? Monatlich. Oder statt 6.000 nur noch 4.000 Euro? Zu wenig für ein zufriedenes Leben oder zu wenig für einen gewohnten Lebensstandard? Oder doch zu wenig zur Befriedigung der Gier? Weitere 60 Millionen Euro wird dieser Lufthansa-Streik, dann ausgeweitet auf zwei Tage, und schließlich durch den Verwaltungsgerichtshof vorzeitig gestoppt, den Konzern kosten. Eine Sechs mit sieben Nullen. Ist Geld auf dem besten Weg sich selbst zu entwerten, sich auszulöschen?

Wo ist nun ein Zusammenhang zum Ziel meiner Reise erkennbar? Schlüsselworte dafür sind Geld und Angst. Im Experiment Auroville soll im Laufe der Entwicklung Geld eine untergeordnete bzw. irgendwann gar keine Rolle mehr spielen. In Auroville ist schon der Begriff Geld ungeliebt, und ein wesentlicher Teil des Experiments befasst sich mit der Schaffung einer geldfreien Gesellschaft. Das Verschwinden des Geldes wäre die Garantie für den Wegfall sozialer Ungleichheiten innerhalb einer Gesellschaft. Utopische Fantasie? Vielleicht. Aber Auroville ist immer Experiment und so gut wie alles ist dabei gestattet. Nur Furcht oder Angst wären schädliche Begleiter. Wer in Auroville Fuß zu fassen versucht, hat ohnehin mit Furcht und Angst eher wenig am Hut (siehe einleitendes Zitat im Vorwort). Und damit ist ein wesentlicher Unterschied zur allgemeinen Verunsicherung unserer Gesellschaft deutlich erkennbar.

Während ich nun auch vor mich hin döse, entstehen weitere Bilder in mir. Von damals, als sich Ende der 1960er-Jahre die ersten Hundertschaften auf den außergewöhnlichen Weg zu diesem Experiment begaben. In den Metropolen Europas sammelten sie sich, um dann – oft im Konvoi – die Reise anzutreten. Niemand von ihnen hatte eine reale Vorstellung, was sie am Ende erwarten würde. Statt Dreamliner hatten sie bloß Träume von einem anderen Leben im Gepäck. Und den langen Weg bewältigten sie im VW-Bus oder sogar im Bauch der 2CV-Ente. Auf den alten Fotografien aus diesen ersten Tagen konnte ich auch schon einmal einen Mercedes Unimog erkennen. Zwischen zwei und drei Monate dauerte die Reise. Sie führte über die Türkei, Syrien, Iran, Pakistan und den Nordwesten Indiens schließlich in den Süden des Subkontinents. Länder und Gesellschaften mit den reichsten Kulturschätzen dieser Welt wurden durchquert. Jetzt liegen diese, und mit ihnen eine erschreckende Anzahl der dort lebenden Menschen, vernichtet von der Macht niederer und niedrigster Instinkte aus Orient und Okzident, in Staub und Asche.

Meine Gedanken ziehen weiter, genauso wie das Flugzeug über diese unsichtbaren Landschaften unter mir. Ich denke an die unbegreifliche Figur der Französin Mirra Alfassa*. Auroville in seiner praktischen Umsetzung ist vor allem Resultat ihres geistigen Lebenswerkes. In ihrem sogenannten »Traum« hielt sie fest, wofür Auroville stehen sollte:

Es sollte irgendwo auf der Erde einen Ort geben, den keine Nation als ihr grundsätzliches Eigentum beanspruchen kann, einen Ort, in dem alle Menschen guten Willens, aufrichtig in ihrem Streben, frei als Weltbürger leben können und nur einer einzigen Autorität gehorchen: der höchsten Wahrheit. Ein Ort des Friedens, der Eintracht und der Harmonie, wo jegliche kämpferischen Instinkte des Menschen ausschließlich dazu benutzt werden, die Ursachen seines Leidens und Elends zu bezwingen, seine Schwäche und Ignoranz zu überwinden, triumphierend über seine Begrenzungen und Unfähigkeiten hinauszuwachsen.

Die Quintessenz eines bewussten und achtvollen Umgangs zwischen Mensch und Mensch. In Auroville üben sie tagtäglich daran. Aber der Rest der Welt scheint diesen Traum nicht zu kennen.

