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TOM BOUMAN

 

AUF DER JAGD

 

 

 

 

KRIMINALROMAN

 

 

Aus dem amerikanischen Englisch von Gottfried Röckelein

 

 

 

ars vivendi

 

Verlag und Übersetzer bedanken sich bei Killen McNeill, Autor und Musiker, der seine profunden Kenntnisse irischer Volksmusik bereitwillig zur Verfügung gestellt hat.

 

 

Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel Dry Bones in the Valley.

Copyright © 2014 by Tom Bouman

First published in the USA in 2014 by W. W. Norton & Company Inc.

 

 

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Deutschen Originalausgabe

(1. Auflage Januar 2017)

© 2017 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Bauhof 1, 90556 Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

Lektorat: Stefan Imhof

Umschlaggestaltung: FYFF, Nürnberg

Motivauswahl: ars vivendi

Coverfoto: © Paul Grand / Trevillion Images

 

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN 978-3-86913-746-9

 

Für Ma

 

INHALT

DANK

DER AUTOR

DER ÜBERSETZER

 

 

Eine alte Ballade ist oft wie ein alter Silberdolch oder eine alte Messingpistole; sie ist rostig oder grünlich; sie kündet von unheilvollen Schicksalen aus alter Zeit und deren Wirken in der Gegenwart.

 

CARL SANDBURG, The American Songbag

 

IN DER NACHT, bevor wir die Leiche fanden, konnte ich nicht schlafen. Wir hatten Mitte März und Tauwetter. Der Schnee, der seit Januar alles bedeckte, lockerte endlich seinen Griff, füllte Gräben und Bäche, tropfte von den Vorsprüngen meines Daches und strömte als Schmelzwasser aus meinen Regenrinnen. Am Horizont, drei Bergkämme weiter im Südwesten, fackelte ein Frackingteam Erdgas aus einem Bohrloch ab. Barfuß zitterte ich auf meiner Veranda mit einer Tasse Kaffee und betrachtete die Wolken, wie sie blutergussviolett im Schein des Feuerballs unter ihnen flimmerten. Das von mir gemietete alte Bauernhaus war im Lauf der Jahre unbehindert immer weiter mit dem Berghang verwachsen. Dann traf eines Tages die Prozession riesiger Maschinen ein, um Bäume auszureißen und sie von ihren Wipfeln und Wurzeln zu befreien, um Zugangsstraßen anzulegen, Gerätschaften herbeizuschaffen und zu bohren. Verglichen mit der Geländerodung für einen Bohrplatz gingen die eigentliche Bohrung und das Fracking beinahe leise vonstatten. Ich könnte fast sagen, dass es sich wie ein starker Wind anhörte, der durch die Kiefern fuhr, wären da nicht die Stopp-und-Start-Geräusche und das Jaulen der Maschinen gewesen, die mit der Erde rangen, nicht das Glühen am nächtlichen Horizont und die Tanklaster, die unsere Schotterpisten hinauf- und herunterrumpelten, welche man eigens verbreitert hatte, damit sie aneinander vorbeifahren konnten, nicht die vielen Scheinwerfer und Rücklichter, die sich über die winterlichen Berge zogen wie Weihnachtsdekorationen.

Um vier Uhr akzeptierte ich, dass ich keinen Schlaf mehr finden würde. Und als der Tag anbrach, als die Sonne magentarot im Osten aufging, war ich erleichtert.

Gegen sieben aß ich tiefgekühlte Waffeln mit Erdnussbutter, entwirrte den Haarfilz in meinem Bart, zog die Uniform an und machte mich auf zu meiner Dienststelle. Von der Gemeinde war ich in den Garagenbau mit den Schneepflügen, Feuerwehrautos und anderen Fahrzeugen einquartiert worden, bei den Kies- und Sandpyramiden gegenüber dem Festplatz, in einem ruhigen Tal aus der schwindenden Anzahl ruhiger Täler im Nordwesten von Pennsylvania. Die Garage ist ein Ytongbau auf einem geschotterten Grundstück, weiß gestrichen und mit akkuraten schwarzen Buchstaben beschriftet: GEMEINDE WILD THYME FREIW. FEUERWEHR.

Die Polizeiwache ist durch eine Trockenmauer von der Garage abgetrennt; man kann hören, wie die Mechaniker und Straßenarbeiter arbeiten und auch alles, was sie sagen. Mein Dienstzimmer war standardmäßig mit einer Gastronomiekaffeemaschine ausgestattet, doch war mein Vorgänger offenbar der Kanne mit dem braunen Schnabel verlustig gegangen und hatte mir nur die mit dem orangenen hinterlassen, die für koffeinfreien Kaffee bestimmt war und mir das deprimierende Gefühl vermittelte, fortwährend koffeinfreien Kaffee zu trinken, weshalb ich aus eigener Tasche das ganze Ding durch eine neue, vollkommen schwarze Kaffeemaschine ersetzte. Zum Inventar gehörte auch eine Hängedecke, die irgendjemand vor langer Zeit im Dienstzimmer installiert hatte, aber ich mochte nicht dauernd auf die unzähligen kleinen Löcher und braunen Flecken darin schauen. Also habe ich die Platten einzeln herausgebrochen, Rahmen und Gestänge abgeschraubt und zerlegt. Irgendwo liegt das Zeug noch herum, falls jemand es wieder anbringen möchte. Bis das geschieht, möchte ich mir lieber betrachten, wie alles zusammengehalten wird und funktioniert, die nackten Konstruktionselemente, alles unverstellt und aufs Wesentliche reduziert, angefangen bei meinem blechverkleideten Schreibtisch bis hinauf zu den Leitungsrohren und der Klimaanlage unter der Decke. Es gibt ein gerahmtes Porträtfoto des Gouverneurs an der Wand, eine Landkarte, ein Schwarzes Brett und eine Kerze mit Vanilleduft auf dem Klo, die nie angezündet wird.

