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© 2017 Gerth Medien GmbH, Dillerberg 1, 35614 Asslar

ISBN 978-3-96122-236-0

Umschlaggestaltung: Hanni Plato

Umschlagfoto: Masterfile, Dale Wilson

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel GmbH, Köln

www.gerth.de

Für Malin Büchle

Historische Personen

Catesby Jones, Thomas (24. April 1790–30. Mai 1858) US-amerikanischer Marineoffizier

Jackson, Andrew (15. März 1767–08. Juni 1845) Generalmajor (Krieg 1812), später: 7. Präsident der USA

Lafitte, Jean (ca. 1780–1826) Der Geburtsort der Lafitte-Brüder Jean und Pierre ist unsicher. Offenbar kamen sie irgendwann nach Haiti, später zog es sie in die USA. Bald schon waren sie gefürchtete Piraten in der Karibik. Nach der Schlacht um New Orleans wurden sie durch den Präsidenten begnadigt.

Madison, James (16. März 1751–28. Juni 1836) 4. Präsident der Vereinigten Staaten, Autor großer Teile der Verfassung der Vereinigten Staaten.

Porter, David (1. Februar 1780–03. März 1843) Kommandant der Marinestation New Orleans, Louisiana, Captain

(Im Roman musste ich zeitlich ein bisschen schummeln. Porter befand sich während des Brandes von Washington vermutlich noch auf dem Heimweg aus britischer Gefangenschaft.)

Die Mannschaft der Silver Eagle

Bonner, Dr.

Schiffsarzt

Camden

„der Weißblonde“, von Adamson verdingt

Classen

dritter Offizier, Lieutenant

Fraser

„der Bucklige“, von Adamson verdingt

Gerald

ältester Schiffsjunge

Huntley

Seemann unter Marlons Kommando

Harry Carrefour

Küchengehilfe

Jackson

verletzter Seemann in Emilys Pflege

Kern

Steuermannsmaat, Gehilfe des Steuermanns

McClellan

Mannschaftsschiffskoch

McPherson

verletzter Seemann in Emilys Pflege

Marlon Montiniere

Midshipman, Lennarts jüngerer Bruder „Midshipmen“, früher Seekadett, werden nach der Lehrzeit und bestandener Prüfung Schiffsoffiziere. „Midshipman“ deshalb, weil sie ihre Unterkunft zwischen den Mannschaften im Bug und den Offizieren im Heck hatten.

Miller

Schiffsjunge/Küchenjunge

O’Conner

Profos Für die Strafverfolgung und -vollstreckung zuständiger Militär.

Prenton

Bootsmann Verantwortlich für den Unterhalt der technischen Ausrüstung eines Schiffes, dem Kapitän bzw. dem Ersten Offizier direkt verantwortlich.

Spencer

Bootsmannsmaat Gehilfe des Bootsmanns

Sutton

Erster Offizier, Lieutenant

Tucker Thurgood

Obersteuermann, Freund von Lennart Leitendes Mitglied der Besatzung, für die Navigation des Schiffes verantwortlich. (Der Rudergänger bedient auf Anweisung das Ruder.)

Wall

Feuerwerker (früher: Büchsenmeister) Für alles verantwortlich, was mit der Bewaffnung zu tun hat.

Einleitung

Der Zweite Unabhängigkeitskrieg begann am 18. Juni 1812 mit der Kriegserklärung der USA an das Vereinigte Königreich.

Dieser waren jahrelange Querelen vorausgegangen, unter anderem wegen der Zwangsrekrutierung US-amerikanischer Seeleute in die britische Royal Navy und wiederholter Angriffe der britischen Flotte auf US-amerikanische Schiffe. Des Weiteren nannte Präsident James Madison die Blockade der US-Häfen sowie das Verbot, mit Europa Handel zu betreiben, als Grund für die Kriegserklärung. (Europa war von Napoleon besetzt, gegen den die Briten, Russland, Preußen, Österreich und weitere Staaten Krieg führten.)