Die Zeitanzeige am Monitor blinkt mir zwei Uhr entgegen. In Delhi geht bald die Sonne auf. Noch knappe drei Stunden bis zur Landung. Ich blättere wieder im »Göttlichen Leben«. Auf der Umschlagseite ist eine Fotografie von Sri Aurobindo. Es ist ein bekanntes Bild, das kurze Zeit vor seinem irdischen Ableben entstand. Der französische Starfotograf Henri Cartier-Bresson* hatte es aufgenommen. Bereits zu seinen Lebzeiten wurde Sri Aurobindo in Indien zur Legende. Internationale Beachtung fand er spätestens zum Zeitpunkt seiner Nominierung für den Literaturnobelpreis im Jahre seines Todes 1950. Zuerst als mit Wort und Feder bewaffneter Politiker des indischen Freiheitskampfes gegen Englands Kolonialdiktat und später dann als Philosoph, Mystiker und Visionär. Ich lege das »Göttliche Leben« schon wieder zur Seite und beginne stattdessen in einem Buch mit den biografischen Daten dieses besonderen Menschen zu lesen.

SRI AUROBINDO – MASTERMIND VON AUROVILLE

Sri Aurobindo glaubte an eine neue menschliche Evolution. Aber nicht technischer Art, sondern an die weitere evolutionäre Entwicklung des Menschen zum besseren Menschen. Nicht die unzureichende der Vergangenheit, in der sich der Mensch dank seines Intellekts über die Natur erhob, aber vergaß, sich in Demut vor ihr auch wieder zu beugen. Nein, eine zukünftige sollte den Menschen von seinen Unzulänglichkeiten erlösen, ihn zu einem freien Wesen mit befreitem Geist machen. Und Sri Aurobindo erkannte einen gangbaren Weg.

Wie muss jemand beschaffen sein, um im Laufe seines irdischen Daseins eine Art von Programm oder Leitfaden zur Umsetzung einer solchen verwegenen Idee zu schaffen?

Die Pendelbewegungen meiner Gedanken holen weit aus. Doch bloß esoterische Allmachtsfantasien eines radikalen Weltverbesserers? Diese simple Rechnung geht nicht auf. Das haben all jene im Laufe der letzten fünf Jahrzehnte zu akzeptieren gelernt, die das Experiment Auroville so gerne an den Pranger gestellt hätten, das Unterfangen für verrückt erklären wollten oder in die sinistre Welt des Irrational-Sektiererischen zu drängen versuchten. Aber Auroville existiert bald ein halbes Jahrhundert mit – wenngleich langsam – sich steigernden Zuwächsen der Gemeinschaft. Die Absicht für dieses Experiment in der Stadt der Morgenröte, so ihr eigentlicher Name, führt zurück in die Zeit der Kolonialisierung Indiens durch das britische Königreich.

Am Anfang der Geschichte stand die Geburt des Kindes Aurobindo Ghose in Kalkutta im Jahre 1872. Sein Vater war anerkannter Arzt, zwar nach hinduistisch-brahmanischen Glaubensgrundlagen erzogen, aber schließlich Atheist geworden. Er verbrachte entscheidende zwei Jahre zu medizinischen Studien in England. Eine Zeit, in der bei ihm die abendländische, vor allem anglikanisch-konservative Geisteshaltung gegen die anerzogenen Traditionen seiner Heimat die Oberhand gewann. Indische Spiritualität war für ihn unsinnige Zeitvergeudung, die bloß vom Wesentlichen des Lebens entfernte. Sein Sohn Aurobindo sprach in späteren Jahren von einer völligen Entfremdung des Vaters von den Wurzeln seiner indischen Kultur. Die Erziehungsabsicht des Vaters für Aurobindo und seine beiden Brüder sah keine Bildung im indisch-kulturellen und traditionellen Sinne vor. Seine Kinder sollten im Sinne einer abendländisch-aufgeklärten Geisteshaltung herangebildet und erzogen werden. Gemeinsam mit den beiden Brüdern wurde Aurobindo im Alter von sieben Jahren zur schulischen Grundausbildung nach England geschickt. Er erhielt in diesem Alter eine erste humanistische Ausbildung in den Fächern Latein, Englisch, Griechisch, Französisch, Mathematik und Geschichte. Lehrer waren ein englischer Geistlicher namens Reverend Drewett und dessen Mutter. Die Ghose-Brüder wohnten die ersten fünf Jahre in deren Familie. Dann kam es zum nachhaltigen Zerwürfnis mit den Drewetts, die in ihren Bestrebungen, die drei Brüder christlich zu missionieren, scheiterten.