Als ich an jenem Morgen ins Dienstzimmer kam, hatte mein Stellvertreter George Ellis den Kopf auf seinem Schreibtisch liegen, das Gesicht in den Armen versenkt; er blickte nicht auf, als ich eintrat. Ein Scanner war auf niedrigster Stufe eingeschaltet, und die Luft war zum Schneiden. Ich legte die Füße hoch und betrachtete zwei gefaxte Fahndungsfotos – dieselben traurigen Gestalten wie in der Vorwoche – und die Seite mit den noch offenen Haftbefehlen, von denen einige bis 1980 zurückdatierten.

Ich wimmelte Alexander Grace, den Inhaber von Grace Tractor Sales and Rental, am Telefon ab. Einer seiner Kompaktlader war vor mehreren Wochen vom Firmengelände gestohlen worden, und seitdem rief er mich täglich an, zunehmend wütend wegen meines Mangels an Ermittlungsfortschritten. Ich sagte ihm nicht, dass wir bei einem Diebstahl dieser Art eine Wiederbeschaffungschance von etwa zwanzig Prozent hatten. In der Vorwoche hatte er, ohne mich zu konsultieren, im örtlichen Gutscheinblättchen eine Annonce aufgegeben, worin er – »keine Nachfragen« – $2.500 Belohnung für Informationen bot, die zur Wiederbeschaffung des Kompaktladers führten. »Wollen wir doch mal sehen, was ich auf eigene Faust zuwege bringe«, sagte er. Ich ersuchte ihn, keinen Unsinn zu machen und mich anzurufen, falls sich Interessenten meldeten.

Wie des Öfteren kam John Kozlowski auf einen Besuch vorbei. Der Gemeindeschlosser war ein Zechgenosse von George, ein Bruder Leichtfuß mit einem Gesicht voller geplatzter Äderchen. Er lehnte es ab, Platz zu nehmen, führte seinen ölverschmierten Overall zur Begründung an und setzte uns über eine Vielfalt von Angelegenheiten ins Bild, auch über das Cottage, das er sich gerade am Walker Lake baute, und erzählte uns außerdem von den Jetskis, die er gerade für sich und seine Frau gekauft hatte. Weil der Walker Lake ein recht kleiner See ist, fragte ich, wo er denn mit einem solchen Gefährt hinzufahren plane, woraufhin er etwas Unfreundliches über meine Mutter sagte und wir in diesem Stil noch ein wenig weitermachten.

In jenen Frühzeiten des Booms äußerte man sich nur sehr zurückhaltend über »Gasgeld«. Die Menschen sagten nie geradeheraus, wie teuer sie sich ihre Unterschrift hatten bezahlen lassen, aber ihre Cottages und neuen Trucks sprachen für sich. Am Anfang verpachteten einige Grundbesitzer die Nutzungsrechte zu Niedrigpreisen von teilweise gerade einmal fünfundzwanzig Dollar pro Morgen Land. Als dann die Regierung von Pennsylvania verriet, wie viel Gas tatsächlich im Boden unter uns lagern könnte, war der gängige Preis eher bei viertausend Dollar pro Morgen. Die Menschen stürzten sich auf die unerwarteten Profite, doch fielen diese in unterschiedlichen Größenordnungen aus, wieder abhängig davon, wie frühzeitig sie bei dem Spiel gezeichnet hatten und wie viel Land sie besaßen. Nachbarn blieben sich zwar nachbarlich verbunden, hielten aber ein wachsames Auge auf ihre Grundstücksgrenzen.

Als John gegangen war, verbrachten wir die Zeit schweigend, bis das Telefon klingelte. George hob den Kopf und funkelte es zornig an, aber es klingelte weiter. Er verfluchte es und hob ab. Nach einigen kurzen Worten seinerseits legte er auf und wandte sich an mich. »Dr. Brennan von der Ambulanz unten. Sie holt schon den ganzen Morgen Schrotkörner aus Danny Stiobhards Seite und meint, wir sollten das wissen.«

»In Ordnung.« Ich sah George an, wie um zu fragen, worauf er wartete. Er kratzte sich die weiße Haut unter seinem Bart.

»Hör zu, Henry«, sagte er. »Danny und ich haben uns letzte Woche gestritten. In der Kneipe.«

»Aha.«

»Ich würde das ja gern übernehmen, aber …«, sagte er zerknirscht.

»… es wäre taktisch unklug, dich zu schicken«, sagte ich.

»Genau das wäre es.«

»Weißt du, was«, sagte ich und sah ihm in die blutunterlaufenen Augen, »solche Schlägereien bringen nichts, George.«

»Ich weiß.«

Ich machte ihm keinen Vorwurf, jedenfalls keinen ernsthaften. Zwischen ihm und Danny Stiobhard gab es eine lange Vorgeschichte, und dass er die Stelle als mein Deputy angenommen hatte, machte die Sache nicht einfacher. Aus Gründen, die ich noch erläutern werde, wollte ich selbst den Gang nur ungern machen. Ich setzte meinen Hut auf und zog meine Jacke an, nahm die .40er samt Holster und Gürtel aus dem Spind, stieg in meinen Truck und fuhr zur Stadt.

