Kapitel 6


Aparzi, 05:51 Uhr


Die Morgendämmerung brach über die ausgetrocknete Mondlandschaft herein. Gardner stoppte den Land Cruiser dreihundert Meter unterhalb des Rendezvous-Punktes. Der RV selbst befand sich auf einer plattformartigen quadratischen Anhöhe, schätzungsweise hundert Meter über dem Wüstenboden, am Rand eines Berges, der die Form eines abgebrochenen Knöchels hatte. Mit vierzig Quadratmetern war die Fläche groß genug für einen Helikopter, gleichzeitig aber auch hoch und unzugänglich genug, um neugierige Passanten abzuhalten.

»Endstation«, sagte Gardner über das metallische Knacken des abkühlenden Motors hinweg. »Den Rest müssen wir zu Fuß zu gehen.«

»Wie lang?«, fragte Bald.

Gardner sah auf seine Uhr. Eine MX10 Nite Watch, NATO-zertifiziert. Hands und Bald trugen das gleiche Modell. Zu Beginn der Mission hatten sie ihre Uhren synchronisiert. Das speziell beschichtete rostfreie Stahlgehäuse von Gardners Uhr war mit Sandkörnern bedeckt.

»Ankunft des Choppers in neun Minuten.«

Hands, der an dem Satellitentelefon herumnestelte, sagte: »Ich hoffe, sie sind pünktlich. Head Shed sagt, dass uns mindestens fünfzig Taliban auf den Fersen sind.«

Gardner kratzte sich seine entzündete Hand.

»Wo? Ich kann nichts erkennen.«

»Auf der anderen Seite der Berge. Kommen direkt auf uns zu.«

Gardner blickte stirnrunzelnd zu der Gebirgskette.

»Wie lange dauert es, bis sie hier sind?«

»Head Shed schätzt, etwa zehn Minuten.«

Bald stieß die Beifahrertür auf. »Dann sollten wir uns besser auf die Socken machen.«

Die Männer stiegen aus. Hands verstaute das Funkgerät in einem Rucksack und warf ihn sich über die Schulter. Gardner machte einen letzten Kontrollgang um den Wagen herum zum Kofferraum, um nachzusehen, ob sie auch nichts zurückgelassen hatten, und ließ die Kofferraumklappe aufschnappen. Darin befand sich eine Notfallausrüstung, bestehend aus vier Knicklichtern und einer Leuchtpistole, um ein Notsignal absetzen zu können.

»Mist«, murmelte Bald, trat näher an den Kofferraum heran und griff nach einem in Zeitungspapier eingewickelten Gegenstand, der neben der Notfallausrüstung lag.

»Hätte ich doch beinahe dieses Prachtstück vergessen.«

Gardner schüttelte den Kopf, als sein Partner den Gegenstand auspackte. Es handelte sich um eine Excalibur Ecocet 200 Jagdarmbrust, der Rahmen aus Kunstharz, in Wüstentarnfarbe bemalt. Die 20 Zoll-Pfeile flogen bis zu fünfzig Meter weit. Seit dem Tag, an dem Bald offiziell ein Blade war, hatte er darauf bestanden, die Armbrust mit zu den Einsätzen zu nehmen. Sie war so eine Art Glücksbringer für ihn. Er hatte die Excalibur so umfunktioniert, dass er damit Pfeile abfeuern konnte, deren Spitzen mit Acetonperoxid versehen waren – einem Initialsprengstoff, auch bekannt als APEX oder TATP, mit einer zeitverzögerten Reaktion von zwei Sekunden.

Bald griff nach der Kiste mit den Explosivpfeilen und tippte die Armbrust an.

»Ich hab vielleicht kein Gewehr, aber das Baby hier tut's auch«, sagte er.

Gardner sah, das Bald die Scheinwerfer in der Ferne nicht aus den Augen ließ. Er packte die mittelalterlich anmutende Armbrust mit der rechten Hand. Da war etwas in seinem Gesicht, das Gardner beunruhigte. Getrocknetes Blut klebte in Striemen an seinen Mundwinkeln wie das Make-up bei einem bösen Clown. Er sah Gardner in die Augen: »Erinnerst du dich noch an das Auswahlverfahren?«

Gardner erinnerte sich.

Phase Eins der Prüfung, die schroffe Landschaft der Brecon Beacons, Süd-Wales. Es goss in Strömen, als sich die durchgefrorenen und ausgehungerten Kandidaten der bislang härtesten Herausforderung ihres Lebens gegenübersahen – die Besteigung des unerbittlichen Pen-y-Fan, dem größten Berg des südlichen Wales, auf dem Weg zu ihrem nächsten Rendezvous-Punkt. Gardner hatte sich mit letzter Kraft bis zum Gipfel durchgekämpft. Als er oben angekommen war, hatte sich seine Lunge wie Sandpapier angefühlt, und seine Oberschenkel schienen nur noch aus Brei bestanden zu haben. In dieser ersten Phase hatte er Bald geschlagen, um ganze acht Minuten.

»Kinderkacke«, hatte Bald es am Ende des Auswahlverfahrens genannt.

Gardner fing an, den Berg hinaufzulaufen. Der Anstieg war hart. Der Untergrund bestand aus losem Geröll, und er hatte Mühe, sicheren Halt zu finden. So als würde man einen Salzberg besteigen. In dem Licht, dass die Streichhölzer auf seine Waden warfen, schätzte Gardner, dass die Steigung wenigstens fünfzehn Prozent betrug. Er lehnte sich nach vorn und tastete nach Felsvorsprüngen, um sich daran festzuhalten. Aber die Steine waren locker, zerbröckelten wie Kalk in seinen Händen, und die Sicht während der körnigen Morgendämmerung war schlecht. Bald war vor ihm, vierzig Meter weiter oben.

Gardner zog das Tempo an. Er war ausgelaugt und fragte sich, wie es Bald gehen mochte.

Und dann fielen ihm wieder die Gerüchte ein, die zu Hause die Runde gemacht hatten. Gerüchte, dass es unmöglich war, das Auswahlverfahren so leichtfüßig zu bestehen wie Bald es getan hatte. Dass er gemogelt hatte. Einer der durchgefallenen Kandidaten schwor Stein und Bein, er hätte gesehen, wie Bald ganz offensichtlich auf der Brecon Becon Route eine Abkürzung genommen habe. Head Shed hatte die Vorwürfe des Kandidaten abgewiesen. Jemand, der den Anforderungen nicht gerecht wurde, würde nur versuchen, miese Stimmung zu verbreiten, hieß es.

Gardner hatte gerade die Lücke zwischen sich und Bald auf zwanzig Meter verringert, als ein dumpfes Pfeifen durch die Luft zischte. Ffftt. Am oberen Rand der Bergkette, weit oberhalb der Evakuierungszone, war ein schwacher sternförmiger Blitz auszumachen. Erdreich stob direkt vor Gardner auf.

Sniper.

»In Deckung!«, schrie Bald. Die drei Operator ließen sich gleichzeitig zu Boden fallen. Gardner, den Oberkörper auf die Erde gepresst, schob vorsichtig seine AK vor sich.

Er kroch auf eine Gruppe von Steinbrocken auf zehn Uhr zu. Bald arbeitete sich ebenfalls zu der Deckung vor. Hands befand sich rechts von Gardner in einer flachen Mulde.

