© Loewe Verlag GmbH, Bindlach 1996, 2017

© 1921 by McClelland & Stewart, Stokes and Hodder & Stoughton.

© 1989 by Ruth Macdonald and John Gordon McClelland

Titel der Originalausgabe: Rilla of Ingleside

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Dagmar Weischer

Coverillustration: Ulrike Heyne

eBook-Konvertierung: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt

E-Pub 2.0 ISBN 978-3-7320-0903-9

Printausgabe Hardcover ISBN 3-7855-2918-X

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Zum Gedenken an

Frederica Campbell MacFarlane,

die von mir ging, als der Tag anbrach,

am 25. Januar 1919,

eine treue Freundin,

eine außergewöhnliche Persönlichkeit,

eine treue und tapfere Seele.

„Wer in jungen Jahren so Großartiges vollbracht hat, wird für uns immer jung bleiben.“

Sheard

Inhalt

Cover

Titel

Wochen der Ungewißheit

Eine Kriegshochzeit

Gertrudes Traum

Aufruhr in der Kirche

Liebesaffären

Mondays Vorahnung

Nun denn, gute Nacht

Rettung in letzter Minute

Shirley nimmt Abschied

Der Heiratsantrag.

Warten

Schwarzer Sonntag

Verwundet und vermißt

Gezeitenwechsel

Mrs. Matilda Pitman

Nachricht von Jem

Sieg!

Susans Flitterwochen

Rilla-meine-Rilla

Weitere Titel von Lucy Maud Montgomery

Weitere Infos

Impressum

Wochen der Ungewißheit

Rilla las ihren ersten Liebesbrief im Regenbogental, in ihrem geheimen Schlupfwinkel unter den Tannen. Nichts ist für ein junges Mädchen so aufregend wie der erste Liebesbrief, auch wenn er für ältere Leute noch so kitschig klingen mag. Nachdem Kenneths Regiment Kingsport verlassen hatte, folgten zwei Wochen zermürbender Ungewißheit und Sorge, und wenn die Gläubigen Sonntag abends in der Kirche sangen „Herr, erhöre unser Fleh’n, hilf den Notleidenden auf See“, dann versagte Rillas Stimme, weil sich ihr bei diesen Worten das schreckliche Bild von einem versinkenden Schiff aufdrängte, das erbarmungslos unter den Schreien und dem Todeskampf der Männer von den Wellen verschlungen wurde.

Dann kam die Nachricht, daß Kenneths Regiment unversehrt in England angekommen sei. Und jetzt, endlich, hielt Rilla seinen Brief in der Hand. Der Anfang des Briefes machte Rilla überaus glücklich, und der letzte Abschnitt klang so wunderbar und zauberhaft, daß sie vor Freude ganz rot wurde. Der Mittelteil betraf die letzten Neuigkeiten und war so sachlich und unbeschwert geschrieben, daß er genausogut jeder anderen Person hätte gelten können. Doch der Anfang und das Ende des Briefes waren für Rilla Grund genug, ihn unter ihr Kopfkissen zu legen und wochenlang darauf zu schlafen. Und wenn sie nachts aufwachte, dann glitten ihre Finger unter das Kissen und tasteten danach. Die anderen Mädchen konnten ihr richtig leid tun. Die Briefe, die sie von ihren Verehrern bekamen, waren bestimmt nicht halb so wunderbar und aufregend. Kenneth war nicht umsonst der Sohn eines berühmten Schriftstellers. In seinem eigenen Stil vermochte er die Dinge in wenigen scharfen und treffenden Worten auszudrücken, in Worten, die weit über ihre Bedeutung hinauszugehen schienen. Was er schrieb, konnte man immer und immer wieder lesen, es wirkte nie abgedroschen, langweilig oder dumm. Als Rilla sich auf den Heimweg machte, hatte sie das Gefühl zu fliegen.

Aber solche erhebenden Augenblicke waren in diesem Herbst die Ausnahme. Das heißt, es gab einen Tag im September, als nämlich die großartige Nachricht kam, daß die Alliierten im Westen einen entscheidenden Sieg errungen hatten. Susan lief gleich hinaus, um die Fahne zu hissen, das erstemal seit dem Durchbruch der russischen Front und das letztemal für viele trostlose Monate.