Geografie und Kultur trennen die Gemeinde Wild Thyme und die Stadt Fitzmorris, den Sitz des Verwaltungsbezirks von Holebrook County, Pennsylvania. Fitzmorris entstand Mitte des neunzehnten Jahrhunderts als Sommerkolonie schottischer Presbyterianer aus Philadelphia. Es weist einige hübsche Bauten im griechisch-klassizistischen Stil auf, große weiße Häuser mit Säulen, größer, als es ihnen eigentlich zustünde. Die meisten haben schwarze Tür- und Fenstereinfassungen, aber bei jedem zehnten Haus hatte ein lebenslustiger Eigentümer die Idee, die seinigen türkis oder blauviolett oder in allen Farben des Regenbogens zu streichen. Ich kann mir nicht helfen, mir gefällt das.

Die Gemeinde erstreckt sich über eine ländliche Region nördlich von Fitzmorris. Nach dem Bürgerkrieg vergab der Staat einige Parzellen harten, undurchlässigen Bodens in den umliegenden Bergen an die »Fenier«, Mitglieder eines irischen Geheimbundes, die aufseiten der Unionisten gekämpft hatten, und diese Fenier forderten wiederum weitere ihrer Freunde und Familien auf, in die Vereinigten Staaten überzusetzen; so landeten meine Vorfahren, die Fearghails, in der Gemeinde Wild Thyme und kämpften im 50. Pennsylvania Regiment. Wir blieben die Fearghails, bis mein Großvater in einer Aufwallung von Zweitem-Weltkrieg-Amerikanismus die Schreibung in »Farrell« änderte, und schon war’s geschehen.

Danny Stiobhards Abstammungslinie ähnelt der meinen. Unsere Väter pflegten zusammen auf die Jagd zu gehen. Amerikanisiert spricht sich sein Nachname »Steward« aus, falls jemand das wissen möchte. Wie auch immer man ihn ausspricht, sein Clan ist schon seit mehreren Generationen hier in der Gemeinde Wild Thyme. Zwar haben sich dessen Geschäftsfelder über die Jahre im Detail verändert, aber das Gebaren ist das gleiche geblieben: Die Stiobhards umgehen das Gesetz, sind gegen die Regierung und schlagen Profit aus dem, was das Land hergibt. Sie sind Holzdiebe, Wilderer und Einbrecher, strecken angeblich ihre Fühler in Richtung Drogenhandel aus und leben in dem Glauben, in einer immerwährenden »Whiskey-Rebellion« gegen den Staat zu kämpfen. Da bei uns nicht allzu viele ­hochrangige Bundesbeamte vorbeikommen, haben die Behörden mich – einen einfachen Kommunalbeamten, wohlgemerkt – für die Rolle des Regierungstyrannen besetzt.

Ich fuhr auf den Parkplatz der Ambulanz, parkte hinter Dannys blauem Tieflader und registrierte die mehrfach perforierte Fahrertür. Die Ambulanz ist heruntergekommen und klein und belegt das oberste Stockwerk eines Zweifamilienhauses, in dessen Erdgeschoss ein älteres Ehepaar wohnt. Wir sind alle schon einmal dort gewesen; Liz tut ihr Möglichstes.

Kein Mensch im Wartezimmer, außer Jo, der Sprechstundenhilfe. Ich legte einen Finger längs an meine Nase, als ich an ihr vorbeiging; sie nickte ernst und sagte kein Wort.

Am anderen Ende des Flures und durch eine offene Tür sah ich Danny Stiobhard – ohne Hemd, den linken Arm über die Schulter gehoben und mit ungefähr zwanzig Löchern, die seine Seite punktierten und bluteten. Liz hatte eine glänzende Klemme in eine Wunde direkt unterhalb des Brustkorbs eingeführt, und als sie diese he­rauszog, dehnte sich das umgebende Fleisch zu einer Hautblase. Die Schrotkugel kam mit einem kaum hörbaren Plopp zum Vorschein, oder vielleicht bildete ich mir ihn nur ein, aber der Blutstrom, der nachfolgte, war eindeutig. Ich erhaschte just in dem Moment einen Blick auf Dannys Gesicht, als ihm die Tränen aus den Augen quollen. Seine linke Gesichtshälfte glich der eines Film-Aliens, purpurrot, blau und geschwollen – Zeugnis der Auseinandersetzung mit meinem Deputy, vermutete ich. Ich wartete, bis er sich mit dem Handrücken das Gesicht abgewischt hatte, bevor ich eintrat.

»Morgen, Danny. Liz.« Der Raum roch nach Desinfektionsalkohol und feuchter Kleidung, die lange nicht gewaschen worden war.

Danny blickte mit seinem gesunden Auge zur Decke hinauf. »O gottverdammte Scheiße, Liz, du hast ihn angerufen. Entschuldigung, tut mir leid.«

»Still sitzen«, trug Liz ihm auf. Ihr grüner Kittel war voller Blutspritzer, und ihr kupferrotes Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz nach hinten gebunden. Sie betastete die nächste Wunde mit ihrem Finger.

»Du hast gesagt, du tust es nicht«, sagte Danny.

»Still sitzen.«

Ich sagte: »Was zum Teufel ist das hier, Danny?«

Seiner Frisur nach zu urteilen hatte er bis vor Kurzem einen Hut getragen. Sein Bart wies graue Haare auf. Das Brusthaar war verfilzt, und er hatte mehrere Tattoos. Der Gummibund seiner Unterhose war rot getränkt. »Ein Unfall«, sagte er.