Ein zweites Ffftt. Der Schuss pfiff an Gardner vorbei. Nah genug, um die Hitze zu spüren, die von dem vorbeifliegenden Projektil ausging. Zwei Meter hinter ihm stob Erdreich auf. Der Scharfschütze schoss sich ein. Die Einschüsse kamen näher.

Gardner kroch so schnell er konnte auf die Felsen zu. Der Sniper hatte mit den ersten beiden Schüssen die Entfernung abschätzen können. Der dritte Schuss würde ins Schwarze treffen, und Gardner wusste das. Er war noch etwa sieben Meter von den Felsen entfernt. Schweiß rann ihm den Rücken hinab, heiß und klebrig.

Der dritte Schuss ertönte genau in dem Moment, als Gardner die Deckung erreichte. Die Kugel schlug dort ein, wo sich Gardner nur eine Sekunde vorher noch befunden hatte.

»Gerade noch rechtzeitig.« Bald grinste.

Der vierte Schuss folgte drei Sekunden später. Er schlug in die Steinbrocken ein und ließ einen Regen aus Granitsplittern auf Gardner und Bald niedergehen. Aber keiner der beiden geriet in Panik, stattdessen planten sie ihre nächsten Schritte. Gardner lauschte angestrengt nach dem Schussgeräusch. Dem dumpfen Ffftt nach zu urteilen hatte der Scharfschütze einen Schalldämpfer an sein Gewehr geschraubt. Das erklärte auch, warum kaum Mündungsfeuer zu sehen war.

»Der Kerl sitzt auf ein Uhr«, erklärte er.

»Hast du gehört, wie klar der Schuss war? Der Wichser ist keine zweihundert Meter weit weg.«

»Vielleicht hundertfünfzig?«

»Ja, vielleicht.«

Gardner suchte die Bergkette nach einem Punkt ab, an dem er seine Zelte aufgeschlagen hätte, um ein paar X-Rays auszuschalten.

»Da«, sagte er mit gedämpfter Stimme. »Der flache Felsvorsprung mit dem großen Felsbrocken.«

»Ich seh's«, antwortete Bald und spuckte auf den Boden. Der Schleim verschwand beinahe auf der Stelle in dem glühend heißen Wüstengrund. »Guter Winkel. Ausgezeichnete Deckung.«

»Die perfekte Schussposition.«

Sie starrten auf den Punkt und warteten.

Dann sahen sie ihn. Ein kohlrabenschwarzer Schatten löste sich aus der Deckung hinter dem großen Felsen und hielt mit schnellen Schritten auf einen anderen Felsbrocken weiter westlich zu, von dem aus er freies Schussfeld über die Steine hinweg haben würde, hinter denen Gardner und Bald kauerten.

»Wir müssen ihn ausschalten«, sagte Gardner. »Bevor die Wichser hinter den Bergen hier sind. Ich weiß nicht, wie's dir geht, aber mit nur einem Magazin gegen fünfzig von den Mistkerlen stehen unsere Chancen nicht allzu gut.«

»Spar deine Munition«, sagte Bald. »Um den Sniper kümmere ich mich.«

»Mit dem Ding da?« Gardner warf der Armbrust einen abschätzigen Blick zu.

»Sieh zu und lerne, Joe. Sieh einfach zu und lerne.«

Bald hatte immer wieder bewiesen, der Meisterschütze des Regiments zu sein. Die durchschnittliche Entfernung, die ein Armbrustbolzen mit etwa 100 km/h zurücklegen konnte, lag bei vierzig bis fünfzig Metern. Unter perfekten Rahmenbedingungen war ein erfahrener Operator in der Lage, ein Ziel in einhundert Metern Entfernung zu treffen. Bald hingegen zielte bei schlechter Sicht auf ein bewegliches Ziel über hundertfünfzig Meter weit entfernt.

Bald brachte sich in eine liegende Position und lehnte sich gegen die Steinbrocken. Er verlangsamte seine Atmung. Für eine gefühlte Ewigkeit der Stille nahm er den Sniper ins Visier. Dessen dunkle Silhouette war bereits fast hinter der nächsten Deckung verschwunden.

Dann hörte Gardner, wie der Bolzen mit dem Sprengkopf mit einem leisen Popp abgefeuert wurde. Er verfolgte die Flugbahn des Pfeils. Der Pfeil stieg hoch in die Luft, drehte sich dabei um die eigene Achse. Dann tauchte er steil hinab.

Der Bolzen durchschlug das rechte Bein des Schützen. Der schrie, ging in die Knie und umklammerte die Wunde. Er versuchte noch, den Pfeil herauszuziehen, als das TATP explodierte. Eine Rauchwolke hüllte den Mann ein. Dann implodierte sein Körper.

Hautfetzen, Knochenstückchen, Knorpel und verbrannter Stoff wehten zu Gardner und Bald herüber. Selbst im Halbdunkel konnten die beiden erkennen, dass von dem Schützen nicht viel mehr übrig geblieben war als ein großer blutiger Fleck und der Stumpf seines linken Beins.

Bald sprang auf die Füße.

»Das wollte ich immer schon mal machen.«

Hands näherte sich, das Funkgerät dicht ans Ohr gepresst.

»Geschätzte Ankunftszeit in dreißig Sekunden.«

»Wie weit sind die X-Rays noch entfernt?«

Hands gab die Frage an die Einsatzzentrale weiter.

»Sie kommen schnell näher«, berichtete er. »Um genau zu sein, müssten wir sie jeden Moment sehen können.«

Die drei Männer verdoppelten ihr Tempo und eilten den Berg hinauf, bis sie den Exfiltrationspunkt fast erreicht hatten. Die aufgehende Sonne tauchte die Plattform in violettfarbenes und rotes Licht. Gardner hatte selten zuvor ein so atemberaubendes Stück Land gesehen.

Der Chinook kündigte sich mit einem entfernten Wupp-Wupp an, dass schnell lauter wurde.

Gardner zerbrach die Knicklichter und gab jeweils eines davon an Bald und Hands weiter. Dann legten sie diese in Form eines W's aus, als Zeichen für den Chopper-Piloten, dass sie bereit waren für die Extraktion. Schnell schwoll das Wupp-Wupp zu einem ohrenbetäubenden Dröhnen an. Gardner legte den Kopf in den Nacken und sah den Chinook durch die schiefergraue Wolkenformation am Horizont brechen.

Aus dem Augenwinkel bemerkte er, wie sich etwa in der Mitte der östlichen Bergkette auf drei Uhr etwas bewegte. Zehn Umrisse zeichneten sich vor dem Himmel ab. Sie kamen einen felsigen Gebirgspfad hinab, kletterten um Felsblöcke herum und brüllten Gardner entgegen. Er schätzte, dass sie etwa dreihundert Meter entfernt waren. Zwei von ihnen hielten kurz inne und nahmen mit sporadischen Salven den Chinook unter Beschuss. Bei der Entfernung standen die Chancen jedoch besser, zweimal hintereinander im Lotto zu gewinnen als den Chopper zu treffen.

Der Chinook kreiste scheinbar teilnahmslos über dem Rendezvous-Punkt. Dann navigierte er direkt über die SAS-Männer und die Rotoren wirbelten Staub und Geröll zu einer gigantischen Windhose auf.

