Alfred Schütze

Ein Wissender
des Herzens

Urachhaus

ISBN 978-3-8251-6139-2 (epub)

Erschienen 2016 im Verlag Urachhaus

www.urachhaus.com

Erstmals erschienen 1938, 2. Auflage 1975

© 2016 Verlag Freies Geistesleben & Urachhaus GmbH, Stuttgart

Umschlagabbildung: Helmuth Westhoff,

© Rilke-Archiv Gernsbach

Layout & Satz: Janine Weikert

Gesamtherstellung: CPI books GmbH, Leck

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2016

Inhalt

Zitat

Einleitung

Das Wort

Appollinische und dionysische Weltgesetzlichkeit

Schicksal und Selbsterziehung

Liebe und Gemeinschaft

Wandlung

Gott und Welt

Die Toten

Ausklang

Anmerkungen

Bildnachweis

Impressum

Vielleicht ist eine Art Priestertum mir aufgetragen,

vielleicht ist es mir bestimmt,

manchmal, den anderen entfremdet,

auf einen Menschen zuzutreten,

feierlich, wie aus goldenen Türen.

Doch dann werden mich immer nur solche sehen,

die bei goldenen Türen wohnen …

Briefe 1899  1902, S. 369

Einleitung

Ein Künstler pflegt seine Anschauungen und Ahnungen über die höchsten Menschheitsfragen selten innerhalb eines bestimmten philosophischen Systems auszusprechen. Ebenso wie es unangemessen wäre, ihm dies zum Vorwurf zu machen, hieße es, dem künstlerisch Schaffenden Gewalt antun, wenn wir seine gelegentlichen Aussprüche über die »letzten Dinge« in ein starres Weltanschauungsgebäude pressen wollten. Damit ist aber nicht gesagt, dass ein Künstler keine feste und erkenntnismäßig zu begründende Weltanschauung zu haben brauche oder gar haben dürfe.

Manche Zeitgenossen sind der Meinung, dass es ganz unwesentlich sei, was ein Künstler denkt, und schätzen oder fordern die »Unbewusstheit« allen künstlerischen Schaffens: Glaubt ein solcher Kunstbetrachter eine bestimmte weltanschauliche Note in einem Kunstwerk zu finden, so geißelt er das womöglich als »tendenziös«.

Wir wollen hier nicht jenen billigen Machwerken das Wort reden, mit denen fanatische Apostel irgendeine Weltanschauung vertreten, der sie das dürftige Gewand einer an Kunst erinnernden Verkleidung geben. Wer aber wollte bestreiten, dass bei Goethe, Schiller, Ibsen, Maeterlinck − um nur einige charakteristische Persönlichkeiten zu nennen − die besondere Form und Struktur ihres künstlerischen Schaffens auf eine ganz bestimmte, scharf umrissene Weltanschauung zurückzuführen ist?

In gleich hohem Maße wie bei den angeführten Dichtern finden wir eine solche klar umschriebene Weltanschauung bei Rilke nicht. Das schließt nicht aus, dass wir doch gewisse einzelne, deutlich erkennbare Züge eines weltanschaulichen Wollens bei ihm unterscheiden können. Diese herauszuarbeiten, ist nicht nur erlaubt, sondern notwendig, wenn wir, über ein bloßes Genießen hinausgehend, den Dichter innerhalb des geistigen Lebens seiner Zeit verstehen wollen.

Rilke hat, wie viele seiner Zeitgenossen, zunächst eine tiefe Scheu davor gehabt, das Geistig-Ewige gedanklich fassen zu wollen. Gedanken und Begriffe schienen ihm ein untaugliches Werkzeug zum Begreifen des Übersinnlichen zu sein. Er glaubte, sich in die unausschöpflichen Tiefen des Gefühls zurückziehen zu müssen, um das Göttliche nicht zu verlieren. So lebt er die ganze Tragik eines Zeitalters mit, das eine entgeistete Intellektualität vorfindet und nicht den Mut aufbringen kann, an eine Höherbildung und Vergöttlichung des Denkens zu glauben. Die ganze Resignation unseres Zeitalters gegenüber dem Denken lebt in Rilke. Begriffe und Gedanken erscheinen ihm als etwas Lebensfremdes und Abgezogenes, in denen die volle Daseinswirkung nicht mehr vorhanden ist. Die Begriffe gehören seinem Gefühl nach einer schemenhaften Gespensterwelt an, die neben und außerhalb des vollsaftigen Lebens steht, einer unwirklichen Scheinwelt ohne Kraft und Vollmacht.