Der Landkrieg fand hauptsächlich entlang der kanadischen Grenze statt. Die letzte Schlacht – um New Orleans – wurde im Januar 1815 ausgetragen, obwohl bereits am 24. Dezember 1814 in Gent ein Friedensvertrag geschlossen worden war.

Im Seekrieg gegen die Briten, bis dahin die unbesiegbare Seestreitmacht schlechthin, gelangen den US-Amerikanern ein paar überraschende Siege. Die Folge war, dass die Briten ihre Bemühungen um die Aufrechterhaltung der Seeblockade erhöhten und vermehrt den Kampf gegen US-amerikanische Kaperschiffe aufnahmen.

Diese Kaperschiffe waren Privatschiffe, deren Eigner einen Kaperbrief der Regierung ausgestellt bekommen hatten, der es den Freibeutern (franz: corsaire = Korsar) erlaubte, ungestraft feindliche Schiffe zu überfallen. Sie segelten sogar bis an die englische Küste.

Das im Roman beschriebene Kriegsschiff Silver Eagle, deren Besatzung und ihr Geheimauftrag entstammt ausschließlich meiner Fantasie.

Prolog

Februar 1797

Die junge Frau unterdrückte einen Aufschrei, indem sie sich so kräftig auf die Lippe biss, dass es schmerzte. Am Fuße der Treppe griff ihr Gast mit beiden Händen nach dem Messer, das in seinem Leib steckte, und kippte röchelnd vornüber.

Fassungslos und unfähig, sich zu bewegen, betrachtete sie den sich windenden Körper und die sich rasch ausbreitende Blutlache. Sie schimmerte im flackernden Kerzenlicht so rot wie der Rubin an ihrem Finger.

Ihr Ehemann hob den Kopf und starrte sie mit wütend zusammengezogenen Augenbrauen an. Es lag keine Spur von Erschrecken auf seinem Gesicht; nur die blanke, ihr allzu vertraute Wut.

Sie wirbelte herum, raffte ihr nachtblaues Kleid und rannte die Stufen hinauf. Ihre Rippen sandten dabei schmerzliche Signale aus – ein Andenken an die letzte Prügelattacke ihres Gatten. Die Polonaise*, die sie sich übergezogen hatte, bevor sie die Wohnräume in Richtung Weinkeller verlassen hatte, wehte hinter ihr her. Sie wollte nur noch fort. Fort von dem gewalttätigen Ehemann; fort von dem Mörder, der er an diesem kalten, dunklen Februarabend geworden war.

Ihre Schuhe klapperten über die vom Mond beschienenen, nass glänzenden Pflastersteine des Hofs, trommelten ihre Angst in die Welt hinaus. Sie flüchtete zu der Nebenpforte in der Mauer, in dem Wissen, dass sie unverschlossen war. Ihr Ehemann nutzte sie für seine heimlichen Ausflüge, ebenso gewährte sie den Unbekannten Einlass, die zu den geheimen Zusammenkünften kamen.

Ihre Hand zitterte, als sie den Knauf umgriff. Die Tür sprang lautlos auf. Wie ein Schatten huschte die junge Frau durch den Spalt und schlug, ohne sich umzusehen, die Holztür hinter sich zu. Mit hastigen Schritten, das Kleid weit hochgerafft, hetzte sie an der Mauer entlang. Lange Grashalme streiften ihre Beine, hinterließen nasse Spuren, ähnlich wie die Tränen auf ihren Wangen. Sie stolperte mehrmals über Bodenunebenheiten und Wurzeln und musste sich mit einer Hand an den kalten, rauen Mauersteinen abstützen.

Jetzt kam es ihr zugute, dass sie gern die umliegenden Berge und Hügel erklomm und selbst an Regentagen oft in den weitläufigen Treppenhäusern des Herrenhauses unterwegs war. Doch plötzlich vernahm sie hinter sich das Trommeln von Pferdehufen. Ihr Gatte folgte ihr auf dem Reittier des von ihm Ermordeten.