Die Brüder zogen nach London um. Bis zu diesem Zeitpunkt wurden sie von ihrem im fernen Bengalen lebenden Vater finanziell unterstützt und von den Drewetts beherbergt. Plötzlich fehlte das Dach über dem Kopf und die Geldströme aus Indien begannen seltener und langsamer zu fließen. Aurobindo fand Aufnahme an der angesehenen Londoner St. Paul’s School. Die kommenden fünf Jahre verbrachte er an dieser Schule. Für ihn und seine Brüder wurden diese Jahre zu einer Zeit der Entbehrungen und zum unfreiwilligen Überlebenstraining. Sie hatten wenig zu essen und keine passende Kleidung für das kalte London. In Ermangelung sozialer Kontakte begann Aurobindo sich in seiner Freizeit intensiv mit französischer und englischer Literatur zu befassen. Er war ein hervorragender Schüler und während des Studiums am King’s College in Cambridge wurden seine intellektuellen Ausnahmequalitäten offensichtlich. Ein Begabtenstipendium garantierte ihm schließlich den Besuch dieser Einrichtung. Nach Abschluss seines Studiums und der Rückkehr in die indische Heimat war für ihn von seinem Vater eine Beamtenlaufbahn innerhalb der englischen Kolonialverwaltung vorgesehen. Er lehnte diese strikt ab. Aurobindos Satz, dass er zwar die gesamte europäische Literatur lieben gelernt hatte und die Philosophen des Abendlandes seinen Horizont unendlich zu erweitern vermochten, aber der direkte Kontakt mit den Engländern wegen fehlender Menschlichkeit für ihn ernüchternd war, gibt eine nachvollziehbare Erklärung für seine Entscheidung ab. Was er aber erkennen musste, war die Tatsache, dass er weder seine Muttersprache beherrschte, noch mit der Kultur Indiens vertraut war. Erschütternde Auswirkungen des 14-jährigen Aufenthalts in England. Durch das Engagement eines Verwandten erhielt er eine Anstellung im damaligen Fürstenstaat Baroda (im heutigen indischen Bundesstaat Gujarat gelegen). Ab 1900 war er als Professor für Englische Sprache und Literatur am Baroda College tätig. Im Nebenjob schrieb der 28-Jährige dank seiner ausgefeilten Rhetorik und Ausdrucksfähigkeit die Reden für den Maharaja von Baroda.

Was mir beim Lesen der Biografie über Sri Aurobindo in starker Erinnerung blieb, war diese enorme Fähigkeit, aus Sehnsüchten und Defiziten spontan Taten erwachsen zu lassen. Um seinen Wissensmangel an indischer Kultur nachhaltig zu beheben, lernte er Sanskrit (die Geistessprache Indiens, von der Erlernschwierigkeit dem Lateinischen noch überlegen), Gujarati (wer in Indien Gujarati spricht, gilt als hoch gebildet – Gujarat ist jener Bundesstaat mit der höchsten Bildungsrate seiner Einwohner) und Bengali, seine eigentliche Muttersprache. Er erkannte verstärkt seine neue Aufgabe in der Stärkung des Nationalbewusstseins, des eigenen und jenes der Gesellschaft. Der beste Weg zur Umsetzung war der Schritt in die Politik. Eine Möglichkeit ergab sich durch seine Rückkehr nach Kalkutta im Jahr 1906. Er wurde zum Vorstand des National Bengal College berufen. Gleichzeitig war er als Herausgeber der Zeitung »Bande Mataram«, einem Organ der Nationalistischen Partei Indiens, in der Lage, die Notwendigkeit der indischen Unabhängigkeit in die Köpfe und Herzen der indischen Bevölkerung zu transportieren. Aurobindo Ghose schrieb seine politische Überzeugung zur Unabhängigkeit Indiens nicht verklausuliert, sondern in offener Rede. In Folge avancierte er zu einer Führungspersönlichkeit der Hindu National Party.

1908 wurde von Seite der englischen Verwaltung gegen Aurobindo Ghose Anklage wegen Aufwiegelung erhoben und er inhaftiert. Ein Jahr verbrachte er in Untersuchungshaft im Gefängnis von Alipur, einem Stadtteil von Kalkutta. In diesem Jahr seiner Haft kam es zur inneren Konversion: Aus dem Politiker und immer waffenlos agierenden Unabhängigkeitskämpfer wurde der hinduistisch geprägte Philosoph und Weise. Schon in Baroda begann eine erste Zeit der geistigen Vertiefung durch indische Yoga-Techniken. Pranayama-Techniken (Zusammenführung von Körper und Geist mit Hilfe von Atemtechniken) standen dabei im Vordergrund. 1907 kam es zur Begegnung mit einem Guru in Baroda. Dieses entscheidende Treffen führte bei Aurobindo zur Sehnsucht nach dem Auffinden eines eigenen Yoga-Weges. Die 12 Monate in einer Einzelzelle des Gefängnisses verbrachte er mit täglicher Yoga-Praxis und dem Lesen der »Bhagavad Gita«*, eine der grundlegenden heiligen Schriften des Hinduismus. 1909 kam es zum Prozess. Mit ihm waren 48 weitere Personen angeklagt. Aurobindo wurde als einziger der Angeklagten freigesprochen. Da er ab dem Zeitpunkt seiner Entlassung unter englischer Dauerbeobachtung stand, und um einer willkürlichen neuerlichen Verhaftung zu entgehen, verließ er seine Heimat, die noch immer British India hieß. Aurobindo trat seine Reise, die mehr einer Flucht ähnelte, in den Süden Indiens an. Pondicherry, die damalige Hauptstadt Französisch-Indiens, wurde zu seinem neuen Lebensund Wirkungsmittelpunkt.

