© Loewe Verlag GmbH, Bindlach 1992, 2017

© 1923 by McClelland & Stewart, Stokes and Hodder & Stoughton.

© 1989 by Ruth Macdonald and John Gordon McClelland

Titel der Originalausgabe: Emily of New Moon

Leicht gekürzte Übersetzung für den Loewes Verlag, Bindlach 1992

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Dagmar Weischer

Coverillustration: Ulrike Heyne

eBook-Konvertierung: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt

E-Pub 2.0 ISBN 978-3-7320-0909-1

Printausgabe Hardcover ISBN 3-7855-2505-2

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Für Mr. George Boyd Macmillan Alloa, Scotland, in Erinnerung einer langen und lebendigen Freundschaft

Inhalt

Cover

Titel

Das Haus im Tal

Eine nächtliche Beobachtung

Emily, das schwarze Schaf

Eine Familienkonferenz

Rache ist süß

New Moon

Alte Zeiten

Die Bewährungsprobe

Eine Fügung des Schicksals

Ein Kummer kommt selten allein

Ilse

Tansy Patch

Eva’s Tochter

Phantasie und Poesie

Der Retter in der Not

Miss Brownell’s verhinderter Triumph

Erlebnisse in Briefform

Pater Cassidy

Die Versöhnung

Briefe zum Himmel

Ein „einschneidendes“ Erlebnis

Wyther Grange

Eine gespenstische Nacht

Tante Nancy

Böse Zungen

Erlebnis an der Küste

Emily’s Gelübde

Träume sind Schäume

Das Zerwürfnis

Die Enthüllung

Emily’s großer Augenblick

Weitere Titel von Lucy Maud Montgomery

Weitere Infos

Impressum

Das Haus im Tal

Das Haus in dem kleinen grünen Tal lag „eine Meile weit draußen“ – so hieß es jedenfalls bei den Leuten von Maywood. Eigentlich sah es gar nicht aus wie ein richtiges Haus, sondern eher wie ein großer brauner Pilz, der dort aus der Erde gewachsen zu sein schien. Zu dem Haus führte ein langer, grasbewachsener Pfad, fast versteckt unter den jungen Birken, die ihn umsäumten. Weit und breit war kein anderes Haus zu sehen, obwohl das Dorf gleich jenseits des Hügels lag. Ellen Greene sagte deshalb immer, das sei der einsamste Ort auf der Welt, und wenn sie nicht solches Mitleid hätte mit dem armen Kind, dann würde sie es hier keinen Tag länger aushalten.

Emily ahnte nicht, daß sie bemitleidet wurde, und sie wußte auch nicht, was Einsamkeit bedeutete. Sie hatte doch ihren Vater und Mike und Saucy Sal. Und da gab es die Windsbraut und ihre Freunde, die Bäume: „Adam-und-Eva“, die „Hahnenkiefer“ und all die freundlichen Birken.

Und dann kam ab und zu „der Blitz“. Emily wußte nie genau im voraus, wann er kam, doch gerade das war das Spannende daran.

Eines Abends stahl sich Emily davon, um einen Spaziergang zu machen. Dieser Spaziergang sollte ihr in ewiger Erinnerung bleiben – nicht, weil er so schön unheimlich war – auch nicht, weil nach Wochen plötzlich „der Blitz“ kam – sondern weil sich von diesem Abend an alles änderte.

Es war ein trüber, kalter Tag Anfang Mai. Den ganzen Morgen sah es schon nach Regen aus. Ihr Vater lag von morgens bis abends auf dem Wohnzimmersofa. Er hustete heftig und sprach nicht viel mit Emily, was gar nicht seine Art war. Er hielt nur die Hände im Nacken verschränkt und starrte mit seinen großen dunkelblauen Augen geistesabwesend zu den Wolken hinauf, die zwischen den beiden großen Fichten im Vorgarten vorüberzogen. Emily nannte sie „Adam- und-Eva“, weil der kleine Apfelbaum zwischen ihnen sie an den Baum der Erkenntnis erinnerte, den sie auf einem altmodischen Bild in Ellen Greene’s Buch gesehen hatte. Dieser Baum der Erkenntnis sah haargenau so aus wie der kleine Apfelbaum, und links und rechts davon standen Adam und Eva genauso steif und unbeweglich wie die beiden Fichten.

Emily fragte sich, woran ihr Vater wohl denken mochte, aber sie belästigte ihn nie mit Fragen, wenn sein Husten so schlimm war wie heute. Sie hätte sich nur gern mit jemandem unterhalten. Die Haushälterin Ellen Greene sagte an diesem Tag auch kein Wort. Sie nörgelte nur herum, und Emily wußte dann schon, daß sie sich über irgend etwas ärgerte. Am Abend zuvor war sie auch schon so mürrisch gewesen, nachdem der Doktor ihr in der Küche im Flüsterton etwas anvertraut hatte, und auch danach noch, als sie Emily vor dem Zubettgehen ein Brot mit Rübensirup brachte. Emily konnte Brot mit Rübensirup nicht ausstehen, aber sie aß es tapfer auf, um Ellen nicht zu kränken. Es kam selten vor, daß Ellen ihr erlaubte, vor dem Schlafengehen noch etwas zu essen, und wenn, dann hatte das seinen Grund.

Emily hatte gehofft, Ellens schlechte Laune würde sich wie üblich bis zum nächsten Morgen legen, aber da irrte sie sich. Es war nichts mit ihr anzufangen. Was nicht hieß, daß sonst viel mit ihr anzufangen gewesen wäre. Als Douglas Starr sich einmal furchtbar über sie geärgert hatte, sagte er zu Emily, Ellen Greene sei ein „fetter alter Faulpelz“. Seither dachte Emily jedesmal, wenn sie Ellen sah, daß diese Beschreibung wirklich den Nagel auf den Kopf traf.

Emily machte es sich also an diesem Tag in dem gemütlichen alten Schaukelstuhl bequem und las den ganzen Nachmittag. Die Pilgerfahrt war ein Buch, das ihr besonders gut gefiel. Wie oft schon hatte sie Christian und Christiana auf ihren Wegen begleitet, wobei sie Christianas Abenteuer nicht halb so aufregend fand wie Christians, der sich ganz allein und unerschrocken in das dunkle Tal wagte und mit Apollyon kämpfte. Was waren schon Dunkelheit und Schreckgespenster, wenn man in Begleitung war. Aber es ganz allein damit aufzunehmen war mutig! Emily hatte richtig rote Backen vor Aufregung.

Als Ellen schließlich zum Essen rief, sagte Douglas Starr zu seiner Tochter, sie solle ruhig ohne ihn gehen. „Ich möchte heute abend nichts essen“, erklärte er, „ich will nur hier liegen und mich ausruhen. Und wenn du fertig bist, dann werden wir plaudern, mein Elfchen.“

Er sah sie mit seinem wunderbaren, liebevollen Lächeln an, das Emily so sehr an ihm mochte. Sie ging in die Küche und aß fröhlich ihr Abendbrot, obwohl es überhaupt nicht schmeckte. Das Brot war schwammig, das Ei halb roh, aber immerhin durften zu ihrer Verwunderung ihre Katzen Saucy Sal und Mike dabeisitzen; Ellen brummte nur, als Emily ihnen kleine Butterbrotstückchen zusteckte.