»Ach so, in Ordnung«, sagte ich. »Dann ist meine Arbeit hier ja erledigt.«

Danny schnaubte und ließ den Arm sinken. »Liz, halt mal. Warte, bis er geht.«

»Sitz. Still.« Sie zupfte eine weitere Kugel heraus. Er saugte durch zusammengebissene Zähne zischend die Luft ein und atmete aus, als die Kugel draußen war. Sein Gesicht sah beeindruckend blass aus.

»Stiobhard, wie wär’s, wenn du mir sagst, wer der andere Beteiligte ist?«

Als Liz die Klemme erneut einführte, japste Stiobhard und begann zu hyperventilieren. Liz befahl ihm, den Kopf zwischen die Knie zu nehmen und seine Atmung zu verlangsamen. Er bekam sich wieder unter Kontrolle und erklärte: »Ich sag dir, mit wem du sprechen solltest. Du kennst Aub Dunigan draußen an der Fieldsparrow Road?«

Ich nickte. Aub lebte auf einem stillgelegten Milchbauernhof, von dem die meisten beim Vorbeigehen annehmen würden, er sei verlassen. Es gab zwar jüngere Dunigans in der Gegend, doch soviel ich wusste, war Aub allein auf der Welt. Ein Einsiedler.

»Wie gesagt, es war ein Unfall, eindeutig. Er wird dir das bestätigen, falls er sich noch an das erinnern kann, was vor einer halben Stunde war.«

»Hast du ihn provoziert?« Ich hatte den Verdacht, dass Danny ein Auge auf einen der schönen Kirschbäume geworfen hatte, die in Aubs Waldstücken zu stattlicher Größe herangewachsen waren.

»Warum sollte ich? Wodurch? Er ist alt. Sein Cousin Kevin hat mich angeheuert, ich soll seine Wege frei machen. Offenbar hat ihm das keiner gesagt. So, jetzt weißt du alles, was es zu wissen gibt, oder? Geh einfach mal hin und such den Alten auf. Richt ihm von mir aus: Kein Stress meinerseits.«

Liz schob mit dem Handgelenk ihre Brille zurecht. Ihre Augen leuchteten hellblau. »Komm mal mit in den Flur.« Nachdem sie die Tür zu ihrem improvisierten OP geschlossen hatte, sagte sie: »Henry, ich kann dir jetzt nicht noch mehr Zeit geben.«

»Kapiert.«

»Ich flick ihn zusammen, und dann kannst du mit ihm machen, was du willst.«

»In Ordnung. Heb die Schrotkugeln auf, okay?«

Sie nickte. »Hey, geht heute Abend was zusammen? Onkel Dave Macon kam heute früh unters Messer«, sagte sie. »Ich habe Coq au Vin gemacht.«

Onkel Dave Macon ist – war – ein schwieriger Gockel. Liz ist die Frau meines besten Freundes Ed. Dienstagabends treffen wir uns immer zum Dinner und spielen alte irische Volksweisen. Ich spiele die Fiddle. Um Tanzmusik zu machen, braucht es wirklich nicht mehr als eine Geige und ein Banjo. Liz kommt aus einer traditionsbewussten Familie, spielt sehr gut Clawhammerbanjo und zupft einen passablen Drei-Finger-Stil. Ed hat als Rock-and-Roll-Gitarrist angefangen, sich aber weitergebildet. Trotz seiner wiederkehrenden Aufforderungen, dass wir mal einen Heavy-Metal-Song in Bluegrassmanier arrangieren und uns beim Spielen ins Koma trinken sollten, ist er für Liz und mich eine ganz gute Ergänzung. Es ist schön, jemanden zum Mitspielen zu haben.

Liz hat mir das Leben gerettet, als ich vor ein paar Jahren zum ersten Mal wieder nach Wild Thyme kam, wovon ich später erzählen werde.

Ich sagte für den Abend zu, verließ die Ambulanz, rief dann mit dem Handy im Büro an und bat George, loszufahren, am Fuß von Aub Dunigans Zufahrtsweg zu parken und keinen durchzulassen. Ich beschloss, mich an Kevin Dunigan zu wenden, Aubs Cousin zweiten Grades und nächsten Verwandten, soweit ich wusste. Sollte man den alten Mann in ein Heim bringen müssen, wäre es am besten, wenn gleich zu Beginn jemand aus der Verwandtschaft dabei wäre.

Es war noch so früh am Morgen, dass ich Kevin vor Arbeitsbeginn erreichen konnte. Ich schaltete die Signalleuchten ein, nicht aber die Sirene, trat aufs Gas, überquerte vorsichtig eine Kreuzung bei Rot und preschte zum Stadtrand. Kevin lebte mit seiner Frau in einem Massivbau-Bungalow gleich östlich der Stadt und besaß eine Ölwechselstation in Fitzmorris. Das Haus steht in einiger Entfernung von der Straße auf freiem Feld, aber man kann es wegen des Flaggenmastes im Hof schon von Weitem ausmachen. Kevin hat das Sternenbanner gehisst und, direkt darunter, eine große blaue Flagge mit dem Logo der Ölwechselfirma. Dieser Flagge hat er es zu verdanken, dass er immer wieder potenzielle Kunden fortschicken muss, die sie dahingehend deuten, dass sein Haus die Werkstatt ist.