„Das ist bestimmt der Anfang des Großangriffs, liebe Frau Doktor!“ rief Susan ganz aufgeregt. „Bald werden die Hunnen am Ende sein. Und das bedeutet, daß unsere Jungen bis Weihnachten wieder zu Hause sind, hurra!“

Im selben Augenblick, als sie hurra schrie, schämte sich Susan und entschuldigte sich kleinlaut für ihren kindischen Gefühlsausbruch. „Ach wissen Sie, liebe Frau Doktor, diese gute Nachricht ist mir ganz einfach zu Kopf gestiegen nach diesem schrecklichen Sommer mit der Niederlage der Russen und dem Rückschlag von Gallipoli.“

„Gute Nachricht!“ empörte sich Miss Oliver. „Ob wohl die Frauen, deren Männer dafür sterben mußten, das auch eine gute Nachricht nennen? Bloß, weil unsere eigenen Männer nicht an dieser Stelle der Front stehen, freuen wir uns und tun so, als ob der Sieg kein Menschenleben gekostet hätte.“

„Liebe Miss Oliver, so dürfen Sie das aber nicht sehen“, sagte Susan tadelnd. „Erstens haben wir in letzter Zeit doch wirklich kaum Anlaß zur Freude gehabt, und zweitens können wir nichts mehr daran ändern, daß Männer dabei umgekommen sind. Sie dürfen den Kopf nicht so hängenlassen. Cousine Sophia ist genauso. Als sie von der Nachricht hörte, da sagte sie: ‚Das ist doch bloß wieder so ein Wolkenloch. Diese Woche schöpfen wir Mut, und nächste Woche lassen wir ihn wieder sinken.‘ – ‚Hör mal, liebe Sophia Crawford‘, habe ich da gesagt – von ihr lasse ich mir nämlich nichts gefallen, liebe Frau Doktor –, selbst der liebe Gott kann nicht zwei Hügel erschaffen ohne eine Mulde dazwischen, sagt man, also warum sollten wir nicht das Gute sehen, wenn wir schon mal oben sind?‘ Aber Cousine Sophia schimpfte weiter. ‚Die Gallipoli-Expedition war ein Reinfall, der Großherzog Nicholas ist abgesetzt, und jeder weiß, daß der Zar von Rußland auf der Seite der Deutschen steht und die Alliierten keine Munition haben und Bulgarien nichts von uns wissen will. Und das Ende ist noch nicht in Sicht, denn England und Frankreich müssen für ihre Todsünden bestraft werden, bis sie in Sack und Asche büßen.‘ – ‚Ich denke‘, sagte ich, ‚daß die in Uniform und im Schlamm der Schützengräben Buße tun werden und daß die Hunnen auch ein paar Sünden zu bereuen haben.‘ – ‚Die sind doch für den Allmächtigen bloß Instrumente, mit denen er die Kornkammer reinigt‘, sagte Sophia. Das hat mich wütend gemacht, liebe Frau Doktor, und ich habe zu ihr gesagt, ich glaube nie im Leben, daß der Allmächtige solche schmutzigen Instrumente in die Hand nimmt, egal für welchen Zweck, und ich fände es nicht anständig von ihr, mit den Worten der Heiligen Schrift genauso schludrig umzugehen wie mit ihrer Umgangssprache. Sie wäre doch schließlich kein Pfarrer oder so was, habe ich zu ihr gesagt. Der habe ich es vorläufig gezeigt. Bei Cousine Sophia ist wirklich Hopfen und Malz verloren. Ihre Nichte, Mrs. Dean Crawford aus Overharbour, ist da ganz anders. Sie wissen ja, daß die Dean Crawfords schon fünf Buben haben, und das Baby, das jetzt gekommen ist, ist glatt wieder ein Junge. Die ganze Verwandtschaft und Dean Crawford sowieso waren zutiefst enttäuscht, weil sie sich alle ein Mädchen in den Kopf gesetzt hatten. Aber Mrs. Dean lachte nur und sagte: ‚Egal, wo ich diesen Sommer hingegangen bin, ständig bin ich auf einen Aushang gestoßen mit den Worten Männer gesucht. Glaubt ihr wirklich, ich könnte unter solchen Umständen ein Mädchen auf die Welt bringen?‘ Das nenne ich aber Humor, liebe Frau Doktor. Aber Cousine Sophia würde dazu sagen, das Kind wäre bloß wieder neues Kanonenfutter.“

Cousine Sophia konnte in diesem trüben Herbst ihrem Pessimismus so richtig freien Lauf lassen, und selbst Susan als unverbesserlicher Optimistin fiel es schwer, die Dinge auf die leichte Schulter zu nehmen. Als Bulgarien sich mit Deutschland zusammenschloß, bemerkte Susan bloß verächtlich: „Noch ein Land, das unbedingt Prügel einstecken will.“ Aber daß die Griechen sich auf einen Kampf einließen, das war mehr, als sie mit ihrer Philosophie verkraften konnte.