Rilke teilt mit vielen Gegenwartsmenschen das tiefe Misstrauen gegenüber einer Fähigkeit, die sich zu oft in blassen und falschen Theorien bloßgestellt hat, als dass man noch an ihren Wert zur Wahrheits- und Wirklichkeitserfassung glauben könnte.

So siedelt er sich in den weniger grellen, geheimnisumwobenen Bezirken des Gefühls an, um noch in den vollen Lebensstrom eintauchen zu können. Als Dichter will er zwischen und hinter Worten und Gedanken in Bildern das eigentliche wahre Dasein fühlen lassen.

Hier aber beginnt ein Prozess, den er selber vielleicht nicht voll durchschaut hat. Alle Kultivierung und Sublimierung des Gefühls, die Rilke bis zu einer ungeahnten Höhe getrieben hat, führt notwendig zu einer Durchlichtung und Bewusstwerdung innerhalb des Gedanklichen. So lässt sich verfolgen, wie er im Laufe der Jahre immer mehr und mehr zu einer Auskristallisierung von gedanklich erfassbarer Geistigkeit gelangt. Das Wahrheitselement seiner Dichtung ist so stark, dass es zu einer Sprengung des bloß gefühlsmäßig Erfahrbaren drängt.

Es ist überaus interessant zu sehen, wie Rilke in späteren Jahren selber die Notwendigkeit einer gedanklichen Unterbauung seiner Dichtung fühlt. So hat er wiederholt bei Vorlesungen von Dichtungen in einer für die Anwesenden oft überraschend präzisen und klar erkenntnismäßigen Form Erläuterungen vorangeschickt.

In erster Linie aber sind für uns seine Briefe eine Fundgrube für die erkenntnismäßige Durchdringung seines Gesamtwerkes. In ihnen spricht der Dichter die weltanschauliche Note seines Wollens, die innerhalb des Dichterischen oft verhüllt auftritt und womöglich die verschiedenste Deutung zulässt, klar und unmissverständlich aus.

Rilkes religiös-geistige Haltung weist über alles Konfessionell-Religiöse ebenso weit hinaus wie über jene Art von ästhetisierender Religiosität, die allerdings in seinen Werken auch vorhanden ist und in so merkwürdiger Weise Schule gemacht hat. Diese Seite der Religiosität Rilkes, die raschen Anklang gefunden hat, weil sie einer vorhandenen Zeitstimmung entgegenkam, ist die äußere Schale für ein tiefer liegendes ernsthaftes Element echter Spiritualität. Heute besteht die Gefahr, dass das bloß Ästhetische in Rilkes religiöser Dichtung jenen ernsten Geist-Gehalt seines Werkes verdunkelt. Die vorliegende Schrift möchte nun diese tiefere Seite der rilkeschen Geistigkeit in das Bewusstsein derer rücken, die ihn lieben und verehren. Dabei sollen nur einige wenige, besonders markante Züge seines weltanschaulichen Strebens nach Erfüllung mit echter Spiritualität dargestellt werden.

Alfred Schütze

Das Wort

Denn das Wort muss Mensch werden.

Das ist das Geheimnis der Welt!

Goethe hat in jener Szene des Faust, in der sich dieser an die Übersetzung des Johannes-Evangeliums wagt, in einer bedeutsamen Weise das Verhältnis des Menschen zum Wort charakterisiert:

»Geschrieben steht: Im Anfang war das Wort!

Hier stock ich schon! Wer hilft mir weiter fort?

Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen,

Ich muss es anders übersetzen,

Wenn ich vom Geiste recht erleuchtet bin.

Geschrieben steht: Im Anfang war der Sinn.

Bedenke wohl die erste Zeile,

Dass deine Feder sich nicht übereile!

Ist es der Sinn, der alles wirkt und schafft?

Es sollte stehn: Im Anfang war die Kraft!

Doch, auch indem ich dieses niederschreibe,

Schon warnt mich was, dass ich dabei nicht bleibe.

Mir hilft der Geist! Auf einmal seh ich Rat

Und schreibe getrost: Im Anfang war die Tat

Rembrandt, Faust. Rijksmuseum Amsterdam, um 1652

Man hat in diesen Versen Goethes eigene Stellung zum Worte sehen wollen, wie man ja häufig genug in naiver Weise die Faust-Gestalt mit Goethe zu identifizieren pflegt. Obendrein kommt die Zeitmeinung über das Wesen des Wortes dieser Deutung entgegen, sodass man keinen Anstand nahm, auch in den obigen Sätzen der Faust-Dichtung ein Stück jener Konfession zu sehen, wie sie im Ganzen genommen tatsächlich in seinen Werken niedergelegt ist. Man vergisst bei solcher Auslegung nur, dass Goethe im Faust einen menschlichen Entwicklungsgang darstellt, der ja auch durch zahllose Irrtümer und Tiefen führt. Wenn man sich daraufhin die künstlerische Komposition der obigen Szene genauer ansieht, wird man gewahr, wie die Szene ihre innere dramatische Spannung durch die Anwesenheit des Pudels bekommt, in dem Mephisto verborgen ist.