Gardner feuerte sechs schnelle Schüsse auf die Silhouetten ab. Beim sechsten Schuss zuckte er zusammen und ließ die AK-47 fallen. Seine linke Hand brannte wie Feuer. Er hob das Gewehr mit der rechten auf und untersuchte seine Linke. Er war kein Fachmann für Medizinfragen, aber es war eindeutig, dass er in beschissen ernsthaften Schwierigkeiten steckte. Seine Hand war lilafarben angeschwollen. Die beiden Löcher der Bisswunde hatten sich schwarz gefärbt und glotzen ihn wie die Augen eines Fischs an. Er konnte seine Fingerspitzen nicht mehr spüren. Seine Lippen waren taub, und wenn er die Augen schloss, tanzten wilde bunte Punkte vor seinen Augenlidern herum.

Das Schlangengift war in seine Blutbahn gelangt.

Der Chinook hatte unterdessen ein Marlow-Seil abgeworfen. Sie ließen sich von dem neuen RPX-System nach oben ziehen, Rapid Personnel eXtraction, dass aus einem besonders leichten Seil und einer Steigklemme bestand und über zwei integrierte Absicherungen verfügte. Das Seil wurde aus dem Chinook herabgelassen und holte die Operators dann über eine Winde wieder ein. Gardner signalisierte der Crew, dass sie ihn hochziehen sollten.

Die X-Rays kamen zu spät. Sie feuerten noch ein paar nutzlose Salven ab, die den Chinook aber weit verfehlten. Die Blades machten sich aus dem Staub, und es gab verdammt noch mal nichts, was die Taliban jetzt noch dagegen tun konnten. Game over.

Gardner hoffte nur, dass sie in Camp Bastion ein Gegengift haben würden.

Kapitel 14


09:59 Uhr


Das Gewehr war eine Colt Commando in miserablem Zustand. Hier und da blätterte Farbe ab, und braunes Klebeband bewahrte das Magazin davor, auseinanderzufallen. Der Mann, dem sie gehörte, trug einen feuerfesten Nomex-3-Ganzkörper-Kampfanzug von der Sorte, wie ihn das Regiment bei Nahkampfsituationen einsetzte.

Er schrie irgendetwas auf Portugiesisch. Hörte sich an wie ein brasilianischer Fußballkommentator.

»Ganz ruhig, Kumpel.« Gardner hob die Hände. Weiß der Teufel, was in dem Kerl vorgeht, dachte er, aber dessen Gesicht fasste es ziemlich gut zusammen: bebende Lippen, zusammengekniffene Augen, die hektisch die Umgebung musterten, die Colt Commando in den zitternden Händen. Wäre nicht das erste Mal, dass einem Mann am Limit aus Versehen die Waffe losging.

»Ich will keinen Ärger«, sagte Gardner.

Wie es aussah, hatte der Mann davon hingegen schon genug gehabt. Sein Gesicht war in einem erbärmlichen Zustand und hatte bereits einiges abbekommen. Über dem rechten Auge prangte eine tiefe Schnittwunde, und wenn er sprach, rann Blut zwischen seinen Zähnen hervor. Seine Haut war weiß. Gardner war noch keine sechs Stunden in Rio, hatte aber bereits das Gefühl, dass jeder braun gebrannter war als er mit seinem käsigen weißen englischen Arsch. Aber dieser Typ nicht.

»Sie sind Engländer?«, fragte der Polizeibeamte mit einem derart perfekten englischen Akzent, dass sich Gardner mit seinem Manchester Dialekt gleich ganz minderwertig vorkam.

Er nickte.

»Verschwinden Sie zurück an den Strand. Das hier ist keine Gegend für Touristen«, fuhr der Cop ihn an.

»Sagt wer?«

»BOPE«, antwortete der Mann und verlagerte sein Gewicht auf das andere Bein. »Captain Rafael Falcon, Second Squad. Wie heißen Sie?«

Gardner ließ die Hände sinken, ließ den BOPE-Captain aber nicht aus den Augen. Auf den ersten Blick konnte er den Mann schlecht einschätzen. Der Kerl wirkte angespannt, die Kiefer aufeinandergepresst, als würde er an einem verdammt großen Scheißhaufen arbeiten. Diesem Rupert fehlten die Nerven aus Stahl, die er seinen Leuten so gern abverlangte.

»Wie ich hörte, sind Ihre Leute gestern ganz schön in die Mangel genommen worden«, sagte Gardner lächelnd.

Falcons Gesicht verhärtete sich. »Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet.«

»Und welche war das noch mal?«

»Ich habe Sie gefragt, wie Sie heißen.«

»Joe Gardner.«

Falcon legte den Kopf in Nacken, was den Blick auf seinen dürren, blutverschmierten Hals freigab. »Gardner? Der Name kommt mir bekannt vor.«

»Ich bin ein Freund von John Bald.«

Falcons Gesichtsmuskeln entspannten sich und formten ein erleichtertes Lächeln. Die Art von Lächeln, das man aufsetzt, wenn man an einem heruntergekommenen Ort wie diesem auf einen Freund traf. Er nahm die Colt Commando herunter. Gardner verspürte den Wunsch, auf ihn loszugehen und ihn windelweich zu prügeln, entschied sich aber dagegen.

»John hat Sie erwähnt«, sagte Falcon. »Sie waren auch in der SAS?«

Gardner beantwortete die Frage mit einem vagen Schulterzucken. »Er ist ein alter Freund.«

»Er meinte, Sie seien ein guter Kämpfer. Einer der besten.«

Auf einem Dach etwa acht Meter nördlich von ihnen stapelten zwei Kids gebrauchte Autoreifen übereinander. Eines von ihnen förderte einen Kanister zutage und goss Benzin über die Reifen.

»John rief mich gestern an, sagte, er wäre in Schwierigkeiten. Dass die Lage brenzlig sei und er in der Favela festsitzt.«

»Welche Uhrzeit war das?«

»Gegen fünf, nach meiner Zeit. Also … was ist das hier … ein Uhr Ortszeit?«

Falcon dachte darüber nach. »Das kann stimmen. John hat uns oben in Florida geholfen, den Umgang mit Sprengtechnik zu üben. Gestern war er mit uns auf Patrouille, um das Gelernte in die Tat umzusetzen. John hatte kein Problem damit, sich die Hände schmutzig zu machen, wissen Sie. Wann immer es möglich war, ist er mit zu Missionen in die Favelas aufgebrochen.«

»Was zur Hölle ist passiert?«

»Erkläre ich später«, sagte Falcon ausweichend. »Zuerst mal müssen wir hier raus. Die Banden drehen durch. Meine Einheit hat sich zurückgezogen, um auf Verstärkung zu warten.« Er presste ein Lachen durch die Mundwinkel und schüttelte den Kopf. »Ob Sie's glauben oder nicht – wir verfügen über neunundvierzig caveirãos – Big Skulls, gepanzerte Einsatzfahrzeuge, aber nur zwölf davon funktionieren. Ich schwöre es Ihnen – wenn wir den Drogenkrieg verlieren, dann nur, weil wir nicht genügend Kurbelwellen und Getriebe haben.«

Aus den Reifen auf dem Dach schlugen Flammen. Tiefschwarzer, giftiger Rauch stieg gen Himmel. Gardner roch verbrannten Gummi. Wabernde Hitze ließ den Horizont flackern.