„Konstantin von Griechenland hat eine deutsche Frau, liebe Frau Doktor, und diese Tatsache macht jede Hoffnung zunichte. Wer hätte je gedacht, daß ich mir mal Gedanken darum mache, was für eine Frau Konstantin von Griechenland hat! Der arme Kerl steht doch unter ihrer Fuchtel, und das ist schlecht für einen Mann. Ich bin eine alte Jungfer, und eine alte Jungfer muß unabhängig sein, wenn sie nicht will, daß man sie fertigmacht. Wenn ich aber geheiratet hätte, liebe Frau Doktor, dann wäre aus mir eine demütige und bescheidene Frau geworden. In meinen Augen ist diese Sophia von Griechenland ein Drachen.“

Susan war wütend, als die Nachricht kam, daß Venizelos eine Niederlage hatte einstecken müssen.

„Ich könnte diesen Konstantin versohlen und ihm anschließend das Fell über die Ohren ziehen, jawohl!“ wetterte sie.

„Susan, ich muß mich doch sehr über dich wundern“, sagte Gilbert und schnitt eine Grimasse. „Was sind denn das für Sitten? Ihm das Fell über die Ohren zu ziehen ist ja in Ordnung, aber doch nicht versohlen!“

„Wenn er früher öfter mal eine Tracht Prügel bekommen hätte, dann wäre er jetzt vernünftiger“, verteidigte sich Susan. „Aber Prinzen werden wahrscheinlich nie versohlt, zu dumm aber auch. Wie ich hier lese, haben die Alliierten ihm ein Ultimatum gestellt. Na, da gehört aber mehr dazu als ein Ultimatum, wenn die einer Schlange wie Konstantin beikommen wollen. Vielleicht kommt er ja durch die Blockade der Alliierten zur Vernunft. Aber das wird wohl eine Weile dauern bis dahin, und was soll inzwischen aus dem armen Serbien werden?“

Sie sahen nur allzu deutlich, was aus Serbien wurde, und in dieser Zeit war Susan unausstehlich. Sie ließ ihre Wut an allem und jedem aus, mit Ausnahme von Kitchener, und schimpfte wie ein Rohrspatz über den armen Präsidenten Wilson.

„Wenn der seine Pflicht getan und bei dem Krieg schon viel früher mitgemacht hätte, dann hätten wir jetzt nicht diesen Schlamassel in Serbien“, erklärte sie.

„Das wäre eine viel zu ernste Sache, ein so großes Land wie die Vereinigten Staaten mit einer so gemischten Bevölkerung in den Krieg zu treiben, Susan“, sagte Gilbert, der hin und wieder den Präsidenten in Schutz nahm, aber nicht etwa, weil er fand, Wilson hätte das verdient, sondern weil er Susan ganz einfach gern neckte.

„Kann sein, lieber Doktor, kann sein! Aber das erinnert mich an diese alte Geschichte von dem Mädchen, das seiner Großmutter erzählt, daß es heiraten will. ‚Aber verheiratet zu sein ist eine ernste Sache‘, sagte die alte Dame. – ‚Ja, aber es ist noch ernster, nicht verheiratet zu sein‘, sagte das Mädchen. Das kann ich bezeugen, aus eigener Erfahrung, lieber Doktor. Und deswegen denke ich, es ist für die Yankees schlimmer, daß sie sich aus dem Krieg herausgehalten haben, als wenn sie mitgemacht hätten. Wie auch immer, ich weiß zwar nicht viel über sie, aber ich glaube, daß die schon noch was in Bewegung setzen, Woodrow Wilson hin und Woodrow Wilson her. Die werden schon noch merken, daß dieser Krieg nichts mit Fernunterricht zu tun hat. Dann“, rief Susan und fuchtelte dabei energisch mit der Pfanne in der einen und der Schöpfkelle in der anderen Hand herum, ‚dann werden die nicht mehr zu stolz sein zum Kämpfen.“

Es war ein fahler, stürmischer Oktobertag, als Carl Meredith fortging. Er hatte sich an seinem achtzehnten Geburtstag in die Liste der Freiwilligen eingetragen. John Meredith verabschiedete sich von ihm mit gefaßtem Blick. Jetzt waren seine beiden Jungen fort – nur der kleine Bruce blieb ihm noch. Er liebte Bruce und Bruces Mutter von ganzem Herzen; aber Jerry und Carl waren die Söhne seiner Braut aus jungen Jahren, und Carl war das einzige von seinen Kindern, das genau dieselben Augen hatte wie Cecilia. Wie Carl so dastand in seiner Uniform und ihn so liebevoll aus diesen Augen anschaute, da mußte der Pfarrer plötzlich daran denken, wie er Carl einmal beinahe verhauen hätte wegen seines Streichs mit dem Aal. Damals war ihm zum erstenmal aufgefallen, wie ähnlich Carl seiner Mutter war. Jetzt bemerkte er es wieder. Würde er die Augen seiner verstorbenen Frau, die ihn aus dem Gesicht seines Sohnes anschauten, jemals wiedersehen? Was für ein hübscher, stattlicher junger Mann er war! Es war schwer, ihn gehen zu lassen. In seiner Vorstellung sah John Meredith ein aufgewühltes Feld, übersät mit den Leichen der „wehrfähigen Männer zwischen achtzehn und fünfundvierzig“. Dabei war es noch gar nicht lange her, daß Carl ein kleiner Junge gewesen war, der im Regenbogental Käfer fing, Eidechsen mit ins Bett nahm und ganz Glen in Aufruhr versetzte, weil er Frösche in die Sonntagsschule mitbrachte. Irgendwie war es nicht richtig, daß er jetzt plötzlich ein wehrfähiger Mann in Uniform sein sollte. Und doch hatte John Meredith mit keinem Wort versucht, ihn umzustimmen, als Carl ihm sagte, daß er gehen müsse.