Kann man durch die Sprache der Komposition eindeutiger klarmachen, welchen Akzent das geschilderte Geschehen haben soll? Der Geist des Mephisto ist es, der den Faust bei seiner Übersetzung berät und inspiriert. Der Pudel knurrt während der ganzen Zeit hinter dem Ofen! Diese dramatische Anordnung des Ganzen lässt den Zuschauer fühlen − was Faust nicht weiß −, dass Mephisto es ist, der auf die Frage: »Wer hilft mir weiter fort?« sich zum eilfertigsten Inspirator macht. Und nachdem der Pudel sich in den fahrenden Schüler verwandelt hat, antwortet dieser auf Faustens Frage nach seinem Namen, in ironischer Weise auf die Übersetzungsszene anspielend: »Die Frage scheint mir klein für einen, der das Wort so sehr verachtet!«

Die Verachtung des Wortes, die Faust durch seine verschiedenen Übersetzungen bekundet, beruht auf einer Einflüsterung des Teufels. Er sagt: »Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen«, und übersetzt darum den im Original stehenden Begriff »Logos«, immer mehr an Niveau verlierend, mit Sinn, Kraft und Tat. In dieser Stufenfolge werden die Begriffe ihrem geistigen Inhalt nach immer ärmer und dürftiger. Einer heute üblichen Auffassung wird das allerdings womöglich umgekehrt erscheinen. Sie würde in dieser Reihenfolge eine deutliche Steigerung zu sehen vermeinen: Vom bloßen Reden (Wort) geht es über den abstrakten Gedanken (Sinn) vorwärtsschreitend zu Kraft und männlichem Wirken und Schaffen (Tat).

Wer in der Betrachtung über Wort-Sinn-Kraft-Tat nur an den Menschen und womöglich an den heutigen, geistig entwurzelten Menschen denkt, der nur die äußere Sinnenwelt als Wirklichkeit anerkennt, kann allerdings nur in der angeführten Weise urteilen. Er vergisst dabei allerdings, dass im Prolog des Johannes-Evangeliums vom Urbeginne des Weltgeschehens gesprochen wird, der vor der Schöpfung, ja vor aller Zeit liegt.

Das Wort, das hier gemeint ist, ist nicht Menschenwort, sondern das schaffende Geistwort Gottes, in dem alle spätere Schöpfung latent schon enthalten ist. Dieser göttliche Logos ist Gott selbst, oder im Sinne Fichtes gesprochen: das Dasein Gottes, das mit seinem inneren, verborgenen Sein unabtrennlich verbunden und eins ist; in der Sprache der Theologie ausgedrückt: der göttliche Sohn, der mit dem Vater wesenseinig ist. Tritt dieses göttliche Wort für ein denkendes Wesen in die Erscheinung, so offenbart es sich als Vernunft oder Weisheit.

Hier haben wir die Stufe, auf der das Wort als Sinn aufgefasst werden kann. Gehen wir eine Stufe weiter hinunter, so kommen wir aus dem Gebiet der vernunftbegabten Wesen in das des bloß Lebendigen. Hier manifestiert sich die göttliche Weisheit als Kraft. Schließlich kann die göttliche Kraft im Bereich des Sinnlich-Materiellen als Tat erscheinen. Man könnte auch sagen: Es ist der Weg der Fleischwerdung des Wortes. Am Anfang steht das Wort – am Ende die Tat. Das Wort ist Sinn, Kraft und Tat zugleich − und noch mehr! Die Übersetzungen Fausts stellen also einen Abstieg dar.1

Der Weg vom Wort über Sinn und Kraft zur Tat ist der Weg, auf dem die Mächte, die Goethe in der Gestalt des Mephisto darstellt, den Menschen aus göttlichen Geisteshöhen in das Irdisch-Sichtbare hinabzuführen suchen. In diesem Sinne ist Mephisto der Inspirator des Faust beim Übersetzen des Johannes-Prologs.