»Ihr Krieg interessiert mich einen Scheiß«, sagte er. »Ich will nur meinen Freund finden.«

»Von allen Offizieren fehlt seit gestern jede Spur. Neun Männer, einschließlich unseres Commanders, Paulhino Nava. Ich sage das nicht gern, aber wahrscheinlich sind sie alle tot. Und das schließt auch John mit ein.«

»Sie sind nicht der Erste, der mir das sagt. Aber wie dem auch sei, ich werde mich persönlich davon überzeugen. Wissen Sie, er ist ein guter Kumpel, und ich schulde ihm was. Warum nehmen Sie also nicht Ihre verfluchte Knarre runter und kümmern sich um Ihre eigenen Angelegenheiten?«

Falcon richtete den Lauf der Waffe auf den Boden, und Gardners Magen entspannte sich. »Ich bin von meiner Einheit getrennt worden«, sagte der Captain der BOPE. »Und John war Teil meines Teams.« Er klopfte Gardner auf die Schulter. »Ich helfe Ihnen, Ihren Freund zu finden. Wir bleiben zusammen. Auf die Art stehen unsere Chancen gegenüber den Gangs besser.«

»Das läuft so nicht«, sagte Gardner. »Ich arbeite allein, Kumpel.«

Falcon sah ihn schief an. »Sie hören sich an, als wüssten Sie, wo Sie hin wollen.«

»Ich hab da so eine Ahnung«, antwortete Gardner.

Falcon kräuselte seine geschwollenen Lippen. »Ok, und jetzt nehmen wir mal an, Ihre … Ahnung ist korrekt. Wo genau wollen Sie hin?«

»Nach Norden«, sagte Gardner und nickte vage zum höchsten Punkt der Favela, mehrere hundert Meter entfernt. Er wollte sich von einem Typen, den er vor wenigen Minuten erst kennengelernt hatte, nicht unnötig in die Karten sehen lassen.

»In Ordnung. Also sagen wir nach Norden. Und wie genau wollen Sie dorthin gelangen?«

Okay, Fuck. Falcon hatte recht. Zwischen Gardner und der Statue lag ein Irrgarten aus Gassen, sich kreuzenden Straßen, Treppen, die ins Nichts zu führen schienen, und übereinander geschachtelten Häusern. Eine Route zu finden war unmöglich. Wahrscheinlich würde er sich auf dem Weg nach Norden in diesem Labyrinth verirren.

»Ich kenne diese Favela besser als meine Frau«, sagte Falcon. »Sie können sie fragen, bei Schweinefleisch mit Bohnen und einem kalten Bier, wenn wir hier raus sind.«

Er legte seine schwarze Kampfweste ab und öffnete den Reißverschluss seines Kampfanzugs bis zur Mitte. Er schwitzte wie ein Araber bei der Zollkontrolle. Unter seinem Anzug trug er ein schwarzes T-Shirt, auf dem mit weißen Buchstaben »I belong to Jesus« stand. Er knotete sich die Oberteile an der Hüfte zusammen und zog sich dann die Schutzweste über sein T-Shirt.

»Was ist mit Ihrer Hand passiert?«

»Hatte einen Unfall mit dem Rasenmäher«, antwortete Gardner.

»Okay …« Falcon nickte skeptisch. »Kommen Sie, ich zeige Ihnen den kürzesten Weg.«

Er führte Gardner nach Norden, weg von den Leichen, eine steile, kräftezehrende Treppe hinauf. Der Weg war beschwerlich. Jede Treppenstufe war mit Schlamm bedeckt, ein Andenken an mehrere Erdrutsche. Die Gassen waren klaustrophobisch, manchmal nicht breiter als einen Meter. Gardner sah ein paar tote Menschen mit dem Gesicht nach unten auf dem Beton liegen, mit sauberen Einschusslöchern im Rücken. Wahrscheinlich auf der Flucht erschossen.

Ständig wechselte die Favela ihr Gesicht. Metallene Laufstege führten über Dächer hinweg. Wäscheleinen versperrten jegliche Sicht. Gardner hatte in Belfast, Bagdad und in Kabul gedient, aber so etwas hatte er noch nie gesehen.

Falcon flog die Stufen förmlich hinauf. Ganz offensichtlich hatte er Übung darin. Aber Gardner blieb an ihm dran. Entgegen anderen Ex-Blades versuchte er, in Form zu bleiben. Als Herumtreiber ohne feste Bleibe war seine direkte Umgebung sein Fitnessstudio gewesen. Tägliches Laufen, lange Spaziergänge, Liegestütze auf Parkbänken, Klimmzüge an Schaukelgerüsten. Gardner war sicher besser in Schuss als manche, die noch im aktiven Dienst waren. Seine letzte Flamme hatte immer gesagt, er sähe aus wie ein mit Walnüssen vollgestopftes Kondom.

Wieder kam ihm Afghanistan in den Sinn. Um 09:37 Uhr feuerten sie noch aus allen Rohren, er und der Typ neben ihm. Grant, der den Krieg gegen die Taliban am liebsten mit einer Hand gewonnen hätte. Um 09:38 Uhr hatte Grant anstelle von Beinen nur noch ein paar Oberschenkelknochen besessen. Sein bestes Stück war verbrannt, und sein Hodensack flatterte im heißen Wüstenwind. Überall aus seinem Bauch und seinem Hals ragten Schrapnell-Splitter. Durch die Explosion war Gardner benommen gewesen, bis zu dem Punkt, als er sah, dass er seine Hand verloren hatte, aber keinen Schmerz verspürte, und sich fragte, wie lange es dauern würde, bis er an dieser Wunde starb.

Das Standardprotokoll sah vor, zu warten, bis ein Suchteam mit Spürhunden zur Stelle war. Die Talibs waren gerissene Schweinepriester und versahen die IEDs oft mit zweiten Sprengsätzen, die jeden erwischten, der zuhilfe kam. So ein Suchteam brauchte seine Zeit; Zeit, die oft niemand hatte. Bald war über den ungeschützten Platz zu dem verbeulten WMIK-Jeep gerannt, hatte die Türen aufgerissen und Grant hinter sich her in Sicherheit geschleift, während er Gardner an der Schulter stützte. Sehnige, violette Eingeweide hingen aus Grants Körper und Bald versuchte verzweifelt, dass klaffende Loch in Grants Leiste zu schließen.

Gardner sah zu, wie sich die Kameraden um Grant scharten, der immer wieder nach seiner Mutter, seiner verdammten Mutter schrie. Als sie dem Jungen eine Überdosis Morphium verabreichten, spürte Gardner den Blutverlust seiner eigenen Wunde. Blaue und gelbe Punkte tanzten vor seinen Augen. Eine Stimme – die von Bald – sagte: »Keine Sorge, Kumpel. Medevac ist auf dem Weg.«

Falcon blieb am Ende der Treppe abrupt stehen und riss Gardner aus seinem Tagtraum.

»Stop«, sagte er. »Ich sehe etwas.«

»Was?«, flüsterte Gardner.

Keine Antwort.

»Rafa?«

Gardner ließ sich auf den Boden fallen und robbte zu Falcon hinüber. Vor ihnen öffnete sich die Gasse zu einem mit Schutt übersäten Platz. Ein paar eingestürzte Gebäude hatten die Freifläche künstlich erweitert. Das Gebiet war menschenleer. Wahrscheinlich gingen die Bewohner davon aus, dass auch die restlichen umgebenden Gebäude jeden Moment in sich zusammenfallen würden. Gardner musterte die Dächer und Fenster. Nichts bewegte sich, aber er kam nicht umhin, die Einschusslöcher zu bemerken, welche die Wände der meisten Häuser verzierten.