Rilla litt sehr darunter, daß Carl ging. Sie waren immer so gute Freunde und Spielkameraden gewesen. Er war nur wenig älter als sie, und sie hatten als Kinder im Regenbogental miteinander gespielt. Sie mußte an all ihre gemeinsam ausgeheckten Streiche und Dummheiten denken, während sie langsam nach Hause ging. Zwischen den vorüberjagenden Wolken blitzte unheimlich der Vollmond auf, die Telefondrähte summten im Wind, und die großen Ähren der verwelkten Goldrute in den Zaunwinkeln verbeugten sich stürmisch vor ihr wie alte Hexen, die ihr Verwünschungen zuriefen. An solchen Abenden kam Carl früher nach Ingleside herüber und pfiff draußen am Tor nach ihr.

„Komm, wir machen einen Mondbummel, Rilla“, sagte er dann, und schon zogen sie zusammen los zum Regenbogental. Rilla hatte sich nie vor seinen Käfern und Wanzen gefürchtet; von Schlangen allerdings wollte sie nichts wissen. Sie konnten über fast alles miteinander reden und wurden in der Schule deshalb schon geneckt.

Eines Abends – sie waren ungefähr zehn Jahre alt – trafen sie sich bei der Quelle im Regenbogental und gelobten einander feierlich, daß sie einander niemals heiraten würden. An jenem Tag hatte nämlich Alice Clow in der Schule ihre Namen auf ihrer Tafel „ausgekreuzt“, und dabei kam heraus, daß sie „einander heiraten“ würden. Die Vorstellung gefiel ihnen überhaupt nicht, und so kam es zu dem Eid im Regenbogental. Besser, man sorgte rechtzeitig vor. Rilla mußte lachen, als ihr das wieder einfiel, dann seufzte sie. Gerade heute stand in einem Extrablatt aus London die erfreuliche Mitteilung, daß dies „der finsterste Tag seit dem Ausbruch des Krieges“ sei. Finsterer hätte er wirklich kaum sein können.

Wenn Rilla wenigstens etwas anderes hätte tun können als warten und sich zu Hause nützlich machen! Es verging kein Tag, an dem nicht irgendein Junge aus Glen fortging. Wenn sie doch ein Junge sein könnte, dann würde sie in Uniform an Carls Seite an die Westfront eilen! Schon als Jem ging, hatte sie sich das im Überschwang der Gefühle gewünscht, aber ohne es wirklich zu wollen. Jetzt wollte sie es. Manchmal war es einfach unerträglich, bequem und sicher zu Hause zu sitzen und abzuwarten.

Der Mond trat triumphierend hinter einer besonders dunklen Wolke hervor, und Silberglanz und Schatten jagten einander wie Wellen am Himmel über Glen. Rilla mußte daran denken, wie sie einmal als Kind an einem Mondscheinabend zu ihrer Mutter gesagt hatte: „Der Mond sieht aus wie ein ganz, ganz trauriges Gesicht.“ Genauso sah er jetzt aus – ein gequältes, gramerfülltes Gesicht, das auf lauter schreckliche Dinge herabsah. Was er wohl an der Westfront sah? Im zerstörten Serbien? Im Kugelhagel von Gallipoli?

„Ich habe es satt“, hatte Miss Oliver am selben Tag voller Ungeduld gesagt. „Es ist so entsetzlich nervenaufreibend, wenn täglich neue Schreckensmeldungen kommen oder wir damit rechnen müssen. Nein, sehen Sie mich nicht so vorwurfsvoll an, Mrs. Blythe. Ich habe heute gar nichts Heldenhaftes an mir. Ich habe einfach keinen Mut mehr. Ich wünschte, England hätte Belgien seinem Schicksal überlassen – ich wünschte, Kanada hätte nie einen Mann losgeschickt – ich wünschte, wir hätten unsere Jungen an unseren Schürzenbändern festgebunden und keinen einzigen fortgelassen. Oh, bestimmt schäme ich mich in einer halben Stunde dafür, aber jetzt meine ich jedes Wort ernst. Werden denn die Alliierten niemals zuschlagen?“

„Geduld ist wie ein müder Gaul, aber er trottet immer noch weiter“, sagte Susan.