Als ich bei seiner Zufahrt anlangte, schaltete ich die Signalleuchten aus und fuhr den Weg entlang. Eines der Garagentore stand offen, und zumindest ein Auto war noch da. Kevin, grau und gedrungen und fast fünfzig, kam aus der Tür, die eine Verbindung zwischen Haus und Garage herstellte, und trat auf die Zufahrt. Er hatte einen Anflug von Besorgnis im Gesicht und eine Tasse in der Hand.

»Na so was, Henry.«

»Kevin, wie geht’s denn so?«

»Gut. Was – äh – was führt dich hierher?«

»Hast du heute Morgen was von Danny Stiobhard gehört?«

Kevins Augen weiteten sich. »Warum sollte ich?«

»Dein Cousin Aub hat ihm einen Streifschuss mit der Schrotflinte verpasst. Sagt Danny.«

»Wie bitte?«

Kevins Frau Carly kam mit gelber Baseballkappe und in Galoschen gestopften Schlabberjeans heraus und gesellte sich zu uns. Ich kannte sie nicht sehr gut; sie arbeitete in dem kleinen Buchladen in der Stadt und hatte diesem eine christliche Ausrichtung gegeben.

Kevin übermittelte ihr, was ich gerade ihm gesagt hatte. Sie sagte: »Ja, da schau her.«

»Macht euch keine Gedanken wegen Danny«, sagte ich. »Er überlebt’s. Nur damit ich alles korrekt wiedergebe: Du hast ihn angeheuert, dass er die Wege frei macht?«

»Das habe ich ganz sicher nicht«, sagte Kevin. »Was fällt dem ein?«

»Er sagte, du hättest es getan.«

»Was ist mit Aub? Können wir den besuchen? Was tun wir jetzt?«

»Also, seine Sicht der Dinge muss ich mir erst noch anhören. Es wäre gut, wenn du mit mir kämst und wir mal nach ihm sehen. Ich muss ihn vielleicht mitnehmen.«

Carly fuhr zusammen. »Vielleicht? Ihr habt ihn noch gar nicht?«

Kevin trat zwei Schritte zurück und sagte: »O nein. Nein, kommt nicht infrage.«

Ich hob die Hände. »Hey. Bitte.«

Kevin zeigte mit einem Finger auf mich. »Mach deinen Job allein.«

»Äh-äh«, sagte ich.

Er gab Carly seine Kaffeetasse und rieb sich mit beiden Händen das Gesicht. »Es tut mir leid, Henry. Seit meiner Kindheit ist er … es ist eben schwierig mit ihm in der Familie. Ich hol jetzt meinen Mantel, und du sorgst bitte dafür, dass er mich nicht erschießt.« Er ging ins Haus.

Carly sah mich an und zog eine Augenbraue hoch.

»Er wird schon nicht erschossen«, sagte ich.

Kevin folgte mir in seinem Wagen, einer silbernen Limousine. Wir fuhren auf der 37 die Hügel hinauf und hinunter, die Morgensonne stieg immer höher, und durch die Straßengräben rauschte das Schmelzwasser. Immer wieder einmal blitzte eine blaue Bierdose auf. Der Verwaltungsbezirk Holebrook County befindet sich am westlichen Rand einer Region, die Endless Mountains heißt. Dabei handelt es sich um einen poetischen Titel; die Leute wollen damit sagen, dass es eine hügelige Gegend ist. Wir gehören zur Gebirgskette der Appalachen, die, zusammen mit einem großen Binnenmeer im Westen, vor beinahe fünfhundert Millionen Jahren entstand. Die Lebewesen des Meeres starben und sanken zu Boden, die Berge erodierten, und im Verlauf von hundert Millionen Jahren lagerte sich dieses Gemisch aus Sedimentgestein und organischer Materie ab, verwandelte sich in Schiefer und bildete die Marcellus-Formation. Wegen der Anteile früheren Lebens darin enthält die Formation eine Menge Erdgas, schön eingepackt in Gesteinsschichten, wie ein Geschenk für Amerika.

Nach zehn, elf Kilometern bogen wir auf eine schmalere Straße ab und fuhren an Schotterpisten vorbei, die ihren Sand auf die Straße spien. Viele dieser Abzweigungen waren mit blau-weißen Bändern markiert, angebracht von den Gasexploratoren als Wegweiser zu den Orten, wo sie wahrscheinlich bohren würden. Und nicht nur an den Straßen waren sie zu finden: Wenn man wusste, wo man an den Waldrändern hingucken musste, sah man Bänder, die Ausgangspunkte für neue Pfade markierten. Mir ist ihr Anblick zuwider, aber da habe ich Pech, denn sie sind überall.

Die Fieldsparrow Road führte mich bergauf und nach Norden. Ich wartete, um mich zu vergewissern, dass ich Kevin nicht im Staub verloren hatte, bog dann ab und reduzierte die Geschwindigkeit des Trucks etwa um die Hälfte. Die Gemeinde hatte letztes Jahr neue Stoßdämpfer bezahlt und würde das so bald nicht wieder tun. Zwei, drei Kilometer rumpelten wir so dahin, vorbei an herrenlosen Wohnwagen und einer blauen Schaukel am Rand einer Lichtung, die von wildem Wein überwuchert war. Nach einem lang gezogenen Waldgebiet führte die Straße hinaus auf weite, graue Felder. Links standen zwei schiefe Schuppen, und am Ende einer langen, steilen Zufahrt befand sich ein Gehöft, das von einer Gruppe von Ahornbäumen halb verdeckt wurde. Ich parkte hinter dem Streifenwagen von Deputy Ellis, der im Inneren saß, Asche über die Fensterkante stippte und durch eine Scheune der Sicht vom Haus entzogen war.