Gehetzt blickte sie zurück. Ihre langen Haare peitschten ihr ins Gesicht. Dennoch sah sie, wie ein riesiger Schatten bedrohlich schnell näherkam. Aus den Nüstern des Pferdes stiegen Atemwolken hervor. Vom orangefarbenen Mondlicht beschienen, erinnerten sie an den feurigen Atem eines Drachen aus alten Legenden.

Das triumphierende Lachen ihres Ehemanns jagte ihr einen Schauer über den Rücken, trieb sie gleichzeitig aber auch zu noch größerer Geschwindigkeit an.

Kräftig hob und senkte sich ihre Brust. Ihre Lungen begannen in der kalten Nachtluft zu brennen. Doch sie würde nicht aufgeben! Sie war Zeugin eines Mordes geworden. Er würde sie einsperren – oder ebenfalls umbringen!

Flink tauchte sie unter den niedrig hängenden Ästen einer uralten Linde hindurch. Gleich darauf zwängte sie sich zwischen winterkahle Zweige einer jungen Weide. Ihr Überkleid blieb hängen, dann riss es.

„Ich kriege dich!“, brüllte ihr Verfolger. Der Hass in seiner Stimme ließ sie aufstöhnen. Er würde sie quälen … Wie so oft!

Sie rannte über eine steil abfallende Wiese auf ein nahes Waldstück zu. Wenn sie nur unbehelligt dorthin gelangte! Sie hoffte, dass er ihr mit dem Pferd nicht durch das dichte Unterholz folgen würde.

Die Hufschläge wechselten zu einem schnelleren Rhythmus. Die Erde schien unter dem Trommeln zu beben. Panisch wandte sie den Kopf nach hinten. War ihre Flucht über die freie Wiese ein Fehler gewesen? Der Reiter hatte sie fast eingeholt. Erneut sah sie den orangefarbenen Atem vor den Nüstern und die weit aufgerissenen Augen des Pferdes. Das triumphierende Lachen ihres Gatten drang wie ein schmerzender Pfeil in ihr Herz.

Sie warf sich herum und stürzte zwischen zwei auf der Wiese nahe nebeneinander stehenden Eichen hindurch. Mit jedem Atemzug schickte sie ein Stoßgebet gen Himmel. Plötzlich hörte sie hinter sich einen dumpfen Schlag, dem ein Schmerzensschrei folgte.

Sie rannte weiter, ohne sich umzudrehen. Das Pferd donnerte an ihr vorbei. Ohne Reiter. Hatte er die untersten Äste der Eichen übersehen? Es war ihr gleichgültig. Beinahe hoffte sie, er hätte sich das Genick gebrochen.

„Wo willst du hin, du nichtsnutziges Stück? Du wirst als Hure enden!“, brüllte er in dem Augenblick, als sie den Wald erreichte. Das Pferd war ganz in ihrer Nähe stehen geblieben. Jetzt bedauerte sie, dass sie nie reiten gelernt hatte. Auf dem Tier könnte sie wesentlich schneller fliehen und viele Meilen zwischen sich und diesen grausamen Menschen bringen!

So aber blieb ihr nichts anderes übrig, als sich in das Unterholz zu zwängen. Niemand folgte ihr. Sie war allein. Umgeben von stoisch dastehenden schwarzen Kiefern, modriger Erde und der eisigen Nässe, die in ihre Kleidung drang.

Erst nach einer ganzen Weile blieb sie keuchend stehen und wandte sich um. Weit entfernt glaubte sie, den Lichtschein aus einem Fenster im Herrenhaus zu sehen. Es sah so einladend aus. Nach Wärme … Doch dann spürte sie wieder die Schmerzen, die er ihr zugefügt hatte, sah sein feistes Gesicht vor sich und die Szene, wie er dem Gast das Messer in den Leib rammte.

Sie drehte sich um und versuchte, sich in dem dunklen Wald in Luft aufzulösen.

* hier: „Zweite“ Polonaise: Kleid; da vorn weit geöffnet, musste darunter ein anderes Kleid getragen werden.