Wenn die obigen Ausführungen über den Logos auch nicht unmittelbar auf das menschliche Wort angewendet werden dürfen, so liegt doch ein bedeutungsvolles Geheimnis in der Tatsache, dass man glaubte, den Begriff über das Erzeugnis menschlicher Sprachfähigkeit zur Kennzeichnung des Göttlichen verwenden zu dürfen. Hier offenbart sich die instinktive Weisheit der frühgriechischen Philosophie, der ja der Logos-Begriff als Name für das göttliche Schöpferwesen entstammt. Denn im menschlichen Wort liegen die Keimkräfte zu einer Schöpferfähigkeit, die weit über das bloß Dichterische hinausgeht. Diese Größe und Heiligkeit des Wortes wird freilich heute kaum geahnt.

Es ist bezeichnend für unsere Zeit, dass sie in der Mehrzahl ihrer Vertreter sich gern mit Faust identifiziert, wenn er sagt: »Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen.« Das Wort gilt heute als mehr oder weniger bequeme Scheidemünze, die man ausgibt und einnimmt, um sich gegenseitig zu verständigen. Es ist zum Vehikel des Begriffs geworden, das man freilich nicht entbehren kann. Einen göttlichen, schöpferischen Eigenwert wird man ihm jedoch kaum zugestehen.

Wie aber könnte jemand ein Dichter sein, der nicht an die schöpferische Macht des Wortes glaubt, der sich nicht – seine Göttlichkeit ahnend – demütig zum Diener des Wortes macht! Darum kennzeichnet den Dichter die Achtung vor dem Wort. Rainer Maria Rilke darf mit vollem Recht ein Diener des Wortes genannt werden, denn in ihm lebte, wie wohl nur in wenigen Dichtern dieses Jahrhunderts, eine höchste Verantwortung und Ehrfurcht vor dem Wort.

Natürlich musste der junge Rilke erst durch innere Wandlungen hindurchgehen, ehe er die volle Bedeutung seines Auftrags bewusst ergreifen konnte. Selbst die Versuchung, wie Faust das Wort zu unterschätzen, blieb ihm nicht erspart. In den »Dramaturgischen Blättern«, einer Beilage zum »Magazin für Literatur«, schrieb der 23-jährige Rilke in einer Antwort auf einen Beitrag über die Berechtigung des Monologs im Drama:

»Aber man wird einmal aufhören müssen, ›das Wort‹ zu überschätzen. Man wird einsehen lernen, dass es nur eine von den vielen Brücken ist, die das Eiland unserer Seele mit dem großen Kontinent des gemeinsamen Lebens verbinden, die breiteste vielleicht, aber keineswegs die feinste. Man wird fühlen, dass wir in Worten nie ganz aufrichtig sein können, weil sie viel zu grobe Zangen sind, welche an die zartesten Räder in dem großen Werk gar nicht rühren können, ohne sie nicht gleich zu erdrücken. Man wird es deshalb aufgeben, von Worten Aufschlüsse über die Seele zu erwarten, weil man es nicht liebt, bei seinem Knecht in die Schule zu gehen, um Gott zu erkennen …«2

Für den Freund menschlicher Schicksalszusammenhänge ist es nicht ohne Reiz, die Antwort des damaligen Herausgebers des »Magazin für Literatur«, Rudolf Steiner, darauf zu lesen:

»… Es scheint mir nämlich, als hätte es einen Künstler gegeben, der Rilkes Worte unterschrieben hätte: ›Aber es gibt etwas Mächtigeres als Taten und Worte.‹ ›Diesem Leben Raum und Recht zu schaffen, scheint mir die vorzügliche Aufgabe des modernen Dramas zu sein.‹– Dieser Künstler ist Richard Wagner. Und er hat das von Rilke aufgeworfene Problem in einer ganz bestimmten Weise zu lösen gesucht. Er meinte, dass dasjenige, was von diesem Leben in Worten nicht ausdrückbar ist, die Sprache der Musik suchen muss. Der Verfasser des obigen Aufsatzes dagegen lässt die Frage, die er aufwirft, unbeantwortet. Ich glaube aber auch noch, dass er die Ausdrucksfähigkeit des Wortes unterschätzt. Im Grunde lässt das Wort noch mehr ahnen, als es klar und deutlich zum Ausdrucke bringt. Und wenn man sich an diesen tieferen, durch Ahnung zu erreichenden Sinn des Wortes hält, dann kann es − nach meiner Meinung − bis zu den verborgensten Tiefen des Seelenlebens hinweisen. Man darf es dem Worte nicht zum Vorwurfe machen, dass es von den meisten Menschen nicht tief genug genommen wird. Es ist nicht eigentlich selbst eine grobe Zange, sondern eine feine Zange, die zumeist von groben Händen gehandhabt wird. Rilke scheint mir einer von den Kritikern des Wortes zu sein, die dem Worte zurechnen, was eigentlich den − Ohren der Hörenden abgeht.«3