Aber es sah so niedlich aus, wenn Mike Männchen machte und die Stückchen mit den Tatzen auffing, während Saucy Sal Emily am Fuß stupste, weil es ihr zu lange dauerte, bis sie an der Reihe war. Emily mochte beide Katzen, doch an Mike hing sie besonders. Mike war ein hübscher, dunkelgrauer Kater mit gelben Augen wie eine Eule, und er fühlte sich weich und flauschig an. Sal hingegen war mager; man konnte ihr noch soviel zu fressen geben, sie wurde einfach nicht dicker. Weil sie so dünn war, kam Emily auch nie auf die Idee, sie in den Arm zu nehmen oder zu streicheln. Dafür war Saucy Sal eine ungewöhnlich schöne Katze. Sie hatte ein grauweißes, auffallend glänzendes Fell und ein längliches, ausdrucksvolles Gesicht, sehr lange Ohren und tiefgrüne Augen. Sie war besonders angriffslustig; fremde Katzen wurden sofort in die Flucht geschlagen. Der kleine Teufel ging sogar auf Hunde los und verjagte sie.

Emily liebte ihre Katzen sehr. Eine Lehrerin hatte sie ihr geschenkt, als sie noch ganz klein waren, und Emily war heute noch stolz darauf, daß sie sie ganz allein aufgezogen hatte. Sie machte sich allerdings große Sorgen, weil Saucy Sal einfach keine Jungen bekommen wollte.

„Woran das wohl liegen mag“, sagte sie zu Ellen Greene. „Die meisten Katzen bekommen mehr Junge als ihnen guttut.“

Als Emily nach dem Essen wieder ins Zimmer kam, war ihr Vater eingeschlafen. Sie war froh darüber, denn er hatte die letzten beiden Nächte kaum ein Auge zugetan, auf der anderen Seite war sie aber auch ein wenig enttäuscht, weil sie nun doch nicht miteinander reden konnten. Dabei machte es immer solchen Spaß, mit Vater zu plaudern. Nun ja, dann würde sie eben einen Spaziergang machen – einen schönen Spaziergang ganz allein durch den grauen Frühlingsabend. So lange war sie nicht mehr draußen gewesen.

„Setz deine Kapuze auf und komm sofort zurück, wenn es anfängt zu regnen“, befahl Ellen streng. „Du weißt, du darfst nicht so leichtsinnig sein wie andere Kinder.“

„Wieso nicht?“ fragte Emily empört. Wieso sollte sie sich nicht auch einmal einen Schnupfen holen dürfen? Das war doch wirklich nicht einzusehen.

Aber Ellen brummte nur vor sich hin. „Du fetter alter Faulpelz“, murmelte Emily leise und eilte wütend nach oben, um ihren Regenumhang zu holen. Dabei lief sie so gerne ohne Mütze draußen herum. Sie stülpte die Kapuze über ihren langen schwarzen Zopf und lächelte dabei vertraulich in ihren kleinen grünen Spiegel. Dabei zog sie ihre Mundwinkel ganz langsam nach oben, bis sich ein zauberhaftes Lächeln über ihr Gesicht breitete – das Lächeln ihrer verstorbenen Mutter. Dieses Lächeln war es, das Douglas Starr zuerst an Juliet Murray aufgefallen war und das ihn seitdem immer wieder fasziniert hatte. Dieser Zug schien aber auch das einzige zu sein, worin Emily ihrer Mutter ähnelte. Alles andere, so dachte er oft, hatte sie von den Starrs – die großen, grauen Augen, die langen Wimpern, die dunklen Augenbrauen und die hohe, ja zu hohe weiße Stirn – das zarte blasse Gesicht und den feinen Mund, die kleinen, spitzen Ohren, die sie aussehen ließen, als ob sie zur Familie der Elfen gehörte.

„Ich werde einen Spaziergang mit der Windsbraut machen, meine Liebe“, sagte Emily jetzt zu ihrem Spiegelbild. „Schade, daß du nicht mitkommen kannst. Du kommst wohl nie aus diesem Zimmer heraus. Die Windsbraut wird mich über die Felder begleiten. Sie sieht wie ein großer Nebelschleier aus, und sie trägt ein dünnes graues Seidenkleid, das sie umweht. Sie hat durchsichtige Flügel wie eine Fledermaus, und ihre Augen leuchten wie Sterne durch ihr langes, offenes Haar hindurch. Sie kann fliegen, aber heute abend wird sie mit mir über die Felder laufen. Wir sind gute Freunde, die Windsbraut und ich. Ich war sechs, als ich ihr das erste Mal begegnet bin. Wir sind also schon ganz alte Freunde, wenn auch nicht so alte wie du und ich, kleine Emily-im-Spiegel. Wir beide sind immer schon Freunde gewesen, nicht wahr?“ Emily warf der Emily-im-Spiegel eine Kußhand zu und ging.

Draußen wartete schon die Windsbraut. Sie fegte durch die Grashalme, die aus dem Beet unter dem Wohnzimmerfenster herausragten; sie schüttelte die Äste von „Adam-und-Eva“, flüsterte im grünen Astgewirr der Birken und neckte die „Hahnenkiefer“ hinter dem Haus. Die Kiefer sah wirklich wie ein riesiger, lächerlicher Hahn aus, mit großen, buschigen Schwanzfedern und stolz zurückgeworfenem Kopf.

Emily war schon so lange nicht mehr draußen gewesen, daß sie ganz aus dem Häuschen war vor Freude. Im Winter hatte es so heftige Stürme und soviel Schnee gegeben, daß sie nicht hinaus durfte; im April war es zu regnerisch und windig gewesen; kein Wunder, daß sie sich an diesem Maiabend vorkam wie eine Gefangene, die in die Freiheit entlassen wurde. Wohin sollte sie nun gehen? Den Bach hinunter oder über die Felder zum Fichtengehölz? Emily entschied sich für das zweite.

Sie liebte das Fichtengehölz ganz unten am Ende des Weidelandes, denn dort begann das Märchenland. Nirgendwo sonst fühlte sie sich so sehr als Elfe wie hier. Hier lauerten immer wieder Überraschungen – hier konnte die Phantasie sogar zur Wirklichkeit werden.

Und nirgends konnte man mit der Windsbraut so gut Verstecken spielen, nirgends war sie so nah. Man brauchte nur ganz schnell hinter den Bäumen hervorzuspringen, dann konnte man sie nicht nur sehen, sondern sogar hören und berühren, nur, Emily war nie schnell genug. Da war sie – ganz deutlich war das Rascheln ihres Umhangs zu hören – nein, doch nicht, sie saß oben in den Bäumen und lachte. Und schon ging die Jagd weiter, bis die Windsbraut plötzlich fort war und sich eine wundervolle Stille ausbreitete. Die Schäfchenwolken teilten sich, und an dem blaßrosa Himmel tauchte der Neumond auf.

Emily stand da und blickte ehrfürchtig nach oben. Zu Hause mußte sie dieses Erlebnis unbedingt in ihrem gelben Tagebuch festhalten. „Mike’s Biographie“ lautete die letzte Eintragung. Später würde sie es dann ihrem Vater vorlesen. Hoffentlich hatte sie bis zu Hause nicht vergessen, wie die Bäume da oben auf dem Hügel wie ein Stück schwarze Spitze in den blaßrosa Himmel ragten.