Dreißig Meter entfernt, auf sieben Uhr, parkte ein bulliger, schwarzlackierter Van am Rand einer kurvigen Straße, die im Zickzack durch die Favela führte. Die Straße war jedoch kaum als solche zu bezeichnen, vielmehr handelte es sich um eine Ansammlung aus Schlamm, Geröll und knietiefen Pfützen.

»Ein caveirão«, sagte Falcon. »Aus meiner Einheit.«

Ein meterhoher Trümmerbrocken aus Beton, aus dem Bleirohre ragten, versperrte dem Big Skull den Weg. Auf dem Dach des Fahrzeugs war ein verbogener Geschützstand zu erkennen. Offenbar hatte jemand eine Granate hineingeworfen. Zwei Leichen lagen neben dem Wagen. Gardner erkannte an der Art, wie sie positioniert waren – auf dem Bauch liegend, die Hände auf den Rücken gebunden – dass man sie mit einer Kugel in den Kopf hingerichtet hatte.

Gardner näherte sich den Leichen, um sie näher in Augenschein zu nehmen. Der Gestank war überwältigend. Wie ein Spanferkel, dass man durch Scheiße gezogen hatte. Er überprüfte die Namensschilder. ›SGT. EDILSON‹, ›SGT. CAMPOS‹. Als er bis auf acht Meter heran war, bemerkte er, dass den Leichen etwas fehlte.

Die Köpfe.

Er sah zwei Objekte ähnlich wie Rugby-Bälle, die man auf Metallpfosten gespießt hatte.

Wenn einer davon Johns Kopf ist, werde ich mir das nie verzeihen, dachte er bei sich.

Gardner blieb vor den abgetrennten Köpfen stehen. Man hatte ihnen die Augäpfel aus den Höhlen geschält und die Nasen, Ohren und Lippen abgetrennt. In den weit aufgerissenen Mündern steckten jeweils ein abgeschnittener Penis und ein Hodensack. Die Eier waren grünlich-braun verfärbt und mit ekelhaft glitzerndem roten Zeug verklebt. Fliegen surrten um sie herum. Maden wanden sich im Fleisch.

Er kehrte zu den geköpften Leichen zurück und entdeckte ein Pistolenholster an einer von ihnen. Er ging in die Knie und löste eilig den Schutzriemen über der Waffe. Browning Hi-Power. Bingo. Er brauchte dringend eine Waffe, und das war seine Gelegenheit, sich eine unter den Nagel zu reißen.

Die Browning Hi Power war eine klassische halbautomatische Handfeuerwaffe. Er entsicherte sie und ließ das Magazin herausschnappen, um zu sehen, ob sie geladen war. Die Browning war mit 9mm-Munition geladen, weitaus weniger durchschlagkräftig als 7.64x21mm oder .40 S&W-Patronen, mit denen man die Hi-Power ebenfalls laden konnte.

Er schob das Magazin wieder in den Griff zurück, stand auf und steckte sich die Browning in den Bund seiner Hose. Falcon hatte seine Angst heruntergeschluckt und sich ebenfalls den Leichen genähert.

An den Pfosten war ein hölzernes Schild angebracht worden.

Falcon las die Worte auf dem Schild laut vor: »Falta de Deus.«

»Schätze, das ist nicht Portugiesisch für Noch einen schönen Tag«, sagte Gardner leise.

»Es bedeutet: Die Abwesenheit Gottes. Sie sagen, dass alle gottlos sind.«

»Wer sagt das?«

»Eine der Banden.«

Falcon senkte den Kopf und bekreuzigte sich.

Selbst die Taliban waren nicht so grausam gewesen, dachte Gardner bei sich.

»Ihr Freund …«, begann Falcon.

Gardner runzelte die Stirn. »Vielleicht haben sie ihn als Geißel genommen. Um Lösegeld zu erpressen. So läuft das hier doch, oder?«

»Ja«, sagte Falcon, dem man ansah, dass er mit seinen Gedanken woanders war.

»Rafa, reißen Sie sich zusammen. Diese Gang – ist es möglich, dass sie John gefangen genommen haben?«

»Wenn sie Bald haben, ist er wahrscheinlich bereits tot. Und wenn sie uns finden, werden sie auch uns töten.«

»Nein, werden sie nicht, Kumpel. Nicht mit mir.«

»Sie verstehen nicht, mit wem Sie es zu tun haben. Das ist keine gewöhnliche Gang.«

Gardner fragte sich, wie Normalität an einem Ort wie diesen aussehen mochte. Wahrscheinlich so wie die kleinen Wichser, die den Officer geköpft hatten.

»Erzählen Sie mir von dieser Gang«, sagte er.

»Das war das Werk von Big Teeths Leuten.«

»Wer soll das sein?«

»Luis Oliveira. Die Leute nennen ihn ›Big Teeth‹. Er selbst lässt sich nicht in der Favela blicken, aber er ist der Kopf der größten Gang von Barbosa. Den Messengers of God – die Boten Gottes. Sie kontrollieren die Waffen- und Drogengeschäfte hier. Sein zweiter Mann ist ein Typ namens Roulette, und ich verwette Haus und Hof, dass das hier das Werk von Roulettes Killerkommando ist.«

Gardner musterte die nördliche Richtung. Schien ruhig zu sein. Aber er wollte es nicht darauf ankommen lassen. »Wir sollten von hier verschwinden, Rafa. Sonst laufen wir denen noch in die Arme und werden zu Gulasch verarbeitet.«

Er zog an Falcons Ärmel. Die Augen seines neuen BOPE-Partners waren auf einem Punkt hinter ihm gerichtet.

»Zu spät«, sagte Falcon. »Sie haben uns bereits entdeckt.«

Kapitel 20


13:41 Uhr


Die Schmerzen sind gar nicht so schlimm, dachte Weiss. Irgendwo hatte er einmal gelesen, dass die Schmerzgrenze bei Männern höher lag, ungeachtet der Tatsache, dass Frauen Kinder gebären mussten. Seine Toleranzgrenze, Schmerzen zu ertragen, lag sicher höher als bei den meisten anderen. Als sie ihm die Zehennägel herausgerissen hatten, hatte er nur daran gedacht, wie gut es sich anfühlen würde, sie dafür umzubringen.

Er schaute auf seine verbliebenen neun Zehen hinunter. Sie hatten ihm eine ordentliche Abreibung verpasst: Zehennägel, das abgeschnittene linke Ohr und die weichen, feuchten Wunden in seinem Mund, wo sich vor nicht mal einer Stunde noch vier perfekte Backenzähne befunden hatten.

»Na, Mr. Nadelmann, jetzt sind wir wohl nicht mehr so tough?«

Roulette saß auf dem Metallstuhl, eine Zigarre in der Hand. Swisher Sweets. Ein würziger Duft wehte durch die abgestandene Luft.

»Hätten Sie gern eine?«

»Ich rauche nicht«, antwortete Weiss.

Roulette sah zu seinen Gehilfen. Lakers hielt mittlerweile ein Teppichmesser in der Hand, Rolex eine Kneifzange. Weiss fragte sich bereits, wer von den beiden als Nächstes an der Reihe sein würde, als das Display an Roulettes Telefon aufleuchtete. Roulette las die Nachricht, grinste, und nickte Rolex zu.