Gemeinsam mit ihm kam eine Gruppe Gleichgesinnter und politischer Mitstreiter aus dem Norden. Im kleinsten Rahmen begann Aurobindo mit ihnen seine Idee einer zukünftigen konfliktbefreiten Weltmenschheit zu definieren. Die Grundlage bildete dabei das hohe und wertvolle Potenzial hinduistischer Mystik und Spiritualität. Aber im Unterschied zu den Bestrebungen anderer indischer Weiser baute Aurobindo seiner Lehre eine zweite entscheidende tragende Säule ein: Während seiner Jahre in England muss er erkannt haben, welcher Reichtum und welches noch ungenutzte Potenzial in der Geistesgeschichte des Okzidents lagerte. Jetzt, in den Jahren seiner vertiefenden Wahrnehmung des unrühmlichen, selbst hautnah kennengelernten Zustandes eines menschlichen Gegeneinanders, entstand in ihm die Gewissheit, dass nur die Verbindung beider Geisteswelten zum Beschreiten dieses von ihm entworfenen, völlig neuen Weges tauglich ist. Ein Weg, der über viele Stufen und Etappen die Beschreitenden zu einem Göttlichen Bewusstsein bringen sollte. Als Hauptwerkzeug dafür entwickelte er in den Jahrzehnten seiner inneren Einkehr das Integrale Yoga. Nicht Übungen oder Körperhaltungen herkömmlicher Yoga-Techniken stehen dabei im Vordergrund, sondern ein in das Alltagsleben integrierter, immerwährender Vorgang der inneren geistigen Exploration. So soll Integrales Yoga* zum permanenten, zu jedem Zeitpunkt verinnerlichten Bestandteil des Lebens werden. Nur ein auf solche Art intensivierter Daseinszustand vermag nach Sri Aurobindos Sicht (das Sanskritwort »Sri«, also Herr oder auch Heiliger, stellte er ab 1920 seinem Vornamen voran) die Entfaltung unseres Bewusstseins auf eine höhere Ebene zu gewährleisten.

1926, im Alter von 54 Jahren, zog sich Sri Aurobindo aus der Öffentlichkeit komplett zurück. Die weiteren 24 Jahre bis zu seinem Tod im Jahr 1950 verbrachte er in einem sich mehr und mehr manifestierenden Zustand des höchst entwickelten Bewusstseins, welches er selbst als »supramental« bezeichnete. Im Erreichen dieses Zustandes sollte das sehr ferne spirituelle Ziel für die Menschheit und damit auch für die Gemeinschaft von Auroville liegen. Im Nahbereich menschlichen und zwischenmenschlichen Verhaltens befanden sich hingegen die meisten anderen zu lösenden Aufgaben. Die gesamte Palette an Unzulänglichkeiten und Schwachpunkten steht dabei auf dem Prüfstand. Keine Vorgaben und Gebote kommen auf diesem Überprüfungsweg zur Anwendung. So wie Sri Aurobindo selbst, müsste jeder nach seinen Möglichkeiten den Weg begehen.

»Sorry, Sir, breakfast!« Ich werde von der Stewardess geweckt, ein Tablett mit indischem Frühstück in ihren Händen. Als ich aufwache, habe ich das Buch »Das göttliche Leben« noch immer auf dem Schoß. Die indischen Kinder sind schon lange wach und grandios lebhaft. Dann die Durchsage aus dem Cockpit: Verbleibende Flugzeit zum Delhi-Airport: noch knapp 45 Minuten.

WAS IST AUROVILLE?

KEIMZELLE ZUR RETTUNG DER WELT?

Ca. 160 Kilometer südlich von Tamil Nadus* Hauptstadt Chennai liegt am Golf von Bengalen Pondicherry, die ehemalige Hauptstadt Französisch-Indiens. Von hier sind es nur knappe 10 Kilometer oder 20 Minuten mit der Motorrikscha zum Hochplateau, auf dem sich Auroville befindet. Seit 1968 wird an diesem subtropischen Ort im Süden Indiens die Idee von der Entwicklung zum bewussten und damit besseren Menschsein in den realen Lebensalltag umzusetzen versucht. Vor fast 50 Jahren aus der Suche nach alternativen Lebensformen gegründet, dem gefräßig wachsenden, unfriedlichen Neokapitalismussystem westlichen Erfindungsgeistes entgegengestellt, präsentiert die knapp 2.500 Einwohner umfassende Gemeinschaft gegenwärtig das einzige weltweit funktionierende Modell eines durch Bewusstseinsentwicklung erzielten, verantwortlichen Handelns des menschlichen Miteinanders. Auf den ersten Blick kann der Wertekanon Aurovilles zu unseren Maßstäben und Idealen unterschiedlicher kaum sein: Da freiwilliger Verzicht und die Überprüfung der Notwendigkeit von Besitz zu den maßgeblichen Qualitäten und Voraussetzungen des Lebens in Auroville zählen, beginnen hier bereits erste Verständnisschwierigkeiten. Wird doch im materiell orientierten Lebensideal Verzicht im gleichen Atemzug mit Verlust erkannt. Vergleich, Messbarkeit und Beurteilung sind weitere Parameter westlicher Denk- und Handlungsstrukturen und machen es noch schwieriger, das Anliegen Aurovilles begreifbar zu machen: den Menschen von jenen Fesseln zu befreien, die illusorisch ein Dasein im Glück versprechen und ihn gleichzeitig zum von Neid, Missgunst und Gier Getriebenen machen.