Wir stiegen beide aus unseren Fahrzeugen und stellten uns auf die Straße, und George sagte: »Da drinnen rührt sich nichts. Soweit ich das sagen kann.« Er warf die Kippe in den Graben, wo sie vom Wasser fortgetragen wurde. »Wie geht’s Danny?«

»Er wird’s überleben.«

Kevin Dunigan stieß zu uns. George versuchte einigermaßen hektisch, ihn woandershin zu winken, weil er ihn nicht erkannte. Kevin streckte eine Hand aus dem Fenster und stellte sich damit vor. George wies ihn an, außerhalb der Sichtweite vom Haus zu parken, drehte sich dann zu mir um und schielte einäugig herüber, wie um zu fragen, was zum Teufel das jetzt sollte.

Die Scheune, hinter der wir uns versteckten, war so in einen Hang hineingebaut, dass eine Hälfte des Fundaments in der Erde verschwand. Ein Haufen blauer Schieferfeldsteine umgab sie, zusammen mit einem Satz verrosteter Trennscheiben, mehreren leeren Weinkrügen und sehr viel zerbrochenem Glas, alles von Dornengestrüpp und Tollkirschenbüschen überdeckt. Die Balkenkonstruktion selbst stand noch einigermaßen stabil da; die Bretter waren silbrig verwittert und am unteren Ende voller Löcher. Ich lugte um die Ecke zum Fuß der Schmutzrampe und war überrascht, eine neue Schräghecklimousine vorzufinden. Sie war blau, aufgebockt, und ihr fehlten die Räder.

»Okay«, sagte ich. »George, du wartest hier, während Kevin und ich hinaufgehen. Lass dein Walkie-Talkie eingeschaltet.« Ich hatte vor einiger Zeit für mich und George Satelliten-Walkie-Talkies gekauft; sie sind für eine Reichweite von zwei, drei Kilometern auf Gemeindegebiet gut, wo weder unsere Funksprechgeräte noch das des Countys zuverlässig funktionieren, besonders seit sie nach 9/11 alle Kommunikation auf Niederfrequenzbänder umgestellt hatten. Es hätte nur zwei weiterer Sendemasten auf den Gipfeln zwischen der Gemeinde und Fitzmorris bedurft, um den Funkkontakt unter uns verlässlich zu machen, doch das ist natürlich nicht geschehen. Wenn wir jemanden in der Stadt erreichen müssen, benutzen wir konventionelle Telefone, was unpraktisch ist, sobald man sich mitten in der Nacht einem verdächtigen Fahrzeug nähert oder sich in einer Wohnung mit einem Betrunkenen herumschlagen muss. Jedenfalls war ich froh über die Walkie-Talkies. Schon früher, in der Rotwildsaison, waren sie nützlich gewesen.

Kevin kletterte auf den Beifahrersitz meines Trucks, und wir fuhren los. Es war ein schöner Morgen, und oben auf den Hügeln lag noch mehr Schnee als in den Tälern, aus denen ich kam; meine selbsttönenden Brillengläser verfärbten sich von gelb zu braun. Der Zufahrtsweg führte an einem alten Scheunenfundament vorbei zu einem Maisspeicher; mir haben diese Maisspeicher wegen ihrer nach außen geneigten Wände schon immer gefallen; diese Wände sollten die Ratten draußen halten. Auf der einen Seite befanden sich eine Reihe von Bäumen, zwischen die Stacheldraht gespannt war, und weitere Weinkrüge, die in den Überresten einer Mauer lagen. Aus dem Maisspeicher tauchte Aub auf, die Schrotflinte in der Hand, und schaute angestrengt zu uns herunter. Wir waren noch etwa fünfzig Meter entfernt. Ich hielt an, zog die Handbremse und trat ein Stück weit vom Truck weg, weil ich ihn keinem Beschuss aussetzen wollte, denn er würde erst im nächsten Quartal repariert werden können. Kevin blieb im Fahrzeug. Aub stand stocksteif da, hatte die Flinte nicht erhoben. Ich machte einen geräuschvollen Schritt vorwärts.

»Aub, ich bin’s, Henry Farrell. Officer Farrell. Können Sie das Ding mal weglegen? Wir wollen nur Hallo sagen.«

»Ich bin’s, dein Cousin Kevin, Aub«, rief Kevin zum Fenster hi­naus.

»Dann kommt herauf.« Der alte Mann trug ein kariertes Flanellhemd und über seinen gekrümmten Schultern Hosenträger mit Krokodilklemmen. Die Hose schlackerte um seinen Leib, die Beine waren in schwarze Galoschen gestopft. Seine blassrosa Kopfhaut schimmerte durch gelb gewordene Haarsträhnen. Beiderseits einer irischen Nase waren die Augen dunkel und tief eingesunken. Beim Näherkommen bat ich ihn erneut, die Flinte wegzulegen; er öffnete den Verschluss, holte mit tatterigen Fingern eine Patrone heraus und ließ das Gewehr offen in der Armbeuge liegen. Die Waffe musste mindestens fünfundsiebzig Jahre alt sein. Ich war überrascht, dass er sie überhaupt dazu hatte bringen können, auf Danny Stiobhard zu feuern.