»Ich muss mich um was Geschäftliches kümmern«, sagte er. »Wir machen mit der Kneifzange weiter. Big Teeth lässt ausrichten, dass ihr euch damit um seine Testikel kümmern sollt.«

Dann wendete er sich an Lakers. »Solange ich weg bin, kannst du schon mal die Säge holen. Bis Sonnenuntergang will Big Teeth seinen Kopf haben.«

Er lies den Rauch aus seinen Nasenlöchern steigen, dann erhob er sich.

»Viel Spaß noch, Nadelmann«, sagte er und ging. Lakers folgte ihm.

»Jetzt gibt es nur noch dich und mich«, sagte Rolex. Er ließ die Zange ein paar Mal auf und zu schnappen.

»Ich lass dir die Wahl. Finger oder Fußzehen?«

»Lass mich kurz darüber nachdenken«, antwortete Weiss.

Vor zwanzig Jahren, als frisch gebackener Auftragskiller, war Weiss ein beinahe fataler Fehler unterlaufen. Seine Zielperson hatte ein paar Schläger angeheuert, die ihm auflauern sollten, und wenig später hatte er sich gefesselt in einem Keller wiedergefunden. Nur der Geistesgegenwart eines Freundes war es zu verdanken gewesen, dass er den Tag überlebt hatte. Seitdem hatte Weiss Vorkehrungen getroffen für den Fall, gefangen genommen zu werden. Er trug ein zehn Zentimeter langes Messer in seinem Gürtel.

Aber da kam er nicht heran.

»Also, was soll's sein?«

»Dein Kumpel hat sich bereits an den Zehen ausgelassen«, sagte Weiss. »Also warum nicht die passenden Finger?«

Rolex schüttelte grinsend den Kopf. »Du bist echt ein durchgeknallter Mistkerl.«

Weiss hatte keine andere Idee, wie er aus der Nummer herauskommen sollte. Kein alternativer Fluchtplan. Wie gern wäre er in diesem Moment in einem James-Bond-Film gewesen. Dann würde er irgendwo an seinem Körper eines dieser lächerlichen Gadgets haben; vielleicht ein giftiges Spray, versteckt in seiner Armbanduhr.

Aber er trug nichts dergleichen bei sich, nur seinen Anhänger der Jungfrau von Guadalupe. Sie hatte ihn sicher durch sechshundert Morde begleitet. Weiss war Hunderten von Cops, anderen Auftragskillern, gewalttätigen Banden und rachsüchtigen Verwandten entkommen. Und jetzt war er wieder geschnappt worden. Vielleicht wurde er langsam zu alt für diese Arbeit. Das könnte durchaus sein letzter Auftrag werden. Er tröstete sich mit dem Gedanken, dass die Schmerzen vielleicht übel sein mochten, aber die Belohnung – die ganzen dreißig Millionen – sie wieder wettmachen würde.

Rolex baute sich vor Weiss auf. »Scheiße, Amigo. Wie's aussieht, hast du dich ziemlich übel vollgekotzt. Hast dein Hemd ruiniert.« Gelblich-braune säuerliche Flecken verzierten die Vorderseite seines Hemdes. Rolex stolzierte um ihn herum und blieb hinter ihm stehen. Die Kabelbinder an seinen Händen waren so fest gezogen, dass sie ihm die Blutzufuhr abschnitten und seine Finger bereits geschwollen waren.

»Jeez, schau sich einer diese Finger an … da haben wir dich ja schön fest gebunden«, sagte Rolex. »Wird mich wohl einige Versuche kosten, bis ich einen abbekomme.«

»Das ist deine letzte Chance«, warnte ihn Weiss. Er versuchte, selbstbewusst zu klingen, so als wäre er Herr der Lage. »Wenn du mich jetzt gehen lässt, verschone ich deine Familie. Ich kann dir nicht versprechen, dich am Leben zu lassen, aber deine Brüder und Schwestern und Eltern werden nichts zu befürchten haben.«

Rolex, der immer noch seine Finger untersuchte, lachte.

»Ich hab keine Familie, Mann. Wie wär's mit dem hier?« Er isolierte Weiss' rechten Zeigefinger von den übrigen. »Der Abzugsfinger, Amigo. Oder Spritzenfinger, in deinem Fall.«

Anstelle von Rolex Hand schloss sich nun etwas kaltes, metallisches um seinen Finger.

Von draußen waren Schritte auf der Treppe zu hören. Die Gorillas kamen zurück. Als sie ihn nach oben in diesen Raum geschleift hatten, hatte er die Treppenstufen gezählt. Zwölf Stufen. Sechs hatten sie bereits hinter sich gelassen.

»Nur noch eine Minute«, rief Rolex in Richtung der Tür, während sich die beiden Glieder der Zange um seinen Finger legten.

»Ich bin kurz davor, einen Deal abzuschließen«, sagte Weiss. »Dreißig Millionen. Hilf mir, und wir machen halbe-halbe. Fünfzehn Millionen für jeden.« Sein Stolz bewahrte ihn davor, zu betteln. Jene Opfer, die vor ihm zu einem wimmernden Häuflein Elend zusammengebrochen waren, hatten ihn immer angeekelt. Aber jemand, der wie Rolex am unteren Ende der Nahrungskette herumkrebste, würde bei einem solchen Angebot vielleicht anbeißen.

Rolex schnalzte mit der Zunge. »Bullshit.«

»Es stimmt, ich schwöre. Warum sollte ich sonst überhaupt hier sein?«

Rolex zögerte.

Die Schritte verstummten.

»Achtzig zu Zwanzig. Achtzig für mich.«

Die Tür ging auf.

»Fünfzig-fünfzig oder gar nichts …«

Gewehrschüsse krachten Weiss in den Ohren. Die Zange löste sich von seinem Finger, und er spürte, wie ihm etwas Feuchtwarmes ins Genick klatschte und dann langsam den Rücken hinunter rann. Entferntes Gewehrfeuer, von unten, am Fuße der Treppe. Stimmen von Frauen und Männern, die je von stakkatoartigen Salven aus Maschinengewehren unterbrochen wurden.

BOPE-Operators strömten in den Raum. Weiss zählte vier von ihnen. Als sie niemand anderen in dem Gebäude mehr fanden, kehrten sie wieder zurück. Plötzlich konnte Weiss seine Hände bewegen und ließ sie an der Seite herabhängen. Er spürte, wie das Blut wieder hinein flutete wie Wasser in einen Tunnel. Der Operator, der ihn befreit hatte, kniete sich neben ihn. Er trug ein Tuch vor dem Mund, um seine Identität zu verschleiern. Soweit er wusste, wohnten selbst einige Angehörige der BOPE in den Favelas.

»Sind Sie okay?« Er hatte grüne Augen und eine kupferfarbene Stirn.

»Ja, ja«, antwortete Weiss in perfektem Portugiesisch. Er wollte sich nicht wie ein Fremder anhören, denn jemand von außerhalb, der in der Favela herumspazierte, würde den Operator misstrauisch machen. Von irgendeiner Gang gefoltert zu werden, war hingegen an der Tagesordnung.