Und dann, für einen wundervollen, unbeschreiblichen Augenblick, kam er – „der Blitz“. Emily nannte es „Blitz“, auch wenn das den Kern nicht genau traf. Aber man konnte diesen Augenblick einfach nicht beschreiben – nicht einmal Vater gegenüber, der immer ein wenig verwirrt schien, wenn Emily davon erzählte. Aber außer ihm wußte niemand davon. Seit sie denken konnte, kam es Emily so vor, als ob sie ganz nah neben einer wundervollen Welt leben würde. Nur ein dünner Vorhang trennte sie von ihr; sie konnte diesen Vorhang nie beiseite schieben, aber manchmal, nur für einen Augenblick, bewegte er sich im Wind, und dann konnte sie einen flüchtigen Blick in dieses Zauberland werfen und ein paar überirdische Klänge hören.

Solch ein Augenblick kam nur selten, und er verflog im Nu. Emily blieb jedesmal sprachlos zurück. Nie konnte sie diesen Augenblick zurückrufen, nie ihn heraufbeschwören, nie ihn vortäuschen; aber das Glücksgefühl hielt tagelang an. „Der Blitz“ kam auch nie zweimal an derselben Stelle. An diesem Abend hatten die dunklen Zweige den Ausschlag gegeben, die sich so schön gegen den Abendhimmel abhoben.

Emily rannte durch die hereinbrechende Abenddämmerung nach Hause zurück, voller Sorge, die Erinnerung an das, was sie gesehen hatte, könnte verblassen, bis sie es aufgeschrieben hatte. Sie wußte schon genau, wie sie beginnen würde, der Satz nahm in Gedanken Gestalt an: „Der Hügel rief mich, und irgend etwas in mir rief zurück.“

Ellen Greene hockte zusammengesunken auf der Treppe vor dem Haus. Emily war noch so im Glückstaumel, daß sie die ganze Welt hätte umarmen können, sogar einen „fetten alten Faulpelz“. Sie schlang ihre Arme um Ellens Knie und drückte sie an sich. Ellen schaute jedoch düster in Emily’s strahlendes Gesicht und sagte mit ernster Stimme:

„Weißt du, daß dein Vater nur noch ein oder zwei Wochen zu leben hat?“

Eine nächtliche Beobachtung

Emily stand wie angewurzelt da und starrte in Ellen’s breites rotes Gesicht. Es war, als hätte die Haushälterin ihr einen Schlag versetzt. Die Farbe wich von ihren Wangen, und sie wurde kreidebleich, so daß selbst Ellen Greene es mit der Angst zu tun bekam.

„Ich finde, es ist höchste Zeit, daß du es endlich erfährst“, sagte sie. „Seit Monaten will ich es dir schon sagen, aber dein Vater hat mich immer wieder davon abgehalten. Da sage ich zu ihm: ‚Sie wissen doch, wie empfindlich sie ist, und wenn Sie eines schönen Tages das Zeitliche segnen, ohne daß sie darauf vorbereitet ist, fällt sie doch vor Schreck um. Sie müssen es ihr sagen‘, und er darauf: ‚Es ist noch genug Zeit, Ellen.‘ Aber er hat dir bis heute nie etwas gesagt, und als er mir gestern abend eröffnet hat, daß es jederzeit mit ihm zu Ende gehen kann, da dachte ich, jetzt muß ich eingreifen und dir reinen Wein einschenken. Lieber Gott, nun mach doch nicht so ein Gesicht, Kind! Es wird schon jemand für dich sorgen. Irgendwer aus der Verwandtschaft deiner Mutter nimmt dich bestimmt auf, und sei es auch bloß aus Stolz. Die werden ihr eigen Fleisch und Blut schon nicht verstoßen, auch wenn sie deinen Vater nie leiden konnten. Du wirst ein gutes Zuhause finden, ein besseres, als du es hier je gehabt hast. Da brauchst du dir gar keine Sorgen zu machen. Deinem Vater solltest du dankbar sein. Seit fünf Jahren geht es schon mit ihm bergab. Er hat nie ein Wort zu dir gesagt, aber ich weiß, daß er sehr gelitten hat. Die Leute sagen, er wäre über den Tod deiner Mutter nicht hinweggekommen. Sie starb so plötzlich, innerhalb von drei Tagen. Jetzt weißt du also, was auf dich zukommt. Um Himmels willen, Emily Byrd Starr, nun steh doch nicht so da! Du machst mir richtig Angst. Schließlich bist du nicht das erste Kind, das seine Eltern verliert. Sei doch vernünftig. Und reg deinen Vater nicht unnötig auf mit dem, was ich dir gesagt habe. Jetzt komm rein, und dann kriegst du noch einen Keks vor dem Schlafengehen.“

Ellen streckte ihr die Hand hin. Emily erwachte aus ihrer Erstarrung und hatte plötzlich das Gefühl, laut schreien zu müssen, wenn Ellen sie ausgerechnet jetzt anfaßte. Ein kurzes, schmerzliches Schluchzen schüttelte sie, dann stürzte sie ins Haus und die Treppe hinauf.

Ellen schüttelte nur den Kopf und watschelte in die Küche. „Ich habe jedenfalls meine Pflicht getan“ dachte sie. „Der hätte doch bis zu seinem Tod nichts gesagt, und dann? So hat sie wenigstens Zeit, sich daran zu gewöhnen, und in ein, zwei Tagen ist sie darüber hinweg. Ängstlich ist sie ja zum Glück nicht. Da wird sie sich von den Murrays schon nicht unterkriegen lassen. Und sie hat was von dem Murray-Stolz, das wird ihr helfen. Das beste wäre, den Murrays zu schreiben, daß er im Sterben liegt, aber so weit gehe ich lieber nicht. Wer weiß, wie er es auffassen würde. Immerhin habe ich hier bis zum Schluß durchgehalten. Das macht mir so leicht keine nach, so wie die hier leben. Eine Schande ist das, wie das Kind hier aufgewachsen ist – noch nicht mal zur Schule ist es geschickt worden. Oft genug hab’ ich ihn deshalb zur Rede gestellt – aber was soll’s, ich brauche mir jedenfalls keine Vorwürfe zu machen. Raus hier, Sal! Und wo steckt Mike?“

Mike war unauffindbar, weil er sich zu Emily nach oben geschlichen hatte. Sie hielt ihn fest in den Armen, während sie in der Dunkelheit auf ihrem kleinen Bett saß. Schmerz und Verzweiflung waren nicht ganz so schlimm, wenn sie sein weiches Fell und seinen samtigen Kopf streichelte.

Emily weinte nicht; sie starrte einfach nur vor sich hin in die Dunkelheit und versuchte zu begreifen, was Ellen ihr eben eröffnet hatte. Sie wußte instinktiv, daß es die Wahrheit war. Warum konnte sie nicht auch sterben? Ohne Vater konnte sie nicht weiterleben.