»Mein Freund«, sagte ich, »Sie müssen uns ein paar Sachen erklären.«

Die Stimme des alten Mannes zitterte, und er hatte Probleme mit den Konsonanten; man musste sich konzentrieren, um die Wörter zu verstehen, die nur unvollständig und zornig aus ihm herauspurzelten. Was ich mir zusammenreimte, war Folgendes:

»Er hat mein Land betreten und Bäume gefällt. Sie haben meine Räder gestohlen. Hab ihn wieder heraufkommen sehen und ihm eine verpasst. Aber mit diesem Jungen hab ich nichts zu tun.« Er schloss die Augen und wandte den Kopf zur Seite.

»Mit was für einem Jungen denn?«

»Der, wegen dem ihr gekommen seid, um ihn mitzunehmen.«

Ich drehte mich zu Kevin um, der die Verblüffung in Person war.

Ich stellte die Sache klar. »Wir sind wegen Danny Stiobhard hier.«

»Der Bursche wurde in meinem Wald umgebracht. Ihr müsst hi­naufgehen und ihn mitnehmen.«

Kevin schlug die Hände vors Gesicht und sagte: »O mein Gott. O mein Gott.«

»Aub, sind Sie sicher?«

»Hab ihn gestern gefunden. Der Berg hat ihn freigegeben, und ich hab ihn gefunden.«

Alle drei verharrten wir lange Zeit schweigend, bevor ich entschied, was zu tun war. Ich bin Streifenpolizist, mehr oder weniger, kein Kommissar. Aber man hat mich nicht ausgebildet, dass ich in einer Situation wie dieser sagte: Das ist der Schlamassel von jemand anderem, den wird also auch jemand anderer bereinigen. Man hat mich ausgebildet, dass ich mich kümmerte.

»Können Sie’s mir zeigen?«

Aub nickte, machte kehrt und ging in Richtung Waldrand davon. Sein Farmhaus war mit grünen Bitumenschindeln verkleidet, und beim Vorbeigehen bemerkte ich, dass der Boden zwischen dem Haus und dem uralten Freiluftabort morastig und tief ausgetreten war. Der alte Mann führte uns an der Westseite des Hauses entlang auf ein schneebedecktes Feld. Ein Paar Fußabdrücke bildeten gerade Linien vom Rand des Feldes zum bewaldeten Hügelkamm und wieder zurück, und beide Abdrücke sahen nach seinen aus beziehungsweise hatten etwa die Größe seiner Schuhe, ich bin da kein Experte. Ein paar Schneemobilspuren führten von der Straße unterhalb des Feldes hinauf zum Beginn des Pfads, liefen zusammen zu einer einzigen Spur und führten in den Wald. Aub schob einige kahle Äste zur Seite, womit er den Blick auf eine Forststraße ermöglichte, die man in den Hang gegraben hatte.

Und so stiegen wir hinan; Kevin rutschte einmal aus und landete hart auf dem Knie, bis er lernte, mit nach außen gestellten Füßen zu gehen. Der Wald war schön und voller Unrat. Das Paradestück war ein vollkommen verrosteter International Pick-up am Rand einer Lichtung, komplett entglast und mit einer senffarbenen Polsterung, die durch die aufgeplatzte Sitzbank spitzte.

In unserer Gegend haben wir Sekundärwald, das heißt, die Wildnis holt sich zurück, was früher Landwirtschaftsfläche war; von damals stammen auch die Halbholzriegelzäune und die rostigen Stacheldrahtstücke, die nun in Baumstämmen verschwinden, welche um sie herum gewachsen sind. Auf Aubs Land gab es noch blaue Schiefermauern, meistens gut einen halben Meter breit und einen ganzen hoch, teilweise kilometerlang, die sich die Hänge bis zum Kamm hinauf- und wieder in die Täler hinunterzogen und tief in den Wald reichten. Man musste über die Farmer staunen, die sich noch vor wenigen Generationen dafür krumm und buckelig gearbeitet hatten, und man fragte sich, was sie sich gedacht haben mochten: ob sie hektisch das Gestein brachen und die Trümmer hier aufschichteten; ob sie sich sicher waren, dass ihre Kinder das Land immer bewirtschaften und dankbar für diese Mauern sein würden.

So wie die Mauern in den Waldgebieten überleben, tun das auch die Wege – nicht nur die Hauptforststraßen, wie die, auf der wir uns befanden, sondern auch die schmalen Pfade durchs Unterholz. Heutzutage nennt man sie Wildwechsel, aber ich frage mich durchaus, ob sie nicht zuerst vom Nutzvieh ausgetreten wurden und das Rotwild sie später einfach praktisch fand. Irgendwo habe ich gelesen, dass Rinder und Schafe dazu neigen, sich genau an ihre Wege zu halten und diese so über die Jahrhunderte in den Boden zu stampfen. Wir stiegen durch eine Lücke in der Mauer und nahmen eine Abkürzung auf einem dieser Pfade, verließen die Fahrspur der Schneemobile und folgten Aubs Fußabdrücken hinauf zum Kamm. Es wurde ein längerer Marsch, als ich erwartet hatte, aber schließlich gelangten wir hoch oben zu einer Stelle, an der das Unterholz lichter und die Bäume höher und gerader wuchsen und mehr Sonne durchließen.