»Er ist jetzt tot. Die anderen auch.«

»Also … kann ich gehen?«

»Wer sind Sie?«

»Ich repariere Autos, das ist alles.«

»Dann schlage ich vor, Sie verschwinden. Wenn Sie einen Rat hören wollen – bleiben Sie von der Schule weg. Da treibt sich eine Gruppe von Messengers herum, und die werden nicht widerstandslos aufgeben.«

Weiss stand unsicher und schwankend auf. Er schaute sich um und erblickte Rolex, der seine Hände vor sein Gesicht geschlagen hatte. Zwischen seinen Fingern rannen zerlaufene Augäpfel wie gestocktes Eiweiß hindurch. Warmes Blut pulsierte aus einer faustgroßen Wunde an seinem Hals. Eine Kugel hatte seine Hauptschlagader durchtrennt. Er war noch am Leben, und sog in flachen Atemzügen Luft ein, die aus seiner Halswunde wieder entwich.

»Mach's gut, mein Freund.«

Weiss schnappte sich seinen Mantel und schlüpfte in seine Schuhe. Der rechte, der sich mit dem Blut füllte, dass aus seiner großen Zehe quoll, fühlte sich schnell glitschig an.

Er stieg die Treppenstufen hinunter.

Das Wohnzimmer hatte sich in eine Schießbude verwandelt. Zwei übergewichtige Frauen lagen zusammengesunken über einem Sessel neben dem Fernseher. Beide von Einschusslöchern durchsiebt. Weiss musste aufpassen, wohin er trat, denn Lakers lag mit dem Gesicht nach unten auf den Stufen. Die Einsatzkräfte der BOPE schienen Weiss zu ignorieren. Und warum auch nicht? So weit es sie anbelangte, waren die Messengers die einzigen Gegner in der Stadt.

Als er an der Eingangstür ankam, zuckte Weiss zusammen. Seine Hand fuhr an seine Schläfe. Ein enormer Druck hämmerte in seinem Kopf, und seine Ohren summten, als würden Wespen in seinem Kopf nisten. Für eine Sekunde schloss er die Augen und wartete darauf, dass der Schmerz abklingen würde.

Während er an seine Belohnung von dreißig Millionen Dollar dachte, schickte er ein Dankgebet an die Jungfrau Maria. Wieder einmal hatte sie ihm beigestanden. Und er erlaubte sich ein kleines Lächeln bei dem Gedanken daran, dass die BOPE nicht einfach nur einen Auftragskiller laufen ließ, sondern ihm effektiv sogar noch dabei half, seine Mission zu beenden.

Er machte sich auf den Weg zur Schule.

Kapitel 27


18:11 Uhr


Gardner kroch in einen Tunnel, der so eng war wie ein Sarg.

Sein Körper schlitterte in heißen, fauligen Abfall mit der Konsistenz von Schlamm. Die Mischung aus Scheiße und Pisse berührte sein Kinn, und er presste die Lippen zusammen und kämpfte gegen den Brechreiz an. Hier drin war es so eng, dass er die Ellenbogen an den Körper pressen musste, und trotzdem kratzen sie an den Wänden des Tunnels entlang.

Er robbte mit den Armen durch den Kanal, wobei seine Fäuste jedes Mal in die Brühe platschten und Jauche in sein Gesicht spritzte. Er konnte nicht anders, als durch die Nase zu atmen, und der Gestank war feucht, scheußlich und erinnerte an ein verbranntes Stinktier. Schartiges Licht aus den Kanaldeckeln erhellte vereinzelt die Scheiße, durch die er kroch. Er sah benutzte Kondome, blutige Tampons, Windeln, Klopapier und sogar einen Fötus. Aber das meiste davon war einfach nur Scheiße; eine braune Masse, die ihn glauben ließ, er würde hinter einem Esel mit einem schlimmen Fall von Montezumas Rache hinterher kriechen.

Mein Gott, wie lange werde ich wohl noch durch diese Scheiße robben müssen? Immer weiter, bis du aus der Favela raus bist, dachte er bei sich. Aber die Favela ist über eine Meile lang. Eine verdammte Meile! Bis zum Strand sind es zwei Meilen. Du musst von hier weg. Hier ist es nicht sicher. Nicht, wenn dir die BOPE auf den Fersen ist. Also was soll's?

Er kämpfte sich weiter voran. Der Abwasserkanal verlief schräg zu dem Bach direkt hinunter zum Strand. Hin und wieder schwappte eine mächtige Welle aus Exkrementen über ihn und zwang seinen Kopf gänzlich unterzutauchen. Scheißeklumpen verstopften ihm Ohren und Nase und trieben an seinen zusammengepressten Lippen vorbei.

Dann verschwanden mit einem Mal die Löcher zur Straße.

Und mit der Dunkelheit kam die Angst zurück.

Urplötzlich befand sich Gardner wieder in einem Torpedorohr während des Überlebenstrainings bei den Seestreitkräften. Er sah, wie sich die Luke schloss und die Dunkelheit so absolut war, dass er nicht einmal seine Hände sehen konnte. Das Rohr füllte sich mit Wasser, und mit dem Wasser kam das quälende Warten darauf, dass sich endlich die Torpedokammer öffnete und ihn ins Meer entließ.

Die Angst kroch ihm die Wirbelsäule hinauf und lähmte ihn. Mit jeder Sekunde, die verging, kostete es ihn mehr Überwindung, weiterzukriechen. Jeder einzelne Muskel seines Körpers schien seinen Dienst zu versagen. Der irrationale Teil seines Verstandes wollte, dass er beim nächstgelegenen Loch nach draußen kroch, doch er kämpfte dagegen an. Nein, du musst weitermachen. Wie ein Höhlenforscher. Je dunkler es wird und je tiefer du dich in den Berg hinein begibst, um so näher bist du der anderen Seite.

Er hatte sein Zeitgefühl verloren. Es war unmöglich einzuschätzen, wie weit er bereits gekommen war oder wie viel noch vor ihm lag. Es kam ihm so vor, als würde er in einer endlosen Grube versinken. Der Pegel in dem Abwassertunnel stieg an und reichte ihm nun bis zur Unterlippe. Er fürchtete, zu ersticken und unterzugehen.

Da war ein Quieken. Er sah ein Licht, Weiß und unwiderstehlich, wie ein heranrasender Zug. Der Ausgang. Der Lichtschein verlieh ihm neue Kraft. Er beschleunigte sein Tempo. Dann wurde das Quieken lauter und er sah ein Rudel Ratten vor dem Loch, das nach draußen führte. Die Biester hatten sich auf einem Jauchehaufen versammelt. Er näherte sich dem Ausgang. Die Ratten waren aufgeregt. Sie rannten in dem Loch herum, sprangen ihm auf die Hände. Eine landete auf seinem Kopf, und er schüttelte sich wild hin und her, schrie, die Ratte krallte sich in seinen Haaren fest, aber alles, was er wollte, war diesem Tunnel zu entkommen und wieder frische Luft zu atmen, und deshalb kletterte er aus dem Loch und blinzelte ins Sonnenlicht.

Er war draußen.

Die Ratten stoben wie Billardkugeln nach dem Anstoß auseinander, und Gardner sah sich um.

Der Abwassertunnel hatte ihn in einer Seitenstraße eines Wohngebietes ausgespuckt. Eine Mülldeponie hatten die Ratten angelockt. Er folgte der Gasse bis zur Hauptstraße.

Weiß getünchte Villen, hellbraune Apartmenthäuser und Kolonialarchitektur. In einiger Entfernung ließ sich der Corcovado ausmachen. Du bist über eine Meile Scheiße durchgekrochen, dachte er.