„Während die Schlachtrösser des Armageddon herbeitosen und über unsere Herzen hinwegtrampeln“ ‚erwiderte Miss Oliver. „Serbien wird erstickt, und die Alliierten an der Westfront scheinen zu nichts anderem fähig zu sein, als jeden Tag ein paar Meter Stoff für diese elenden Grabenmäntel zu kaufen. Susan, sag mir, hast du nie das Gefühl, schreien zu müssen oder zu fluchen oder etwas zu zertrümmern, einfach weil du diese Tortur nicht mehr ertragen kannst?“

„Geflucht habe ich noch nie, liebe Miss Oliver, aber ich gebe zu“, sagte Susan und holte tief Luft vor ihrem Geständnis, „daß es vorgekommen ist, daß ich zu meiner Erleichterung die Tür zugeknallt habe.“

„Aber meinst du nicht, daß das genauso ist wie fluchen, Susan? Was ist denn der Unterschied, ob ich nun eine Tür mit aller Gewalt zuschlage oder ob ich sage ‚verda‘ …,“

„Liebe Miss Oliver“, fiel Susan ihr ins Wort, ehe diese womöglich völlig aus der Fassung geriet, „Sie sind einfach übermüdet und abgespannt. Kein Wunder, wenn man tagtäglich so eine wilde Horde Kinder unterrichten muß und dann zu Hause die schlimmen Kriegsnachrichten erfährt. So, und jetzt gehen Sie nach oben und ruhen sich aus, und ich bringe Ihnen eine Tasse heißen Tee und eine Scheibe Toast, und dann werden Ihnen das Türenknallen und das Fluchen ganz schnell vergehen.“

„Susan, du bist wirklich eine gute Seele – eine richtige Perle! Trotzdem, Susan, es wäre so eine Erleichterung für mich, wenn ich nur ein einziges Mal ganz leise sagen könnte ‚verda…‘“

„Und eine heiße Wärmflasche für die Füße kriegen Sie auch noch“, fuhr Susan entschlossen dazwischen, „und außerdem wäre es mit Sicherheit keine Erleichterung für Sie, wenn Sie das Wort, das Ihnen auf der Zunge liegt, aussprechen, Miss Oliver, darauf können Sie sich verlassen.“

„Na gut, dann werde ich es eben erst mal mit der heißen Wärmflasche versuchen“, sagte Miss Oliver und entschwand zu Susans großer Erleichterung reumütig nach oben. Susan schüttelte bedächtig den Kopf und füllte die Wärmflasche auf. Der Krieg machte es einem aber auch wirklich schwer, sich noch normal zu verhalten. Viel hätte nicht gefehlt, und Miss Oliver hätte geflucht.

„Diesen Hitzkopf muß man lindern“, sagte sich Susan. „und wenn die Wärmflasche nichts bewirkt, dann werde ich es mit einem Senfpflaster versuchen.“

Gertrude beruhigte sich und sammelte wieder Kraft. Lord Kitchener begab sich nach Griechenland, was Susan zu der Vorhersage veranlaßte, Konstantin werde bald einen Sinneswandel erleben. Lloyd George drangsalierte die Alliierten in bezug auf Kriegsausrüstung und Waffen, und Susan sagte, von diesem Lloyd George würde man sicher noch öfter hören. Der tapfere Anzacs zog sich aus Gallipoli zurück, und Susan billigte diesen Schritt nur mit Zurückhaltung. Die Belagerung von Kut El-Amara begann, und Susan brütete über Landkarten von Mesopotamien und schimpfte über die Türken. Henry Ford machte sich nach Europa auf, und Susan wetterte über ihn, daß die Fetzen flogen. Sir John French wurde von Sir Douglas Haig abgelöst, und Susan meinte zweifelnd, das zeuge aber von einer armseligen Politik, wenn während einer Krise die Regierung wechselt, „obwohl ich zugeben muß, daß Haig ein guter Name ist und French so einen ausländischen Klang hatte, da könnt ihr sagen, was ihr wollt“. Ob Könige, Läufer oder Bauern, Susan entging nicht ein Zug auf dem großen Schachbrett. Dabei hatte sie sich früher für nichts anderes interessiert als die „Notizen aus Glen St. Mary“.