Wir fanden ihn zur Hälfte unter einen autogroßen Schieferbrocken geschoben. Ein blasses, dunkles Etwas auf der Erde, das für das geschulte Auge unverkennbar nicht an diesen Ort gehörte, auch nicht in einen Wald wie diesen, der voller kaputter und weggeworfener Dinge war. Ich befahl Kevin zu bleiben, wo er war; er ging in die Hocke und barg den Kopf in den Händen, während der alte Mann und ich weiter vordrangen. Drei Meter von der Leiche entfernt scheuchten wir mehrere Truthahngeier von einer Esche auf. Sie hielten es nicht für nötig, allzu weit wegzufliegen.

Es war offenkundig, dies war kein Junge, sondern ein junger Mann, ohne Hemd, das Gesicht von mir ab- und der Erde zugewandt, den rechten Arm unter dem Körper. Die Haut auf seinem Rücken war lavendelfarben gescheckt und sah dünn wie Zeitungspapier aus, als würden Schulterblätter und Wirbelsäule sie durchstoßen, wenn man ihn nur anstupste. Er war teilweise aus einem Hohlraum herausgerutscht, wie Tiere ihn sich als Lager unter Felsbrocken graben, und der Schnee, der ihn dort drinnen festgehalten hatte, musste geschmolzen sein und ihn freigegeben haben. Er trug Jeans, und seine Füße waren noch eingegraben. Zuerst sah es so aus, als wäre sein linker Arm unter dem Felsen versteckt, aber bei näherer Besichtigung erkannte ich, dass es gar keinen Arm zu verstecken gab. Dieser, die Schulter und ein großer Teil der linken oberen Seite seines Torsos fehlten, als wäre der Arm abgerissen worden. Wir schwiegen und verhielten uns so lange still, dass die Schwarzkopfmeisen wieder mit ihrem Gesang begannen.

Ich habe schon Tote gesehen – ausgedörrte Leichen, auf denen die Fliegen herumkrabbelten, auf staubigen Straßen; eine alte Frau, in ihrem Sessel verwelkt, seit Wochen tot. Zu sagen, dass sie alle dorthin zu gehören schienen, wo sie waren, spricht vielleicht nicht gerade für mich oder für die Orte, an denen ich gewesen bin. Der hier gehörte jedenfalls nicht dahin, wo er lag.

Ich trat behutsam auf und hielt Ausschau nach Hinweisen dafür, was diesen Burschen an diesen Ort gebracht haben konnte. Die einzigen Spuren, die ich sah, befanden sich auf dem Weg, den wir hierher genommen hatten. Mit einem Blick zurück auf Aub Dunigan kam ich wieder zu mir, legte die Hand auf meine Waffe und forderte ihn auf, seine Flinte abzulegen. Er verriegelte den Verschluss und lehnte sie mit dem Schaft nach unten an einen Baum. Nun wusste er nicht, was er mit seinen zitternden Händen tun sollte. »Mit dem hier hab ich nichts zu tun«, sagte er.

Ich erreichte George über das Walkie-Talkie. Er kam wegen der großen Entfernung ziemlich schwach durch, aber ich trug ihm auf, sich einen Platz zu suchen, an dem er über Funk oder Telefon Kontakt zum County herstellen konnte.

»Und warum zum Teufel?«, fragte George.

»Haben hier oben eine Leiche gefunden.«

»Was?«

Ich gab ihm den Code durch und sagte: »Funk den Sheriff an. Wir kommen so bald wie möglich vom Berg runter.«

Kevin hatte sich zu uns gesellt und starrte die Leiche an. Aub wandte sich ab und ging zu einem Felsbrocken in der Nähe. Ich hieß ihn zu bleiben, wo er war. Er blickte zu mir zurück und gestikulierte in die Richtung, in die er gehen wollte, als wäre das eine Erklärung. Ich sagte: »Um Gottes willen, Kevin, sorg dafür, dass er bleibt, wo er ist.«

»Aub«, sagte Kevin.

Der alte Mann ergriff einen auf dem Boden liegenden Ast und zerrte daran. Mit dem Ast kamen ein Stück Stoff und ein weiterer Ast von gleicher Größe zum Vorschein. Aub hatte eine Tragbahre gebaut, indem er eine Decke zwischen zwei Ästen befestigt hatte; die Decke musste er bei einem früheren Gang hier herauf gebracht haben. Er zeigte mir, dass das Ganze dadurch funktionierte, dass er die Decke straff zog, und sagte: »Tut ihn da drauf.«

Aus irgendeinem Grund machte mich das traurig. »Nein, legen Sie das wieder hin. Legen Sie das einfach wieder hin. Wir nehmen ihn später mit.« Ich schulterte Aubs Flinte, und wir gingen ohne zu sprechen hinunter zum Haus. Das dauerte eine Weile.

Die Sache war zu groß für mich und George. Dass ich die Leiche gesehen und meine eigenen Spuren überall in ihrer Umgebung hinterlassen hatte, verschaffte mir ein ungerechtfertigtes Gefühl von ­Verstrickung, ja von Komplizenschaft. Als wir die letzte Biegung auf dem Weg nach unten nahmen und nur noch durch ein paar Bäume von Aubs Haus abgeschirmt waren, das nun von zwei Wagen des County Sheriffs, von Georges Streifenwagen und einem Rettungs­wagen flankiert wurde, fühlte sich das an, als würden wir drei herauskommen, um uns zu ergeben. Als dächte er das Gleiche, unterbrach Aub unser langes Schweigen: »Mit dem da hab ich nichts zu tun.«

Wir traten hinaus – ich und Kevin und ein gebeugter alter Mann, der seine Hände rang. Wir traten aus dem Wald und ins Licht, das so weiß war, dass man Farben darin sah.