Einem Straßenschild entnahm Gardner, dass er sich in der Rua Alfredo Chavez befand. Ausgehend von der Google Map von Rio, die er sich eingeprägt hatte, war das im Humaitá Bezirk, östlich der Statue und außerhalb der nördlichen Favelas wie Barbosa, Santiago und allen anderen. Eine Uhr vor einem Laden verriet ihm, dass es Viertel nach acht Uhr abends war. Die arbeitenden Menschen waren mittlerweile daheim, nur noch wenige befanden sich auf den Straßen.

Wenige, aber noch genügend. Auf der anderen Straßenseite warf ihm ein hellhäutiges Mädchen um die zwanzig einen angewiderten Blick zu und lief schnell weiter. Gardner sah an sich herab und verstand, warum. Er von oben bis unten mit Scheiße beschmiert. Ein Teil davon begann aufgrund der Hitze bereits auszuhärten.

Zeit für ein Bad, dachte er. Er überquerte die Rua Humaitá, lief ein Labyrinth aus engen Straßen mit Bungalows mit blauen und grünen Türen entlang, zog die Blicke der Einheimischen auf sich und erreichte die Rua Real Grandeza. Vorbei am São João Batista Friedhof, dessen geflügelte Engelsstatue über die Gräber wachte, dann für weitere hundert Meter nach Süden bis er die Avenida Atlantica erreichte und den Strand der Copacabana.

Er stolperte über den heißen leinsamenfarbenen Sand. Um diese Zeit war hier nicht mehr so viel Andrang wie tagsüber. Die Touristen saßen irgendwo oberhalb in den Restaurants. Barbusige Mädchen hielten sich die Hände vor ihre Oberweite, und durchtrainierte junge Männer in grellen Strandhosen unterbrachen ihr Fußballspiel und starrten ihn an. Eine Gruppe Teenager ließ einen Joint herumgehen und deutete zu ihm herüber. Gardner ließ sich davon nicht beeindrucken. Er starrte unbeirrt auf das Meer vor ihm, türkis und mit Schaumkronen wie auf einem Cappuccino. Die Strömung spülte um seine Füße. Er schlurfte in den Atlantischen Ozean hinein und schwamm gut hundert Meter weit hinaus bis zu einem Punkt, an dem ihn keiner mehr störte. Dort ließ er seinen Körper von dem kühlen Wasser reinigen.

Als er damit fertig war, sich zu waschen, brach er in der Mitte des Strands zusammen und ließ seine nassen, schmutzigen Klamotten von der untergehenden Sonne trocknen. Scheiß drauf, dachte er. Das war verdammt knapp gewesen. Er war nach Rio gekommen, um seinen Kumpel zu retten, aber der Mann, den er einmal voller Stolz seinen besten Freund nannte, hatte ihn reingelegt und in einen Hinterhalt gelockt. Doch er war entkommen. Jetzt lag er an einem paradiesischen Strand, umringt von barbusigen Frauen mit Hintern, bei denen jedem erwachsenen Mann die Tränen gekommen wären. Eines der Mädchen, schwarzhaarig, mit Augen wie Topaz, erregte ganz besonders sein Interesse. So groß, die Titten müssen einfach unecht sein, dachte er bei sich. Aber wie auch immer, er genoss den Anblick.

Gardner lachte. Dann schloss er die Augen. Sandkörner wehten über sein Gesicht hinweg, verfingen sich in seinen Augenbrauen und seiner Nase. Für eine Weile bestand seine Welt nur aus Dunkelheit.

Dann wurde es plötzlich kühler. Er öffnete die Augen und sah über sich einen Schatten.

Kapitel 33


21:45 Uhr


Petty Officer Stephanie Wright stand vor der Tür zu Zimmer 39 und versuchte, sich in den Griff zu bekommen. In ihrem Kopf schwappten vier große Gläser Zinfandel Rosé umher wie die raue See, und es fiel ihr schwer, sich zu konzentrieren. Wow, dachte sie, während sie versuchte, einen Schluckauf zu unterdrücken. Die Barkeeper in Gibraltar waren alles andere als knauserig.

Sie wollte anklopfen. Zögerte. Ihre Fingerknöchel warfen einen gezackten Schatten über den Türspion.

Zu Anfang hatte das Angebot verlockend gewirkt. Sie sollte das Paket mit an Bord der Fregatte nehmen, in ihrem Spint verstauen – was gar nicht so einfach war, denn der Senior Service war ziemlich knauserig in Bezug auf Platz in den Spinden, außerdem gab es noch diese endlosen Bekleidungsvorschriften für die durchschnittlichen weiblichen Marinemitglieder – es auf der anderen Seite wieder hinausschmuggeln und die Bezahlung kassieren.

Anfänglich sieht immer alles anders aus, dachte sie. Anfänglich schien es auch eine gute Idee gewesen zu sein, Danny zu heiraten, den Jungen, den sie zwei Wochen vor ihrem sechzehnten Geburtstag kennenlernte. Danny, der bereits wie ein Mann aussah, obwohl er noch lange keiner war. Der sich in ihrer Hochzeitsnacht eine Spur Koks nach der anderen reingezogen hatte und in ihren Flitterwochen auf Korfu mit den Hotelangestellten flirtete.

Anfänglich schien es eine gute Idee zu sein, zur Navy zu gehen.

Na ja, Selbstmitleid brachte sie auch nicht weiter. Sie hatte bereits beschlossen, dass sie nicht zu Danny zurückkehren würde. Und was die Idee anging, seine Schulden von zwanzig Riesen mit dem Geld aus diesem Job zu bezahlen … nun, das konnte er vergessen. Nein, ihr Leben gehörte von nun an ihr und niemand anderem.

Sie klopfte viermal gegen die Tür, machte eine kurze Pause, und klopfte noch zweimal.

Der Stress der vielen Runden zurück zur Lizard hatte sie ausgelaugt. Immer wieder zur ihrem Spind zurückzukehren und zu warten, bis sich der Strand lichtete.

In dem schmalen Schlitz zwischen Tür und Teppichboden erschien ein Schatten.

Er steht auf der anderen Seite, dachte sie bei sich und atmete tief durch. John Bald machte ihr Angst. Was seltsam war, wenn sie genauer darüber nachdachte. John war ruhig und sprach mit sanfter Stimme. Vielleicht erinnerte er sie an ihren Vater. Der konnte in einer Minute noch der netteste Mann der Welt sein und eine Sekunde später ihrer Mutter den Kopf einschlagen.

Die Tür ging auf, aber sie blieb stehen.

»Willst du nicht reinkommen?«

John, dessen Statur den Türrahmen ausfüllte, mampfte einen roten Apfel.

Wright blieb wie angewurzelt stehen und musterte angestrengt den Flur. Niemand da.

»Das ist das letzte Paket.«

»Warum erzählst du das nicht gleich der ganzen Welt?«

Beschämt ließ sie die Augen auf den Teppich sinken.

»Ich mach nur Spaß, Mädchen. Du bist zur richtigen Zeit gekommen. Ich hab den Zimmerservice für uns bestellt.« Er schob sich das Kerngehäuse mit Stiel in den Mund. »Ich hoffe, du magst Fisch, aber ich dachte, da du eh die meiste Zeit auf einem Schiff zubringst …«

Sie roch Zwiebeln und Thunfisch. Ihr Magen begann zu knurren. Gott, bin ich hungrig. Vor lauter Eile, das Kokain loszuwerden, hatte sie in den letzten vierundzwanzig Stunden keinen Bissen zu sich genommen.