Aurovilles Ideal des zum Besseren gereiften Menschen ist zu den sogenannten alternativen Lebensmodellen zu zählen. Deren Sinnhaftigkeit wurde und wird von den Ideologen und Gläubigen des »Wachstum-durch-Konsum-Credos« belächelt und mehrheitlich abgelehnt. Zu oft haben sich unter diesen Versuchen auch Ideen von kaum überzeugenden Ausführungsqualitäten gefunden und waren von entsprechend kurzer Lebensdauer gekennzeichnet, um schließlich am selbst verursachten Chaos zu scheitern. Es sind zwei wesentliche Punkte, die Auroville diesem Schicksal entziehen: Seit seiner Gründung hält die UNESCO ihre schützende Hand über das Lebensexperiment und wird diese Maßnahme auch in der Zukunft fortsetzen. Noch wesentlicher ist die Tatsache, dass ein indisches Verfassungsgesetz bis heute das Geschehen an diesem Ort schützt. Und seit immer mehr Gesellschaften dieser Welt mehr und mehr an Bodenhaftung zu verlieren scheinen, zählen Botschafter und Regierungsabordnungen aus aller Herren Länder zu den Besuchern von Auroville. Der unvergleichliche Selbstversuch zeigt Früchte. Seine nachvollziehbaren Maßnahmen und Ergebnisse zu einem Leben im Einklang mit Natur und Mensch beeindrucken überwiegend und sind vorzeigbar. Das hat auch die indische Regierung erkannt und erhob Auroville zum gerne vorgezeigten Aushängeschild. Doch kann nichts von dem im Reisegepäck zur Behebung der eigenen Probleme mitgenommen werden, was an diesem Ort mühevoll und in Kleinarbeit bisher entstehen konnte. Denn Aurovilles Potenzial wurzelt in zwei entscheidenden Faktoren: in der Überzeugung und dem entwickelten Bewusstsein des Einzelnen zu einem in eigener Verantwortung geführten Leben und vor allem in dem Faktor Zeit. Wenn an diesem Ort in den vergangenen fast fünf Jahrzehnten eine Erkenntnis reifen konnte, dann jene, dass es großer Zeitvorräte bedarf, um tatsächlich nachhaltige Veränderungen im eigenen Leben zu vollbringen. Etwas ganz grundlegend Unterschiedliches zur Handlungsweise unserer westlichen Gesellschaften, deren Individuen so oft unter Zeitnot zu handeln haben. Das mag auch der Hauptgrund sein, warum Aurovilles Bewohner keine Heilsbotschaft zu verkünden haben und ihre Berufung definitiv nicht im Missionarischen sehen. Sie tun bloß das mit Konsequenz, worüber bei uns doch nur gesprochen und diskutiert wird und gehen damit kleinste Schritte einer Verwandlung. Ihre Hoffnung: eine langsam erfolgende Entwicklung, die nur durch Beständigkeit aus den Niederungen menschlichen Verhaltens zu einem höher entwickelten Dasein führen wird.

Als vergeblicher Traum eines Gutmenschendaseins wird dieser Weg dann von Anhängern einer ausschließlich rational geformten Weltsicht belächelt. Und dann lächelt Aurovilles Gemeinschaft zurück und antwortet: Nein, kein Traum und weder vergeblich, noch wirkungslos. Aber schwierige, mühevolle und harte Arbeit. Ohne der täglichen Bewusstmachung kann es keine praktische Befreiung aus all jenen Zwängen geben, die den Menschen in seiner hilflosen Zwangssituation bestimmen. Aber dazu bedarf es erst einmal der Klarsicht, diese prekäre Situation als solche zu erkennen.