„Es gab Zeiten“, seufzte sie, „da kümmerte ich mich überhaupt nicht darum, was außerhalb von Prince Edward Island passierte. Und jetzt kann kein König aus Rußland oder China Zahnschmerzen haben, ohne daß ich mir um ihn Sorgen mache. Das mag zwar den Horizont erweitern, wie der Doktor sagt, und gut für den Verstand sein, aber es ist schlecht für die Seele, weil sie mitleiden muß.“

Zu Weihnachten deckte Susan diesmal keine leeren Sitzplätze am Festtagstisch. Zwei leere Stühle waren selbst für sie zuviel, nachdem sie im September noch fest daran geglaubt hatte, daß es keinen geben würde.

„Das ist das erstemal, daß Walter zu Weihnachten nicht zu Hause ist“, schrieb Rilla an diesem Abend in ihr Tagebuch. „Jem fuhr zu Weihnachten immer hinüber nach Avonlea, aber Walter nie. Heute kam ein Brief von Ken und einer von Walter. Sie sind noch in England, rechnen aber damit, daß sie bald in die Schützengräben kommen. Und dann – aber auch das werden wir irgendwie überstehen. Das merkwürdigste von allem, was ich seit 1914 erlebt habe, ist die Feststellung, daß wir uns mit Dingen abfinden können, von denen wir es nie vermutet hätten, daß wir wie selbstverständlich weiterleben können. Ich weiß, daß Jem und Jerry in den Schützengräben sind, daß Ken und Walter auch bald dort sein werden, daß es mir das Herz brechen wird, falls einer von ihnen nicht zurückkommt – und doch mache ich weiter und arbeite und plane; ja, es kommt sogar vor, daß ich das Leben für einen Augenblick genieße. Manchmal, wenn wir das alles für einen kurzen Moment vergessen, sind wir richtig fröhlich, aber dann fällt uns plötzlich alles wieder ein, und das ist schlimmer, als wenn man die ganze Zeit über daran gedacht hätte.

Heute war ein dunkler, bewölkter Tag, und heute abend stürmt es fürchterlich – wie Gertrude sagt: das richtige Wetter für einen Schriftsteller, um sich einen schrecklichen Mord oder eine dramatische Liebesgeschichte auszudenken. Die Regentropfen, die langsam an den Fensterscheiben herunterlaufen, sehen aus wie Tränen auf einem Gesicht, und der Wind heult dazu durch das Ahornwäldchen.

Dieser Weihnachtstag hatte überhaupt nichts Erfreuliches. Nan hatte Zahnschmerzen, und Susan hatte rote Augen und schnitt, um das zu vertuschen, ganz fürchterliche Grimassen. Jims war den ganzen Tag schlimm erkältet, und ich habe Angst, daß er Krupp bekommt. Den hat er seit Oktober schon zweimal gehabt. Das erstemal habe ich gezittert vor Angst, weil Vater und Mutter fort waren – mir kommt es sowieso so vor, als ob Vater immer ausgerechnet dann aus dem Haus ist, wenn einer in der Familie krank wird. Aber Susan hat kühlen Kopf bewahrt und hat genau gewußt, was zu tun ist, und bis zum nächsten Morgen ging es Jims wieder gut. Dieses Kind ist mal der Engel und mal der Teufel in Person. Er ist jetzt ein Jahr und vier Monate alt, er tapst überall herum und plappert auch schon. Wie niedlich das klingt, wenn er mich ‚Willa-will‘ ruft! Ich muß dann immer an diesen schrecklichen, lächerlichen, wunderbaren Abend denken, als Ken kam, um mir Lebewohl zu sagen, und ich so wütend und gleichzeitig so glücklich war. Jims hat eine rosige Haut, hellblondes Haar und große Augen und Löckchen, und immer wieder entdecke ich ein neues Grübchen an ihm. Ich kann es gar nicht fassen, daß er derselbe ist wie dieser magere, gelbhäutige, häßliche Balg, den ich damals in der Suppenschüssel nach Hause brachte. Von Jim Anderson hat man nie etwas gehört. Wenn er nicht zurückkommt, dann behalte ich Jims. Alle hier beten ihn an und verwöhnen ihn – oder würden ihn zumindest verwöhnen, wenn nicht Morgan und ich dem so unbarmherzig im Weg stehen würden. Susan sagt, Jims sei das schlaueste Kind, das ihr je begegnet sei, und er stecke bestimmt mit dem Leibhaftigen unter einer Decke, aber das sagt sie bloß, weil Jims mal den armen Doc oben aus dem Fenster geworfen hat. Auf dem Weg nach unten verwandelte Doc sich in Mr. Hyde und landete fauchend und fluchend in einem Johannisbeerstrauch. Ich versuchte, sein Katerherz mit einem Schälchen Milch zu besänftigen, aber er wollte davon nichts wissen und blieb den ganzen Tag lang Mr. Hyde. Jims’ neueste Heldentat ist, daß er das Kissen auf dem großen Sessel im Empfangszimmer mit Sirup vollgeschmiert hat. Bevor es jemand bemerkte, kam Mrs. Fred Clow in irgendwelchen Rotkreuz-Angelegenheiten zu Besuch und setzte sich drauf. Ihr neues Seidenkleid war ruiniert. Daß sie sich darüber geärgert hat, kann ihr keiner übelnehmen. Aber sie mußte gleich aus der Haut fahren und ganz gemeine Sachen sagen. Das ging so weit, daß sie behauptete, ich würde aus Jims einen ‚verzogenen Fratz‘ machen, und da bin ich fast auch übergekocht. Aber ich riß mich am Riemen und wartete, bis sie davongewatschelt war. Dann explodierte ich.