1814

Kapitel 1

Meterhohe Flammen schlugen zischend und brodelnd in den nachtschwarzen Augusthimmel. Sie verbreiteten neben einer fast unerträglichen Hitze, beißendem Qualm und einem hellen Lichtschein das schmerzliche Gefühl der Demütigung: Den britischen Truppen war es gelungen, ins Herz der Vereinigten Staaten vorzudringen. Gezielt hatten sie Regierungsgebäude und das Wohnhaus des Präsidenten in Brand gesteckt.

Lieutenant Lennart Montiniere kam soeben von der Marinewerft am Anacostia River. Seine Landsleute hatten dort eigenhändig Feuer gelegt, um zu verhindern, dass die bereitstehenden Ausrüstungsgegenstände sowie die US-Fregatte Columbia in die Hände des Feindes fielen.

Obwohl Lennart es eilig hatte, nahm er sich die Zeit, zwei kleine Mädchen in hübschen Sommerkleidern über ein provisorisch errichtetes Hindernis zu heben. Das eine Kind, kaum älter als 6 Jahre, sah ihn mit seinen großen, braunen Augen so ängstlich an, dass sein Herz sich zusammenzog. Er litt mit den Kindern, die auf der Flucht vor den Flammen und den britischen Soldaten waren. Seine Uniform flößte dem Kind offenbar Angst ein. Tränen, vom Feuerschein golden beschienen, kullerten über die Pausbacken, als es aus Leibeskräften nach seiner Mutter schrie.

Rasch half Lennart auch der verstörten Mutter über das nutzlose Bollwerk. Sie brachte kein Wort des Dankes hervor, nickte lediglich und ergriff ihre Töchter fest bei den Händen. Eilig folgte die kleine Familie den anderen, die ein Übergreifen des Feuers auf weitere Häuser befürchteten und das Weite suchten.

Lennart strich sich über das glattrasierte Gesicht. Sein Magen schien sich verknotet zu haben. Dieser Krieg war längst kein Kräftemessen zwischen Soldaten beider verfeindeter Nationen mehr, sondern riss Frauen und Kinder in seinen Schlund. Zornig presste er die Lippen zusammen. Er war Soldat! Ein Offizier der Vereinigten Staaten! Ihn sollte die kurze Episode an der Barrikade nicht dermaßen aus der Bahn werfen!

Der junge Lieutenant zur See straffte die Schultern und setzte seinen Weg fort; die Hand behielt er auf dem Griff seines Säbels. Grimmig betrachtete er die zersprungenen Fensterscheiben und die vom Feuer umschlungenen Überreste des Finanzministeriums. Schließlich entfernte er sich von dem wild züngelnden und laut fauchenden Flammenmeer.

Ein Trupp amerikanischer Soldaten näherte sich ihm im Marschschritt und mit knallenden Stiefelabsätzen. Die Ascheschicht auf ihren Uniformen erzählte davon, wie nahe sie den Brandherden gekommen waren, ihre Augen hingegen verrieten die Schmach, die sie über die Niederlage empfanden. Während die Städte im Umland den Angriffen der Briten standhielten, war ausgerechnet Washington D. C. von ihnen überrollt worden …

Der Anführer der kleinen Einheit, ein Mann mit Mannschaftsdienstgrad, grüßte vor dem Offizier. Lennart erwiderte den Gruß knapp, verdeutlichte dann aber mit einer Handbewegung, dass der Trupp seinetwegen nicht aufgehalten werden sollte. Die Soldaten hatten zu tun. Womöglich befanden sich noch immer Menschen in den von den Flammen bedrohten Häusern. Außerdem durften dem Versuch, wenigstens ein paar der Gebäude, die im Fokus der Briten lagen, zu retten, keine Förmlichkeiten im Weg stehen.

Lennart kletterte über weitere notdürftig von Bürgern errichtete Barrikaden, vorbei an ausgebrannten Ruinen, einem verendeten Hund und auf der Straße liegenden Möbeln. Ob hier Plünderer am Werk gewesen waren? Oder nahmen die feindlichen Truppen mit, was sie tragen konnten?