Mike wurde es langsam müde, ständig so festgehalten zu werden, und wand sich aus Emily’s Armen. Nun war sie ganz allein mit diesem schrecklichen brennenden Schmerz, der sie ganz erfaßte und doch nicht körperlich spürbar war. Nie mehr würde sich dieser Schmerz lösen. Es würde auch nicht helfen, wenn sie alles in ihr altes gelbes Tagebuch schrieb. Vieles hatte sie darin festgehalten: Als die Lehrerin der Sonntagsschule fortzog, als sie hungrig zu Bett gehen mußte und als Ellen sie für verrückt erklärte, weil sie etwas von Windsbräuten und Blitzen faselte. Immer, wenn sie solche Dinge niedergeschrieben hatte, taten sie hinterher nicht mehr so weh. Aber über diesen Schmerz konnte man nicht schreiben. Sie konnte noch nicht einmal zu ihrem Vater gehen, um sich trösten zu lassen, so wie damals, als sie sich mit dem glühend heißen Schürhaken die Hand verbrannt hatte. Vater hatte sie die ganze Nacht im Arm gehalten und ihr Geschichten erzählt und ihr damit über den Schmerz hinweggeholfen. Aber jetzt sollte Vater in ein oder zwei Wochen sterben. Emily hatte plötzlich das Gefühl, als hätte Ellen ihr das schon vor vielen, vielen Jahren eröffnet. Es konnte doch unmöglich erst eine Stunde her sein, seit sie so glücklich gespielt und den Neumond am Abendhimmel bewundert hatte.

„Der Blitz wird nie wiederkommen – niemals“, dachte sie.

Aber Emily hatte gewisse Eigenschaften von ihren Vorfahren geerbt – die Kraft zu kämpfen und Mitleid zu haben, die Kraft, einen Menschen aufrichtig zu lieben, sich zu freuen und Geduld zu haben. Die Gabe der Geduld kam ihr nun zu Hilfe und richtete sie auf. Vater sollte nichts von dem erfahren, was sie von Ellen wußte, es hätte ihn nur verletzt. Sie mußte es für sich behalten und ihren Vater einfach lieben, viel mehr noch als sonst, solange er noch bei ihr war.

Sie hörte ihn im Zimmer unten husten; wenn er jetzt heraufkam, wollte sie schon im Bett liegen. Also zog Emily sich aus, so schnell es ihre kalten Hände zuließen, und kroch in ihr Kinderbett. Durch das offene Fenster gegenüber drangen die Geräusche des milden Frühlingsabends herein, die Windsbraut fegte ums Haus, aber Emily hörte das alles nicht.

Kalt und reglos, unfähig zu weinen, lag sie da, als ihr Vater hereinkam. Wie langsam er ging, wie langsam er sich auszog! Wieso war ihr diese Langsamkeit nicht früher schon aufgefallen? Aber er hustete nicht. Sollte Ellen sich etwa geirrt haben? Was wäre, wenn – ein plötzlicher Hoffnungsschimmer leuchtete auf. Sie stieß einen Seufzer aus.

Douglas Starr kam zu ihr herüber. Wie nah sie sich ihm fühlte, als er sich auf den Stuhl neben ihr setzte, in seinem alten roten Schlafrock. Wie sehr sie ihn liebte! Kein Vater auf der ganzen Welt war so wie er, so zärtlich, so verständnisvoll, so wunderbar! Es konnte einfach nicht wahr sein, daß sie getrennt werden sollten!

„Schläfst du, Liebes?“

„Nein“, flüsterte Emily.

„Bist du müde, Kleines?“

„Nein – nein, ich bin nicht müde.“

Ihr Vater nahm ihre Hand und hielt sie fest. „Dann wollen wir jetzt plaudern. Ich muß dir etwas sagen“, begann er.

„Ach – ich weiß – ich weiß es!“ rief Emily. „Ach, Papa, ich weiß es! Ellen hat es mir gesagt.“

Douglas Starr schwieg einen Augenblick überrascht. Dann murmelte er: „Dieser alte Dummkopf!“

Noch einmal keimte ein Hoffnungsschimmer in Emily auf. Vielleicht war ja alles nur ein schreckliches Mißverständnis.

„Papa, sag, daß es nicht wahr ist“, flüsterte sie.

„Emily, Kind“, sagte er. „Ich kann dich nicht hochheben, ich bin zu schwach – aber komm her und setz dich auf meinen Schoß, so wie früher.“

Emily schlüpfte aus dem Bett und kletterte auf Vaters Schoß. Er wickelte sie in seinen alten Schlafrock ein und nahm sie fest in den Arm.

„Mein liebes Kind – es ist wahr“, erklärte er. „Ich wollte es dir heute abend selbst sagen. Und jetzt ist mir diese dumme Ellen zuvorgekommen und hat es dir wahrscheinlich ziemlich schonungslos beigebracht und dir schrecklich weh getan. Sie hat nicht das geringste Feingefühl. Ich hätte dir nie so weh getan, Liebes.“

Emily fühlte einen Kloß im Hals und schluckte.

„Papa, ich – ich kann es nicht ertragen.“

„Doch, du wirst sehen, daß du es kannst. Du wirst weiterleben und feststellen, daß es sich lohnt zu leben. Du hast meine Begabung – und dazu noch etwas, was ich nicht habe. Wo ich versagt habe, wirst du erfolgreich sein, Emily. Leider habe ich nicht viel für dich tun können, aber was in meiner Macht stand, habe ich getan. Ich glaube, ich habe dir doch etwas beigebracht, auch wenn Ellen anders darüber denkt. Emily, erinnerst du dich noch an deine Mutter?“

„Kaum. Manchmal fällt mir etwas ein – so wie Bruchstücke aus einem schönen Traum.“

„Du warst erst vier, als sie starb. Ich habe nie viel von ihr gesprochen – ich konnte einfach nicht. Aber heute abend werde ich dir alles über sie erzählen. Jetzt, wo ich sie bald wiedersehen darf, tut es nicht mehr weh. Eigentlich wollte ich dir den Namen deiner Mutter geben: Juliet. Aber sie war dagegen. Sie sagte, damit ich euch beide auseinanderhalten kann, würde ich bestimmt bald dazu übergehen, sie ‚Mutter‘ zu nennen, und das könnte sie nicht ertragen. Ihre Tante Nancy hätte einmal gesagt: ‚Wenn dein Mann erst mal anfängt, dich ‚Mutter‘ zu nennen, ist es mit der Romanze vorbei.‘ Also haben wir dich nach meiner Mutter getauft, ihr Mädchenname war Emily Byrd. Deine Mutter fand, es gäbe keinen hübscheren Namen. Emily, sie war die liebste Frau auf der ganzen Welt.“

Seine Stimme zitterte, und Emily kuschelte sich enger an ihn.

„Ich lernte sie vor zwölf Jahren kennen. Ich war damals Zeitungsredakteur bei der Enterprise in Charlottetown, und sie studierte im letzten Jahr an der Queen’s Academy. Sie war groß und blond und hatte blaue Augen. Sie ähnelte ein wenig deiner Tante Laura, nur, daß Laura nie so hübsch war. Die Augen waren sehr ähnlich und die Stimme. Juliet wuchs in Blair Water auf. Auch von ihren Verwandten habe ich dir nie viel erzählt. Sie leben an der Nordküste von Blair Water auf einer Farm namens ‚New Moon‘. Sie sind dort seßhaft, seit der erste Murray 1790 aus England herüberkam. Das Schiff, mit dem er damals ankam, hieß New Moon, und er hat die Farm danach benannt.“

„Ein hübscher Name – den Neumond mag ich besonders gern“, sagte Emily.