‚Dieses fette Ungeheuer!‘ schrie ich, und das tat richtig gut!

‚Sie hat drei Söhne an der Front‘, sagte Mutter vorwurfsvoll.

‚So, und deswegen muß man ihr alles durchgehen lassen!‘ schimpfte ich. Aber dann schämte ich mich. Es stimmt ja, daß alle ihre Söhne gegangen sind, und sie war dabei sehr standhaft und tapfer. Und dem Roten Kreuz ist sie eine mächtige Stütze. So viele Heldinnen gibt es in dieser Zeit – die kann man sich nur schwer alle merken. Jedenfalls war das ihr zweites neues Seidenkleid in einem Jahr, und das, wo doch alle versuchen zu sparen und zu dienen. Zumindest sollte das jeder tun.

Neulich mußte ich wohl oder übel meinen grünen Samthut wieder ausgraben, jetzt wo es Winter ist. Dabei hatte ich mich so lange wie möglich an meinen alten Matrosenhut geklammert. Wie ich diesen grünen Samthut hasse! Er ist so fein und fällt richtig auf. Ich verstehe gar nicht, wie der mir jemals gefallen konnte. Aber ich habe fest versprochen, ihn zu tragen, also trage ich ihn auch.

Heute morgen sind Shirley und ich zum Bahnhof gegangen, um dem kleinen Monday einen Weihnachtsschmaus zu bringen. Monday wartet und wacht dort immer noch und ist immer noch voller Hoffnung und Zuversicht. Manchmal lungert er am Bahnhof herum und unterhält sich mit den Leuten, ansonsten hockt er vor seiner Hundehütte und behält ständig die Bahngleise im Auge. Inzwischen versuchen wir schon gar nicht mehr, ihn wegzulocken; wir wissen, es hat keinen Sinn. Erst wenn Jem zurückkehrt, dann wird Monday mit ihm nach Hause kommen; und wenn Jem nie mehr zurückkehrt, dann wird Monday dort so lange auf ihn warten, wie sein treues Hundeherz schlägt.

Gestern abend war Fred Arnold hier. Er ist im November achtzehn geworden und will sich zum Kriegsdienst melden, sobald seine Mutter die Operation hinter sich hat. Er ist in letzter Zeit sehr häufig hier gewesen. Das beunruhigt mich, obwohl ich ihn ganz gern habe. Womöglich denkt er noch, er bedeutet mir etwas. Von Ken habe ich ihm nichts erzählt – außerdem, was gäbe es da schon zu erzählen? Und doch widerstrebt es mir, mich kühl und distanziert zu verhalten, wenn er bald fortgeht. Komisch ist das. Dabei dachte ich immer, wie lustig es sein müsse, Dutzende von Verehrern zu haben, und jetzt mache ich mir solche Sorgen, weil mir zwei schon zuviel sind.

Ich lerne jetzt kochen. Susan bringt es mir bei. Vor langer Zeit habe ich es schon mal versucht – nein, das stimmt nicht, Susan hat versucht es mir beizubringen, und das ist etwas ganz anderes. Irgendwie ist mir nie etwas gelungen, und ich habe immer gleich den Mut verloren. Aber jetzt, wo die Jungen weggegangen sind, möchte ich wenigstens in der Lage sein, einen Kuchen für sie zu backen, also habe ich noch mal von vorn angefangen, und diesmal klappt es überraschend gut. Susan sagt, das käme bloß daher, daß ich dabei den Mund halte, und Vater sagt, daß mein Unterbewußtsein jetzt wohl so lernbegierig sei, und ich muß sagen, sie haben beide recht. Immerhin kann ich jetzt erstklassigen Butterkuchen und Rosinenkuchen backen. Letzte Woche hat mich so der Ehrgeiz gepackt, daß ich mich an Windbeutel herangewagt habe, aber die sind mir kläglich mißlungen. Platt wie Flundern kamen sie aus dem Ofen. Ich dachte. vielleicht würden sie wieder aufgehen, wenn ich sie mit Sahne fülle, aber nichts da. Ich glaube, Susan war insgeheim ganz froh darüber. Sie beherrscht die Kunst des Windbeutelmachens meisterhaft, und es würde ihr das Herz brechen, wenn irgend jemand aus der Familie das genauso gut könnte wie sie. Womöglich hat Susan heimlich – nein, das will ich ihr lieber doch nicht unterstellen.