Ein Buch über Auroville kann deshalb auch bei gesteigertem Bedarf nicht als Ratgeber und Lebenshilfe funktionieren. Aber es kann die Absicht von Menschen erfahrbar machen, für die der Begriff »Leben« in einem vollkommen anderen Wertekontext steht. Denn »zu leben« heißt für Aurovillianer vor allem einen von Illusionen gereinigten Zustand der unverfälschten Selbstbestimmung schmecken zu dürfen. Es ist eine Absicht, die ohne autoritäre Beeinflussung und Einschränkungen ihre Verwirklichung anstrebt und diese auch nur so erreichen kann. Keine Verbots- und Gebotsschilder sind an diesem Ort zu finden. Verordnungen und Gesetze haben der eigenen, aus Bewusstseinsentwicklung stattfindenden Entscheidungsfähigkeit Platz zu machen. Aurovilles Gemeinschaft ist keine Versammlung von Abenteurern, auch wenn sich darunter solche befinden mögen, die den Ort als postpubertären Abenteuerspielplatz erkennen wollen und entsprechend agieren. Doch jene, welche Herausforderung und Aufgabe als ihre innere Entwicklungsmöglichkeit begriffen haben, sind die wahren Abenteurer an diesem Ort.

Es wäre mein Wunsch, wenn Leser erkennen, wie sehr unser Leben in seiner wahren Bestimmung an uns vorbeizuziehen droht, wenn es nicht gelingt, seinen eigentlichen Auftrag zu erfüllen. Dieser besteht vorerst in nichts weiterem als der ständigen Überprüfung des eigenen Handelns hin auf seine daraus resultierenden Konsequenzen – den sinnvoll weiterführenden sowie den negativ verhindernden. So einfach klingend – und doch für die große Mehrheit von uns verstörend kompliziert. Aber in Auroville gelebter Alltag.

Auroville versucht sich in der Annäherung an eine Utopie. Diese lautet: Irgendwann gibt es einen hoch entwickelten Menschen mit einem Göttlichen Bewusstsein. Derzeit teilen an die 2.500 Menschen diese Vorstellung und arbeiten mit ihren bescheidenen Mitteln daran, den Weg zu diesem fernen Ziel zu ebnen, Hindernisse zu beseitigen, sich selbst für diesen Weg vorzubereiten. Und dann versuchen sie gemeinsam und jeder für sich in einer zweifellos besseren Absicht diesen Weg zu gehen, als es der Rest unserer Welt vermag. Diese Absicht ist entscheidend für die alltägliche praktische Umsetzung. Das Ziel selbst muss dabei irgendwann von außen nach innen wandern, verinnerlicht werden, da es ansonsten ein Hirngespinst, eine Illusion und damit unglaubwürdig bleibt. Und vor allem wäre die ständige Aufmunterung zur Umformung der Theorie in eine alltagstaugliche Form obsolet. Denn zwischen dem utopischen Ziel und den eigenen gegenwärtigen Kompetenzen liegt eigentlich eine – bewusst und rational betrachtet – unüberbrückbare Distanz, die nur durch eine enorme Zahl an kleinen und größeren Schritten menschlicher Reifungsprozesse überbrückt werden kann. Nur die Möglichkeit der Verinnerlichung der vordefinierten Endstation gibt Sinn für Aurovilles große Absicht. Ein externes, in unendlich weiter Ferne befindliches Ziel macht auch den Stärksten mut- und kraftlos, noch dazu, wenn es evident ist, dass dieses Ziel ohnehin für das Individuum so nicht erreichbar ist. Lange erschien mir deshalb Aurovilles Absicht als paradox, für Menschen nicht realisierbar, eigentlich unsinnig. Erst als im Laufe der vielen Gespräche immer öfter die Worte »in mir tragen« zu hören waren oder der Begriff »Verinnerlichung« häufiger fiel, dämmerte mir, wie dieser Weg beschritten werden könnte: Suche das Ziel in dir und nicht außerhalb. Und dann war es wie eine Kettenreaktion. Ich glaubte plötzlich zu verstehen, warum es hier keine Vorschriften und Gesetze gab, sondern bestenfalls behutsam definierte Anleitungen. Es war kein äußeres Ziel, welches alle vor Augen hatten und dem man sich mit dem nötigen Verhaltenskodex auch auf pauschalem Weg annähern konnte. Die Absicht und auch die Instrumente zur Ausführung derselben sind in jedem einzelnen der hier lebenden Menschen mehr oder weniger vorhanden. Und dann wurde mir auch klar, warum es an diesem Ort nichts geben durfte, was das Individuum von der Beschäftigung seiner Suche abhalten könnte. Keine Vertretungen der Großreligionen, kein politisches Parteiensystem und keine Werbetafeln. Die Befreiung bzw. Weglassung von allem, was ideologisches Potenzial und damit Konfliktverursachung in sich trug, war außerordentlich notwendig, um den äußerst anspruchsvollen Weg für den Einzelnen so gut wie möglich begehbar zu machen.