„Seitdem haben nur Murrays die New-Moon-Farm bewohnt“, erzählte ihr Vater weiter. „Es ist eine stolze Familie – die ganze Nordküste spricht vom ‚Murray-Stolz‘. Zugegeben, auf ein paar Dinge konnten sie stolz sein, aber ansonsten gingen sie wirklich zu weit. Die Leute dort oben nennen sie spöttisch ‚die Auserwählten‘.

Die ganze Sippe wurde immer größer und verstreute sich nach und nach in alle Winde. Auf New Moon sind nur deine Tanten Elisabeth und Laura geblieben und ihr Cousin, Jimmy Murray. Die Tanten haben nie geheiratet – es heißt, sie hätten keinen gefunden, der gut genug war für eine Murray. Deine beiden Onkel Oliver und Wallace wohnen in Summerside, deine Tante Ruth in Shrewsbury und deine Großtante Nancy in Priest Pond.“

„Priest Pond – das klingt interessant. Nicht so schön wie New Moon und Blair Water, aber interessant“, überlegte Emily. In Vaters Armen war der Schrecken leichter zu ertragen, und es gelang ihr sogar, eine Weile nicht daran zu denken.

Douglas Starr wickelte sie noch fester in seinen Morgenmantel ein, küßte sie auf ihr schwarzes Haar und fuhr dann fort zu erzählen.

„Elizabeth, Laura, Wallace, Oliver und Ruth stammen alle von Archibald Murray ab. Ihre Mutter starb jedoch. Mit sechzig heiratete er ein zweites Mal – ein ganz junges Ding. Sie starb bei der Geburt deiner Mutter. Juliet war zwanzig Jahre jünger als ihre Halbgeschwister. Sie war hübsch und bezaubernd, alle liebten und verwöhnten sie, sie war der Stolz der ganzen Familie. Als sie sich dann ausgerechnet in mich verliebte, einen armen Journalisten, der nichts weiter besaß als Schreibzeug und Ehrgeiz, da war die Katastrophe da. So einer kam für die stolzen Murrays nicht in Frage. Ich will nicht in die Einzelheiten gehen – jedenfalls mußte ich mir Dinge anhören, die ich nie vergessen kann, geschweige denn vergeben. Deine Mutter hat mich geheiratet, Emily – und damit war sie für die New-Moon-Leute erledigt. Kannst du dir vorstellen, daß sie es trotzdem nie bereut hat, mich geheiratet zu haben?“

Emily hob die Hand und streichelte zärtlich die eingefallene Wange ihres Vaters.

„Natürlich hat sie es nicht bereut. Es ist doch klar, daß sie dich viel lieber hatte als alle Murrays der Welt.“

Ihr Vater mußte ein wenig lachen, und es lag fast so etwas wie Triumph in seiner Stimme.

„Ja, so war es wohl. Und wir waren so glücklich miteinander – ach, Kleines, niemand war so glücklich wie wir. Du bist aus diesem Glück hervorgegangen. Ich erinnere mich noch gut an die Nacht, als du in dem kleinen Haus in Charlottetown geboren wurdest. Es war Mai, und die Wolken, die am Mond vorüberzogen, glänzten wie Silber. Hier und da funkelte ein Stern. Ich wanderte in unserem dunklen Blumengarten auf und ab und betete. Der Himmel färbte sich gerade langsam rot, als ich erfuhr, daß ich eine kleine Tochter hatte. Ich ging ins Haus – und deine Mutter, blaß und geschwächt, lächelte mich mit ihrem wundervollen Lächeln an und sagte: „Wir haben das schönste Baby auf der ganzen Welt, Liebster.“

„Schade, daß man sich nicht bis zu dem Augenblick zurückerinnern kann, als man geboren wurde“, meinte Emily. „Das wäre bestimmt aufregend.“

„Aber dann würden wir uns auch an viele unschöne Dinge erinnern“, gab ihr Vater lächelnd zu bedenken. „Es ist bestimmt nicht einfach, sich an das Leben zu gewöhnen, genausowenig, wie man sich an den Tod gewöhnen kann. Aber du hast keine großen Schwierigkeiten gehabt, du warst so ein fröhliches kleines Kind. Vier glückliche Jahre haben wir miteinander verbracht, und dann – erinnerst du dich noch an den Tod deiner Mutter, Emily?“

„Ich erinnere mich noch an die Beerdigung, Papa – ganz genau. Du standest mitten im Zimmer und hieltest mich im Arm, und Mama lag vor uns in einer langen schwarzen Kiste. Und du hast geweint, und ich wußte nicht, warum. Ich habe mich nur gewundert, warum Mutter so weiß war und die Augen nicht aufmachte. Dann beugte ich mich zu ihr hinunter und berührte ihre Wange – und sie war so kalt. Da bekam ich Angst. Und ich hörte jemand sagen: ‚Das arme kleine Ding!‘ Ich fürchtete mich und verbarg mein Gesicht an deiner Schulter.“

„Ja, ich erinnere mich. Deine Mutter starb sehr plötzlich. Alle Murrays kamen zur Beerdigung, denn Tradition ist ihnen sehr wichtig, und sie halten daran fest. Zum Beispiel durften auf New Moon nur Kerzen angezündet werden, und das ist bis heute so geblieben. Sie legten auch großen Wert darauf, daß niemand im Groll sterben mußte; alle Streitigkeiten wurden vorher aus dem Weg geräumt. Dieses Mal kamen die Murrays erst, nachdem Juliet schon tot war. Sicher wären sie schon früher gekommen, wenn sie von ihrer Krankheit gewußt hätten. Und sie bewahrten Haltung – ja, das kann man wohl sagen. Schließlich waren sie die Murrays von New Moon. Deine Tante Elizabeth trug ihr bestes schwarzes Seidenkleid. Für jede andere Beerdigung hätte es auch das zweitbeste getan. Und niemand protestierte, als ich sagte, deine Mutter würde im Familiengrab der Starrs auf dem Friedhof von Charlottetown beigesetzt werden. Natürlich hätten sie sie lieber auf dem alten Privatfriedhof der Murrays in Blair Water begraben, denn alles andere wäre unter ihrer Würde gewesen. Aber Onkel Wallace räumte großzügig ein, eine Frau gehöre wohl zur Familie des Ehemannes, im Tode wie zu Lebzeiten. Und dann boten sie sich an, dich aufzunehmen und großzuziehen, um ‚dir die Mutter zu ersetzen‘. Aber ich wollte das nicht – damals jedenfalls nicht. Glaubst du, ich habe richtig gehandelt, Emily?“

„Ja – ja, ja!“ flüsterte Emily und drückte ihn fest an sich.