Miranda Pryor hat mich neulich besucht und mir geholfen, bestimmte Rotkreuzgewänder auszuschneiden, die unter dem reizenden Namen ‚Ungezieferhemden‘ bekannt sind. Susan findet den Namen nicht gerade anständig, also schlug ich ihr vor, sie ‚Läusesäcke‘ zu nennen, wie Sandy, der alte Schotte, dazu sagt. Aber sie schüttelte den Kopf, und später hörte ich, wie sie zu Mutter sagte, ‚Läuse‘ und ‚Säcke‘ wären wohl nicht die richtigen Ausdrücke für ein junges Mädchen. Zu ihrem Entsetzen schrieb Jem auch noch in seinem letzten Brief an Mutter: ‚Sag Susan, daß ich heute morgen auf Läusejagd war und dreiundfünfzig gefangen habe!‘ Susan wurde grün wie eine Erbse. ‚Liebe Frau Doktor‘, sagte sie, ‚wenn zu meiner Zeit anständige Leute das Pech hatten, sich solche – solche Insekten – einzufangen, dann schwiegen sie darüber. Ich will bestimmt nicht kleinlich sein, liebe Frau Doktor, aber ich finde nach wie vor, man sollte über solche Dinge nicht reden.‘

Miranda wurde über unseren Ungezieferhemden sehr vertraulich und erzählte mir von ihren Sorgen. Sie ist todunglücklich. Sie ist mit Joe Milgrave verlobt, und der hat sich im Oktober anwerben lassen und ist seither bei der Truppenübung in Charlottetown. Ihr Vater war wütend, als er das hörte, und verbot Miranda jeden weiteren Umgang mit ihm. Der arme Joe. Er rechnet jeden Tag damit, nach Übersee zu gehen, und möchte, daß Miranda ihn noch vorher heiratet. Es muß also hinter Schnauzbarts Rücken schon zu einer Art ‚Umgang‘ zwischen den beiden gekommen sein. Miranda will ihn heiraten, aber sie kann nicht, und das bricht ihr das Herz, sagt sie.

‚Warum brennst du nicht einfach mit ihm durch und heiratest ihn?‘ fragte ich sie. Ich hatte überhaupt kein schlechtes Gewissen dabei, ihr einen solchen Rat zu geben. Joe Milgrave ist ein wunderbarer Mensch, und Mr. Pryor war ganz begeistert von ihm, bevor der Krieg ausbrach. Mr. Pryor würde Miranda ganz bestimmt verzeihen, wenn es einmal passiert ist, nur damit sie wieder zurückkommt und ihm den Haushalt führt. Aber Miranda schüttelte traurig ihr silberblondes Haupt.

‚Joe will mich, aber ich kann nicht. Mutters letzte Worte auf dem Sterbebett waren, daß ich nie, nie weglaufen dürfe, und ich habe es ihr versprochen.‘

Mirandas Mutter ist vor zwei Jahren gestorben. Aber wenn ich sie richtig verstanden habe, sind ihre Mutter und ihr Vater damals selber durchgebrannt, um zu heiraten. Es fällt mir allerdings schwer, mir Mondgesicht-mit-Schnauzbart vorzustellen, wie er mit seiner Geliebten durchbrennt. Aber so war es wohl, und Mrs. Pryor hat das wohl zeitlebens bereut. Sie hatte es schwer mit Mr. Pryor, und sie hielt das für die Strafe dafür, daß sie weggelaufen war. Deshalb mußte Miranda ihr versprechen, daß sie das niemals macht, egal, was kommt.

Natürlich kann man ein Mädchen nicht dazu überreden, das Versprechen zu brechen, das sie ihrer sterbenden Mutter gegeben hat. Ich sah also keine andere Möglichkeit als die, daß Joe zu ihr nach Hause kommt, wenn ihr Vater nicht da ist, und sie dort heiratet. Aber Miranda sagte, das ginge nicht. Ihr Vater hätte wohl den Verdacht, daß ihr so etwas vorschwebte, und ginge deshalb schon seit längerem nicht mehr aus dem Haus. Und Joe würde natürlich auch nicht gerade von einer Minute auf die andere Urlaub bekommen.

‚Nein, ich werde Joe einfach gehen lassen müssen, und dann wird er umkommen – ich weiß, daß er umkommt –, und das wird mir das Herz brechen‘, schluchzte Miranda, während ihr die Tränen übers Gesicht liefen und die Ungezieferhemden einweichten!