Im geistigen Nachlass der beiden Masterminds Sri Aurobindo und Mirra Alfassa, genannt »Die Mutter«, wurde das Ziel in Form eines hoch entwickelten, mit Göttlichem Bewusstsein ausgestatteten Menschen zwar eindringlich beschrieben, aber gleichzeitig haben auch beide nie vergessen, ständig darauf hinzuweisen, dass dieses Ziel in weiter Ferne liegt und unter Umständen auch nicht erreicht werden kann. Jeder Abschnitt des Weges, der von Menschen mit ihren gegenwärtigen persönlichen Möglichkeiten beschritten wird, hat unterschiedliche Hindernisse zu überbrücken und wird andere Erkenntnisse ans Licht bringen. Gegenwärtig scheint Aurovilles Gemeinschaft in der Auseinandersetzungsphase mit der Thematik Geld und seinen Auswirkungen zu stehen. Die aurovillianische Utopie stellt als Ziel ein Leben ohne Geld und damit ohne dessen schädliche Auswirkungen auf das empathische Verhalten des Menschen in Aussicht. Die mächtigen Verhinderer eines höher entwickelten menschlichen Miteinanders, wie sie Gier und Geiz darstellen, würden dann irgendwann nicht mehr existieren. Es ist sehr spannend darüber nachzudenken, aber eine exakte Wegbeschreibung dorthin existiert nicht. Glücklicherweise hat Sri Aurobindo keine Straßenkarte hinterlassen, die zeigt, welcher Weg zum Ziel eingeschlagen werden sollte. Glücklicherweise deshalb, da wir mittlerweile auch gewohnt sind, in unser Navigationssystem des Lebens ein Ziel einzugeben und dann die Wahl haben, eine Taste mit »kürzester Weg«, eine zweite mit »schnellster Weg« und eine dritte mit »sparsamster Weg« zu wählen. Ich stelle mir vor, dass Sri Aurobindo den Mitgliedern der Gemeinschaft bei ihrem Eintritt einen Zettel zusteckte, den jeder Aurovillianer ab diesem Zeitpunkt symbolisch bei sich trug. Darauf steht wohl nur:

DU KENNST DIE ABSICHT. WÄHLE DEINEN WEG SELBST. ACHTE BLOSS DARAUF, DASS DU IHN RICHTIG GEHST. ABER KEINE FURCHT VOR FEHLERN. VIEL GLÜCK.

Keine Längen- und Zeitangaben, nichts ist über hinterhältige Fallen zu lesen. Wenn man in eine hinein plumpst, dann gilt es eben sich wieder aufzurappeln, nach Möglichkeit weiter zu gehen. Nichts ist verboten. Alles muss über die eigene Erkenntnis ergründet werden. Und das ist auch bei dem Satz »Mach doch was du willst!« nicht anders, dem ich ein eigenes Kapitel gewidmet habe. Was du machst, ist deine Sache, aber beachte immer die Richtigkeit deines Entschlusses und die damit verbundenen Konsequenzen. Fehler sind bei deiner Reise nie ein Problem und sie werden häufiger auftreten, als dir lieb ist. Aber das Festhalten an Erklärungs- und Rechtfertigungsmustern, um eine hinterfragenswürdige Absicht zu stützen, ist der Beginn eines Spiels mit Doppelmoral. Auch in dieser Situation befindet sich Aurovilles Gemeinschaft immer wieder. Ich konnte in meinen zahlreichen Gesprächen erkennen, dass manche Personen die Begründung für ihr persönliches Handeln deutlich zu formulieren wussten. Besonders jene, die als Geschäftsleute tätig waren, fanden zu einer raschen Antwort, die vor allem mit Begriffen wie »Notwendigkeit« oder »akuter Bedarf« operierte, wenn ich die Frage nach dem aurovillianischen Sinn des Geldverdienens stellte. Andere wiederum – oft die Älteren der Gemeinschaft – taten sich recht schwer mir auf die Frage eine Antwort zu geben, was nun entscheidender für Auroville sei: die materiell-finanzielle Absicherung der Gemeinschaft mit allen erkennbaren negativen Konsequenzen oder das Bewahren einer Genügsamkeitsabsicht, welche bisher für die angestrebte spirituelle Entwicklung unverzichtbar schien. Die Frage entsprang eindeutig meiner westlich geformten Prägung einer »Entweder-Oder«-Mentalität und war im aurovillianischen Sinne nicht zu beantworten. Beide Möglichkeiten stellen begehbare Wege dar. Wer welchen wählt, ist der persönlichen Geschichte und Entwicklung untergeordnet. Erst das Beschreiten des Weges selbst würde zeigen, wie sehr die eigentliche Absicht von der gelebten Realität unterstützt oder eben auch verhindert wurde. Immer würde es Hinweise auf Richtigkeit oder Verirrung geben. Nur, und das ist für Menschen unserer Kultur schwierig zu akzeptieren: Was richtig ist, wird nicht von außen vorgegeben oder verordnet, sondern ist Resultat einer intensiven, ehrlichen und innerlichen Auseinandersetzung. Halten wir schon jetzt einmal fest, dass es auch an diesem speziellen Platz nicht wirklich viele zur Meisterschaft in diesen Disziplinen bringen. Aber das Tun steht vor der qualitativen Beurteilung.