Der Lieutenant wusste um die Plünderungen in York*, der Hauptstadt Oberkanadas, durch die US-amerikanischen Soldaten. Sie hatten, entgegen des allgemeingültigen Kriegsrechts, nicht nur öffentliche Gebäude, sondern auch Privathäuser in Brand gesteckt. In diesen Tagen bekamen die US-Amerikaner wohl die Quittung für ihr ruchloses Handeln.

Das Ausmaß der Zerstörung erschreckte Lennart, wenngleich er anerkennen musste, dass die englischen Offiziere ihre Untergebenen gut im Griff hatten. Bis jetzt hatte er kein einziges brennendes Privathaus gesehen.

Bedrückt schüttelte Lennart den Kopf. Er war als Offizier Teil des Kampfes und durchaus bereit, den noch jungen Staat vor Angriffen von außen zu schützen. Aber das unvermeidlich damit einhergehende Leid drückte ihm aufs Gemüt.

Lennart trat in die Mitte einer Kreuzung. Es fiel ihm schwer, sich zu orientieren, da er sich erst das zweite Mal in Washington aufhielt. Eigentlich war er auf dem Weg in seine Heimatstadt New Orleans gewesen, als ein Bote ihn erreicht und hierher beordert hatte.

Unschlüssig nahm Lennart seinen marineblauen Zweispitz ab und versuchte herauszufinden, wo er sich befand. Die Flammen, der beißende Qualm und die abseits des orangefarbenen Lichtscheins herrschende Dunkelheit machten ihm das nahezu unmöglich. Auf See wäre es einfacher für ihn gewesen … Prüfend blickte er zum Himmel hinauf, doch die grauen Rauchwolken verhinderten einen Blick auf die Sterne.

Ohne sich sicher zu sein, ob der von ihm eingeschlagene Weg der richtige war, bog er nach links ab und schritt kräftig aus. Er ließ die brennenden Häuser hinter sich und bald wurde die Luft klarer. Ein zufriedenes Lächeln huschte über Lennarts Gesicht, als er das Gebäude, das der Bote ihm beschrieben hatte, endlich vor sich sah. Wenig später stieg er die Stufen des Backsteinhauses hinauf und klopfte sich dabei die weißen Ascheflöckchen von der blauen Uniformjacke, die vorn deutlich kürzer geschnitten war als hinten. Danach strich er sich über das schwarze Haar, um sich zu vergewissern, dass es noch ordentlich im Nacken zusammengebunden war. Unwillig knöpfte er den hohen Stehkragen zu. Die Augusthitze war drückend, auch abseits der verheerenden Brände.

Auf sein Klopfen hin wurde ihm von einem livrierten Schwarzen die Tür geöffnet. Lennart nannte seinen Rang und Namen und wurde eingelassen. Zwei Wachhabende grüßten und nahmen seine Pistole und den Säbel in Empfang, ehe sie für ihn die zweiflügelige Tür zu einem hauptsächlich in Rot gehaltenen Salon öffneten. Blauer Zigarrenrauch kräuselte sich knapp unterhalb der dunkelbraunen Kassettendecke, die Kerzen auf den Kandelabern rußten unbeachtet vor sich hin.

David Porter, ein guter Bekannter von Lennarts Vater, kam ihm mit großen Schritten entgegen. Lennart nahm eine militärisch stramme Haltung an und grüßte den Captain, unter dessen Kommando er kurze Zeit als Zweiter Offizier gedient hatte. Dieser erwiderte den Gruß und legte dann seine Rechte schwer auf Lennarts Schulter.

„Geht es dir gut, Junge?“, fragte der mit 34 Jahren nur zehn Jahre ältere Porter, der, angetan mit seinem steifen Kragen und dem weißen Halstuch, fürchterlich schwitzte. Schweißperlen liefen ihm über die Stirn, dunkle Flecken verunzierten seine Achseln.