Rilke erwiderte hierauf:

»Ihre Bemerkungen zu ›Der Wert des Monologs‹ sind treffend. Sie beschäftigen mich. […] Es scheint in der Tat, als ob ich dem ›Worte‹ arg unrecht getan hätte. Man darf nicht vergessen: Ich habe nicht an jene einsamen Worte gedacht, in welche gehüllt große Vergangenheiten unter uns leben wie Zeitgenossen. Das Wort des Verkehrs, das kleine, tägliche, bewegliche habe ich beobachtet, das im Leben wirkt oder doch zu wirken scheint …

An dieses Wort denke ich, wenn ich behaupte, die Seele hätte nicht Raum in ihm. Ja es scheint mir geradezu, als wären Worte solcher Art vor dem Menschen wie Mauern; und ein falsches, verlorenes Geschlecht verkümmerte langsam in ihren schweren Schatten. […]

Jedes Wort ist eine Frage, und das, welches sich als Antwort fühlt, erst recht. Und in diesem Sinn ist Ihre Bemerkung richtig, dass die Worte, unvermögend Offenbarungen zu geben, vieles ahnen lassen. Es steht also bei jedem, ein Wort weit oder eng, reich oder armselig zu fühlen …

Aber ist damit von der Bühne her, einer vielsinnigen Menge gegenüber etwas, oder sagen wir gleich − das, worauf es ankommt, nämlich die einheitliche Wirkung erreicht? − Und dann mit dem ›Ahnen‹ überhaupt: war das nicht eine arme und verlassene Welt, welche Gott ahnte hinter den Dingen? War das nicht ein müßiger Gott, ein Gott mit den Händen im Schoß, der so genügsam war, sich ahnen zu lassen? Heißt es nicht vielmehr: ihn finden, ihn erkennen, ihn tief in sich selbst schaffend, wie mitten in der Werkstatt überraschen, um ihn zu besitzen?

So glaube ich auch, dass wir uns nicht begnügen dürfen, das hinter den Worten zu ahnen. Es muss uns irgendwann sich offenbaren …

Den Raum über und neben den Worten auf der Bühne will ich für die Dinge im weitesten Sinn … Raum will ich für das alles, was mit teilnimmt an unseren Tagen und was, von Kindheit auf, an uns rührt und uns bestimmt. Es hat ebenso viel Anteil an uns als die Worte. Als ob im Personenverzeichnis stünde: ein Schrank, ein Glas, ein Klang und das viel Feinere und Leisere auch. Im Leben hat alles denselben Wert, und ein Ding ist nicht schlechter als ein Wort oder ein Duft oder ein Traum. Diese Gerechtigkeit muss auch auf der Bühne nach und nach Gesetz werden. Mag sein, dass das Leben eine Weile lang in den Worten treibt wie der Fluss im Bett; wo es frei und mächtig wird, breitet es sich über alles; und keiner kann sein Ufer schauen.

Ich stelle Ihnen, verehrter Herr Doktor, anheim, ob Sie etwas von diesen Erörterungen für Ihr gesch. Blatt verwenden. Jedenfalls danke ich Ihnen für die Anregung, die mir Ihre Notiz vermittelte, und halte mich für verpflichtet, Ihnen die Frucht derselben hiermit zu überreichen.

In besonderer Wertschätzung

Ihr ganz ergebener

Rainer Maria Rilke«4

Man kann solche Sätze nicht ohne Anteilnahme lesen, wenn man bedenkt, dass der, der sie niederschrieb, später zu einem der größten Wort-Gestalter geworden ist.

Wir wissen nicht, ob diese kurze Begegnung Rilkes mit Rudolf Steiner nicht noch einen tieferen Eindruck auf den jungen Dichter gemacht hat, als die obige Aussprache vermuten lässt. Jedenfalls hat Rilke in den folgenden Jahren, die ersten unbedeutenden dichterischen Anfangsversuche hinter sich lassend, immer mehr eine solche Steigerung der sprachbildenden Kraft erreicht, dass seine Worte in hohem Maße Aufschlüsse über die verborgensten Tiefen der Seele geben konnten, wie er selber es vom Wort nicht glaubte, erwarten zu dürfen.

In einem seiner Erstlingswerke (Mir zur Feier) sagt er noch:

Die Worte sind nur die Mauern,