„Ich sagte zu Oliver Murray, daß ich mich nicht von meinem Kind trennen würde, solange ich lebe. Daraufhin erwiderte er: ‚Falls du es dir doch anders überlegst, wende dich ruhig an uns.‘ Aber ich habe es mir nicht anders überlegt – auch nicht drei Jahre danach, als mein Arzt sagte, ich müsse meine Arbeit aufgeben. ‚Andernfalls gebe ich Ihnen nicht mehr als ein Jahr‘, so hat er mich gewarnt. ‚Wenn Sie aber aufhören zu arbeiten und sich viel an der frischen Luft aufhalten, gebe ich Ihnen noch drei – oder sogar vier Jahre.‘ Seine Prognose war richtig. Wir zogen hierher und hatten noch vier schöne Jahre zusammen, habe ich recht, Kleines?“

„Ja – oh ja!“

„Diese vier Jahre und das, was ich dir beigebracht habe, sind alles, was ich dir hinterlassen kann. Wir haben mit dem wenigen Geld auskommen müssen, das mir eine Lebensversicherung aus dem Erbe eines alten Onkels eingebracht hat. Der Nachlaß geht jetzt an eine gemeinnützige Einrichtung, und unser kleines Haus ist nur gemietet. Was das Geldverdienen angeht, bin ich sicher ein Versager gewesen. Aber die Verwandten deiner Mutter werden für dich sorgen, das weiß ich. Das gebietet ihnen schon der Murray-Stolz. Außerdem haben sie dich sehr gern. Vielleicht hätte ich mich schon eher an sie wenden sollen, vielleicht sollte ich es wenigstens jetzt tun. Aber auch ich habe meinen Stolz, und auch die Starrs kennen so etwas wie Tradition. Die Murrays haben mich so schlecht behandelt, als ich deine Mutter heiratete. Was meinst du, soll ich die Tanten auf New Moon verständigen oder nicht?“

„Nein!“ rief Emily beinah wütend.

Sie wollte sich nicht die kurze wertvolle Zeit, die sie noch zusammen haben würden, von irgend jemandem verderben lassen. Nicht auszudenken! Schlimm genug, daß sie überhaupt kommen mußten – nachher. Aber dann war ihr wahrscheinlich sowieso alles egal.

„Dann laß uns bis zum Schluß zusammenbleiben, Emily. Und ich wünsche mir, daß du tapfer bist. Du brauchst keine Angst zu haben, der Tod ist nicht schlimm. Sterben heißt nichts anderes, als die Schwelle zu einem neuen Leben zu überschreiten. Wunderbare Dinge warten dort auf uns, jenseits der Tür. Ich werde dort deine Mutter wiedertreffen, da bin ich ganz sicher, auch wenn ich sonst an vielem gezweifelt habe. Ich fühle, daß sie auf mich wartet. Und wir werden dann auf dich warten, ganz lange, bis du uns einholst.“

„Am liebsten würde ich gleich mit dir kommen“, flüsterte Emily.

„Warte nur, nach einer Weile denkst du anders darüber“, sagte ihr Vater. „Die Zeit heilt Wunden. Und das Leben hält etwas Besonderes für dich bereit, das fühle ich. Geh nur tapfer darauf zu, Liebes. Ich weiß, du kannst es dir im Augenblick nicht vorstellen, aber mit der Zeit wirst du an meine Worte zurückdenken.“

„Ich fühle nur, daß ich Gott nicht mehr mag“, sagte Emily, die immer offen zu ihrem Vater war.

Douglas Starr mußte lachen. Emily liebte nichts so sehr wie dieses Lachen. Sie hielt vor Rührung den Atem an, und er nahm sie noch fester in die Arme.

„Du täuschst dich. Gott ist doch die Liebe in Person. Natürlich darfst du ihn nicht mit Ellen Greene’s Gott verwechseln.“

Emily verstand nicht, was Vater damit meinte. Aber plötzlich merkte sie, daß sie keine Angst mehr hatte. Das bittere Gefühl der Traurigkeit und der tiefe Schmerz waren verschwunden. Sie fühlte nur noch Liebe, da war kein Platz mehr für Angst und Traurigkeit. Vater würde nur durch die Tür gehen – nein, er würde nur einen Vorhang beiseite schieben; dieser Gedanke gefiel ihr besser, denn ein Vorhang ist nicht so hart und fest verschlossen wie eine Tür. Dann würde er hinüberhuschen in jene Welt, von der sie hier und da schon einen Blick erhaschen durfte, immer dann, wenn „der Blitz“ kam. In dieser schönen Welt würde er leben – gar nicht weit weg von ihr. Mit dem Gefühl, daß Vater immer in ihrer Nähe war, mit diesem Gefühl würde sie es schaffen können.

Douglas Starr hielt sie in den Armen, bis sie eingeschlafen war; dann legte er sie, so schwach er sich auch fühlte, in ihr Bett zurück.

„So tief wie ihre Liebe wird auch ihr Kummer sein, aber sie wird wunderbare Augenblicke erleben, so wie ich sie auch erlebt habe. Und so, wie die Verwandten ihrer Mutter mit ihr umgehen, so soll auch Gott mit ihnen umgehen“, murmelte er mit brüchiger Stimme.

Emily, das schwarze Schaf

Douglas Starr lebte noch zwei Wochen. Jahre später, als Emily den Schmerz überwunden hatte, waren diese beiden Wochen ihre wertvollste Erinnerung. Es war eine schöne Zeit, schön und gar nicht traurig. Und eines Nachts, als er auf dem Wohnzimmersofa lag und Emily neben ihm in ihrem alten Schaukelstuhl saß, trat er durch den Vorhang – so leise und unbeschwert, daß Emily es gar nicht bemerkte, bis ihr auffiel, wie still es plötzlich war. Nur ihr eigener Atem war noch zu hören.

„Papa – Papa!“ schluchzte sie. Dann rief sie Ellen herbei.

Als später die Murrays kamen, sagte Ellen Greene zu ihnen, Emily habe es mit erstaunlicher Fassung getragen. In Wahrheit hatte Emily die ganze Nacht geweint und kein Auge zugetan; die Leute von Maywood, die vorbeikamen, um ihre Hilfe anzubieten, konnten sie nicht trösten. Doch bis zum nächsten Morgen waren alle Tränen vergossen. Emily war blaß, ruhig und fügsam.

„So ist es recht“, sagte Ellen zufrieden. „Siehst du, man muß nur darauf vorbereitet sein. Dein Vater war richtig wütend auf mich, als er erfuhr, daß ich es dir gesagt habe – und das, wo er doch im Sterben lag. Aber ich nehme es ihm nicht übel. Ich habe jedenfalls meine Pflicht getan. Mrs. Hubbard näht dir ein schwarzes Kleid; bis zum Abendessen soll es fertig sein. Die Verwandten deiner Mutter haben ein Telegramm geschickt, daß sie heute abend kommen. Da sollst du schon ordentlich aussehen. Es sind wohlhabende Leute, die sich um dich kümmern werden. Dein Vater hat dir ja keinen einzigen Cent hinterlassen, aber immerhin auch keine Schulden, das muß ich ihm zugute halten. Bist du schon drin gewesen und hast dir die Leiche angesehen?“

„Hör auf, ihn so zu nennen!“ rief Emily. „Wie schrecklich, so von ihm zu reden!“

„Wieso? Na, du bist vielleicht ein merkwürdiges Kind! Dabei sieht er als Leiche viel besser aus als ich vermutet habe bei seinem Zustand. Er war so ein hübscher Mann, nur viel zu dünn.“

„Ellen Greene, ich verfluche dich, wenn du es wagst, meinen Vater noch einmal so zu nennen!“

Ellen Greene starrte sie an.

„Was soll denn das heißen? Wie kannst du so zu mir sprechen nach allem, was ich für dich getan habe! Paß bloß auf, daß die Murrays dich nicht so reden hören, sonst will keiner etwas mit dir zu tun haben. Verfluchen willst du mich! Das ist also der Dank!“

Emily’s Augen brannten. Sie fühlte sich einsam und verlassen. Aber was sie zu Ellen gesagt hatte, bereute sie nicht, und sie war auch nicht bereit, sich zu entschuldigen.