Immerhin erklärte sich bei meinen Annäherungsversuchen auch bei mir das anscheinend unverständliche Paradoxon der Auroville-Utopie auf schließlich doch verständlichere Weise.

ANNÄHERUNG DURCH VERIRREN

Eine erste physische Begegnung mit Auroville ist für Besucher oft mit Konfusion verbunden. Die Bezeichnung »Stadt der Zukunft« sollte keinesfalls zu wörtlich genommen werden. Auroville ist vieles. Aber sicherlich kein Stadtgebilde nach westlichem Vorstellungsmuster.

Ich stelle mir die Frage, was jene Massen an Kurzzeitgästen, die zwischen Dezember und Februar hier einfallen, an schlüssiger Information mit sich zu nehmen in der Lage sind. Denn ein Aufenthalt dieser Eintagesbesucher unterscheidet sich nicht von asiatischen Touristen auf ihren »Europa-in-5-Tagen«-Trips. Da steht in Florenz eine 3-stündige Stadtrundfahrt auf dem Programm und vielleicht noch der Besuch der Uffizien oder der Galleria d’Accademia, um einen flüchtigen Blick auf Michelangelos David zu werfen. Und dann geht es schon zum Bus oder Flugzeug, um gleich wieder wohin zu fahren, ohne wirklich da zu sein. An diesem Ort ist es ähnlich: Besucher haben eine Art von Pflichtparcours zu erfüllen. Grundlegende Erläuterung durch Video und Ausstellung über Aurovilles Wirken im Visitors Center. Wer das Matrimandir* auch innen besuchen will, muss ein weiteres Video über sich ergehen lassen. Dieses ist für mein eigenes filmästhetisches Verständnis sehr eigenartig gestaltet und scheint in den frühen 1980er-Jahren entstanden zu sein. Im Vorführraum summen fröhlich-hungrig die Moskitos. Aber dann steht der nur wenige Minuten dauernden Busfahrt zum Matrimandir nichts mehr im Wege. Damit ist entweder ein 20-Minuten-Aufenthalt im Inneren des Gebäudes verbunden oder die Möglichkeit eines Selfies mit der berühmten Goldkuppel im Hintergrund, das beliebteste Fotomotiv bei Tausenden von Indern und einer wachsenden Zahl von Besuchern aus dem Westen. Danach Einkehr im Restaurant des Visitors Centers mit seiner guten Küche oder Kaffee und Snacks im gastronomischen Überflieger Aurovilles, dem Dreamer’s Cafe. Für eine große Anzahl der Tagesbesucher scheint aber zum wesentlichen Event das Shopping in einer der Boutiquen zu werden. Drei dieser Läden bieten eine beeindruckend große Produktpalette an nachhaltig erzeugten Textilien, Duftstofferzeugnissen und seit neuestem auch Nahrungsmittel an. Alles »Made in Auroville« und mehrheitlich organisch-biologischen Ursprungs.

Wer aber längere Zeit in Auroville verbringt, und damit ist ein Minimumaufenthalt von zwei Wochen gemeint, kann das sonderbare Gebilde auf eigene Faust erkunden und erhält damit die Chance etwas schwer Erklärbares langsam zu begreifen. Am Ende wird die Flut der Eindrücke aber wiederum vor allem Verwirrung verursachen. Folgende Frage wurde für mich während meiner Aufenthalte bestimmend: Wie sehr bemühe ich mich aus eigenem Antrieb heraus Erfahrungen zu machen? Bleibe ich in meinem Verhalten des Verweilens und Wartens verhaftet und versuche ich mir mit bloßer Logik Aurovilles anscheinende Widersprüchlichkeit zu erklären, dann wird am Ende eines Besuchs Frustration übrig bleiben. Sind es stattdessen aber Fragen, und zwar viel mehr am Ende als zu Beginn des Aufenthalts, dann getraue ich mir zu behaupten, dass ein wesentlicher Schritt in Richtung »Auroville begreifen« erfolgt ist. Denn eines ist Tatsache: Auroville ist nicht mit folgerichtigem Denken beizukommen. Es entzieht sich, wie schon gesagt, jeder »Entweder-Oder«-Handlungsmentalität. Ob man am Ende eines Aufenthalts eine eigene innere Veränderung in Richtung »Entweder und