„So, jetzt kommst du her und hilfst mir beim Abwaschen“, befahl Ellen. „Da kommst du auf andere Gedanken und wirst dich hüten, Leute zu verfluchen, die sich die Finger für dich wundgearbeitet haben.“

Emily warf einen prüfenden Blick auf Ellen’s Hände und nahm das Geschirrtuch zur Hand.

„Deine Finger sind fett und schwammig“, erklärte sie dann. „Wundgearbeitet sehen sie wirklich nicht aus.“

„Wie kannst du nur so frech sein, wo nebenan dein toter Vater liegt“, empörte sich Ellen. „Aber wenn deine Tante Ruth dich zu sich nimmt, wird sie dir schon die Leviten lesen.“

„Will denn Tante Ruth mich nehmen?“

„Keine Ahnung, aber das läge doch auf der Hand. Sie ist Witwe und hat keine Nachkommen, und wohlhabend ist sie auch.“

Emily überlegte einen Augenblick und sagte dann entschlossen: „Ich glaube nicht, daß ich zu Tante Ruth will.“

„Das wirst du dir kaum aussuchen können. Du solltest froh sein, überhaupt irgendwo unterzukommen. Wem solltest du schon nützen?“

„Ich nütze mir selbst“, rief Emily stolz.

„Dich großzuziehen dürfte wirklich kein Vergnügen sein“, knurrte die Haushälterin. „Ich finde, Tante Ruth wäre genau die Richtige für dich. Die treibt dir die Flausen schon aus dem Kopf. Sie ist eine vornehme Frau, und niemand auf ganz P. E. Island hält ihren Haushalt so perfekt in Ordnung wie sie. Bei ihr könnte man direkt vom Fußboden essen.“

„Ich lege keinen Wert darauf, von ihrem Fußboden zu essen. Mir ist es egal, wie der Boden aussieht, solange die Tischdecke sauber ist.“

„Ich nehme wohl an, daß ihre Tischdecken genauso sauber sind. Sie besitzt eine sehr stilvolle Villa in Shrewsbury. Sie würde dir Vernunft beibringen und für dein leibliches Wohl sorgen.“

„Ich brauche keine Vernunft und kein leibliches Wohl“, rief Emily, und ihre Lippen zitterten. „Ich – ich will jemand, der mich liebt!“

„Du wirst dich schon benehmen müssen, wenn du willst, daß dich jemand mag“, bekräftigte Ellen. „Dabei ist ja alles gar nicht deine Schuld – dein Vater hat dich nur viel zu sehr verwöhnt. Wie oft habe ich ihm das schon gesagt, aber er hat nur gelacht. Ich kann bloß hoffen, daß es ihm jetzt nicht leid tut. Tatsache ist, Emily Starr, daß du ein eigenartiges Kind bist, und mit so einem Kind will niemand etwas zu tun haben.“

„Wieso bin ich eigenartig?“ wollte Emily gleich wissen.

„Du sprichst eigenartig, und du benimmst dich eigenartig, und manchmal hast du einen eigenartigen Blick“, erklärte die Haushälterin. „Und du bist zu erwachsen für dein Alter – obwohl das nicht deine Schuld ist. Das kommt davon, daß du nie mit anderen Kindern zusammen warst. Ich habe immer mit deinem Vater geschimpft und gesagt, er soll dich zur Schule gehen lassen, das ist doch was ganz anderes als zu Hause zu lernen – aber er hat sich natürlich nichts sagen lassen. Nichts gegen Bücher, aber du solltest lernen, dich wie andere Kinder zu benehmen. Deshalb wäre es gut, wenn du zu Onkel Oliver kämst, er hat eine große Familie. Aber er hat nicht soviel Geld wie die anderen, deshalb wird er dich kaum haben wollen. Vielleicht nimmt dich auch dein Onkel Wallace, der sich für das Familienoberhaupt hält. Er hat nur eine erwachsene Tochter. Aber seine Frau ist eine ziemlich empfindsame Person, zumindest tut sie so.“

„Am liebsten würde ich zu Tante Laura gehen“, meinte Emily sehnsüchtig. Vater hatte ihr ja einmal erzählt, daß Tante Laura ihrer Mutter ähnelte.

„Tante Laura!“ schnaubte Ellen abfällig. „Die wird wohl kaum etwas zu sagen haben. Elizabeth ist diejenige, die auf New Moon regiert. Jimmy Murray bewirtschaftet die Farm, aber er ist nicht ganz richtig, heißt es.“

„Wo ist er nicht ganz richtig?“ fragte Emily, die sofort neugierig geworden war.

„Himmel, irgendwo im Kopf eben. Er ist ein bißchen einfältig. Es heißt, er hätte in jungen Jahren einen Unfall oder so was gehabt. Seitdem ist er irgendwie verwirrt. Elizabeth war wohl in die Sache verwickelt, aber was Genaues weiß ich nicht. Ich glaube jedenfalls nicht, daß die Leute von New Moon sich mit dir abgeben wollen, sie sind ziemlich eigen. Ich kann dir nur raten, dich bei Tante Ruth beliebt zu machen. Sei höflich und benimm dich ordentlich, vielleicht findet sie dann Gefallen an dir. So, das Geschirr ist fertig. Jetzt geh lieber nach oben, damit du nicht im Wege stehst.“

„Kann ich Mike und Saucy Sal mitnehmen?“ fragte Emily.

„Nein.“

„Aber sie würden mir Gesellschaft leisten“, bettelte sie.

„Das ist mir egal, du kannst sie jedenfalls nicht mit hinauf nehmen. Sie sind draußen, und da bleiben sie auch. Ich habe keine Lust, überall im Haus hinter ihnen herzuwischen. Eben erst hab’ ich den Flur geschrubbt“, meckerte Ellen.

„Wieso hast du den Flur nicht geschrubbt, solange Papa am Leben war?“ fragte Emily. „Er mochte es, wenn alles schön sauber war. Früher hast du den Flur fast nie geputzt. Wieso jetzt plötzlich?“

„Hört, hört! Ich hab’ wohl mit meinem Rheumatismus nichts Besseres zu tun als ständig Flure zu schrubben! Verzieh dich jetzt lieber, und leg dich ein wenig hin.“

„Ich verziehe mich, aber hinlegen tue ich mich nicht“, erklärte Emily trotzig. „Ich muß über alles mögliche nachdenken.“

„Ich gebe dir einen guten Rat“, sagte Ellen pflichtbewußt. „Du solltest zu Gott beten, daß er aus dir ein ehrfürchtiges und dankbares Kind macht.“

Emily hielt am Fuß der Treppe an und drehte sich zu ihr um.

„Papa hat gesagt, ich soll mich nicht um deinen Gott kümmern“, verkündete sie ernst.

Ellen schnappte nach Luft und rang vergeblich nach einer Antwort auf diese heidnische Äußerung.

„Hat man so etwas schon gehört!“ brachte sie schließlich hervor.

„Ich weiß genau, wie dein Gott aussieht“, sagte Emily. „Ich hab’ sein Bild in deinem Buch über Adam und Eva gesehen. Er hat einen Schnurrbart und trägt ein Nachthemd. Ich mag ihn nicht. Aber Papas Gott, den mag ich.“

„So, und wie sieht der Gott von deinem Papa aus, wenn ich fragen darf?“ erwiderte Ellen bissig.

Emily hatte zwar keine Ahnung, wie er aussah, aber klein beigeben wollte sie auf keinen Fall.

„Er ist so hell wie der Mond, so strahlend wie die Sonne und so furchterregend wie ein ganzes Heer“, sagte sie triumphierend.

„Daß du aber auch immer das letzte Wort haben mußt, aber das werden dir die Murrays schon austreiben“, schimpfte Ellen. Mehr fiel ihr dazu nicht ein. „Die Murrays sind strenge Presbyterianer. Mit den komischen Vorstellungen deines Vaters wirst du da nicht weit kommen. So, jetzt marsch nach oben.“

Emily ging auf ihr Zimmer und fühlte sich sehr verlassen.

„Es gibt niemanden mehr auf der Welt, der mich mag“, sagte sie zu sich, als sie sich auf ihr Bett kauerte. Aber sie war fest entschlossen, nicht zu weinen. Die Murrays hatten schließlich ihren Papa abgelehnt, da sollten sie sie auch nicht weinen sehen. Sie haßte sie alle – bis auf Tante Laura vielleicht. Wie groß und leer die Welt plötzlich war. Alles war grau und öde. Wen interessierte schon der kleine Apfelbaum zwischen „Adam-und-Eva“, der in voller Blüte stand, oder die Hügel jenseits des Tals, die im Nebel seidig schimmerten. Die Narzissen, die im Garten blühten, die Birken, die voll goldener kleiner Quasten hingen, die Windsbraut, die kleine weiße Wolken über den Himmel blies – alles war ihr egal. Nichts konnte sie mehr begeistern, nichts sie trösten. Sie konnte sich auch nicht vorstellen, daß sich das jemals wieder ändern würde.

„Aber ich habe Papa versprochen, tapfer zu sein, und das werde ich auch.“ Emily ballte entschlossen die Faust. „Und ich werde den Murrays nicht zeigen, daß ich Angst habe vor ihnen – ich habe keine Angst!“

Jenseits der Hügel war in der Ferne das Pfeifen des Nachmittagszuges zu hören. Emily’s Herz fing an, schneller zu schlagen. „Bitte, lieber Gott, ich meine den von meinem Papa, nicht den von Ellen“, betete sie, „mach, daß ich tapfer bin und nicht vor den Murrays weinen muß.“

Bald darauf hörte sie, wie unten die Einspänner vorfuhren, dann vernahm sie Stimmen – laute, entschlossene Stimmen. Und dann kam Ellen mit dem schwarzen Kleid heraufgekeucht – ein dünnes Fähnchen aus Merinowolle.

„Mrs. Hubbard ist zum Glück rechtzeitig damit fertig geworden“, schnaufte sie. „Nicht auszudenken, wenn die Murrays dich nicht in Schwarz angetroffen hätten. So kann mir keiner nachsagen, ich hätte nicht meine Pflicht getan. Sie sind alle da – die Leute von New Moon, Oliver mit seiner Frau, deine Tante Addie, Wallace mit seiner Frau, deine Tante Eva und Tante Ruth – das heißt Mrs. Dutton. So, das Kleid paßt. Komm jetzt.“

„Kann ich nicht die venezianische Perlenkette anlegen?“ fragte Emily.

„Untersteh dich! Venezianische Perlen zum Trauerkleid! Schäm dich! Ist das der richtige Zeitpunkt, eitel zu sein?“ empörte sich Ellen.

„Ich bin nicht eitel!“ rief Emily.„Papa hat mir die Kette zu Weihnachten geschenkt, und ich möchte den Murrays zeigen, daß ich wenigstens etwas besitze!“

„Schluß jetzt mit dem Unsinn! Komm jetzt, hab’ ich gesagt! Und benimm dich! Von deinem Eindruck hängt schließlich einiges ab.“

Emily ging mit starrem Blick voraus bis ins Wohnzimmer. Acht Leute erwarteten sie dort, das waren sechzehn fremde Augen, die sie mit kritischem Blick musterten. In ihrem schwarzen Kleid sah Emily sehr blaß und unscheinbar aus; mit den dunklen Schatten, die noch vom Weinen herrührten, wirkten ihre Augen wie große schwarze Höhlen. Sie hatte schreckliche Angst – aber sie würde sich nichts anmerken lassen. Sie hielt den Kopf aufrecht und sah ihrem Schicksal tapfer ins Gesicht.

„Das hier ist dein Onkel Wallace“, sagte Ellen, packte sie bei der Schulter und drehte sie zu ihm herum.

Emily erschrak und streckte ihm ihre kalte Hand entgegen. Sie spürte sofort, daß sie Onkel Wallace nicht mochte, so finster und häßlich wie er aussah, mit seinen bösen, buschigen Augenbrauen und seinem grausamen Mund. Er hatte große Tränensäcke unter den Augen und einen schwarzen, scharfkantigen Backenbai t. In diesem Augenblick beschloß Emily ein für allemal, Backenbärte abscheulich zu finden.

„Tag, Emily“, sagte er kalt, und genauso kalt beugte er sich vor und küßte sie auf die Wange.

Emily war empört. Wie konnte er es wagen, sie zu küssen, wo er doch ihren Vater gehaßt und ihre Mutter verstoßen hatte! Seine Küsse konnten ihr gestohlen bleiben! Schleunigst holte sie ein Taschentuch hervor und rieb sich ihre feuchte Wange ab.

„Na – na!“ ertönte eine unangenehme Stimme mißbilligend aus der Ecke.

Onkel Wallace sah aus, als wollte er noch etwas Wichtiges sagen, aber es fiel ihm offenbar nichts ein. Mit einem Seufzer der Verzweiflung bugsierte Ellen Emily vor den nächsten Gast.

„Deine Tante Eva“, stellte sie vor.

Tante Eva war in einen dicken Schal eingehüllt und saß mit mürrischer Leidensmiene da. Sie gab Emily stumm die Hand. Auch Emily schwieg.

„Dein Onkel Oliver“, verkündete Ellen nun.

Onkel Olivers Erscheinung gefiel Emily schon besser. Er war groß und dick und hatte ein rosiges, lustiges Gesicht. Sie dachte, wenn er sie küssen würde, würde ihr das nicht soviel ausmachen, trotz seines stacheligen weißen Schnurrbarts. Aber die Szene mit Onkel Wallace war ihm wohl eine Lehre gewesen.

„Einen Groschen für einen Kuß“, flüsterte er ihr augenzwinkernd zu. Onkel Oliver glaubte, er könne mit einem kleinen Scherz Emily’s Zuneigung gewinnen, aber sie mißverstand ihn und erteilte ihm eine Abfuhr.

„Ich verkaufe keine Küsse“, sagte sie und warf stolz den Kopf in den Nacken, stolzer noch als alle Murrays zusammen.

Onkel Oliver gluckste und schien sich köstlich darüber zu amüsieren. Hinten in der Ecke rümpfte jemand hörbar die Nase.

Tante Addie war die nächste. Sie war genauso dick und rosig und hatte dasselbe gutmütige Gesicht wie ihr Mann. Sie erwiderte Emily’s kühlen Gruß mit einem freundlichen Händedruck.

„Wie geht es dir, Liebes?“ fragte sie nett.