„Bis auf den Umstand, dass mein Heimaturlaub unterbrochen wurde und die Briten da draußen aufs Übelste gewütet haben, ja. Und Ihnen, Sir?“

„Ich könnte mit deinen Worten antworten!“ Porter nickte grimmig, drehte sich halb um und deutete auf einen Mann in feinem Zwirn mit zurückgehendem Haaransatz und auffällig herabhängenden Schultern, der wie ein gefangenes Tier vor der Fensterfront auf- und abging. Sein weißes Haar war zerzaust, der schwarze Frack zerknittert.

„Ich möchte dich gern dem Präsidenten vorstellen.“

Lennart folgte Porter zu James Madison, der seinen nervösen Gang unterbrach und den Lieutenant zur See misstrauisch musterte.

„Das also ist der junge Mann, den Sie vorgeschlagen haben?“, wandte Madison sich nach einem knappen Nicken in Lennarts Richtung an Porter.

„Er mag jung sein, Mr President, aber er ist erfahren und eine geborene Führernatur, überaus gefestigt und loyal.“

Lennart kniff unwillkürlich ein Auge zu und fragte sich, zu welchem Zweck oder an wen er da gerade verschachert werden sollte.

Madison, der das Land in diesen Krieg gegen die Briten geführt hatte, schwammen allmählich die Felle davon. Die Einnahme Washingtons war ein Desaster. Lennart erinnerte sich an die aufgebrachten Worte seines sonst so ausgeglichenen Vaters, der meinte, dass Madison bei der Wahl seiner Offiziere kein gutes Händchen bewies und dass es allein der Marine zu verdanken sei, dass die USA den Krieg nicht längst verloren hätten. Und das, obwohl die Briten sich auch noch mit Napoleon hatten herumschlagen müssen.

„Meinetwegen, Porter. Klären Sie das mit der Admiralität!“ Madison wandte sich ab und nahm sein unterbrochenes nervöses Auf- und Abschreiten wieder auf.

Porter bedankte sich höflich, deutete eine Verbeugung an und winkte Lennart, ihm zu folgen. Vorbei an mehreren distinguiert aussehenden Männern, unter denen Lennart einige Abgeordnete erkannte, betraten sie einen Nebenraum, der sich durch angenehm wenig Rot auszeichnete.

„Die Flucht des Präsidenten und der Regierung nach Virginia steht kurz bevor. Vermutlich brechen die Herren in den nächsten Minuten auf“, sagte der Captain mit einer wegwerfenden Handbewegung.

Lennart verstand ihn auch ohne viele Worte. Über Washington flatterte der Union Jack, und die Regierungsbeamten versuchten, sich und wohl auch wichtige Papiere außer Reichweite der feindlichen Truppen zu bringen.

„Es sind nicht genügend britische Soldaten vor Ort, um die Stadt zu besetzen. Ich nehme an, sie wüten hier einige Tage lang und ziehen sich dann zurück“, erklärte Porter seine Sicht auf das Geschehen.

Lennart enthielt sich eines Kommentars, doch Porters Worte ließen vermuten, dass er das Wüten der Briten in der Stadt ebenfalls für eine Vergeltungsmaßnahme für York hielt.

„Kommen wir zum Grund deiner Anwesenheit.“ Porter hielt inne, als mehrere Detonationen die Scheiben in ihren Fassungen zum Klirren brachten. „Es gibt Strategen in der Admiralität, die sich eine größere Beweglichkeit auf See wünschen. Schnellere Aufklärung darüber, wo die britischen Blockadeschiffe liegen und wo sich die mit Kaperbriefen ausgestatteten englischen Privatschiffe herumtreiben. Sie suchen einen fähigen Offizier …“ Porter brach ab und drehte sich zu Lennart um. „Gratuliere. Du hast das Kommando über eine Korvette zugeteilt bekommen.“

„Danke, David“, erwiderte Lennart trocken und in Abwesenheit der Regierungsmitglieder nun gelöster. Allerdings schwirrte ihm vor Verwirrung der Kopf. Er bekam das Kommando über ein Schiff? Dazu war er doch viel zu jung, und zudem war er noch nicht einmal in den Rang eines Ersten Offiziers aufgestiegen.

Trotz seines Erstaunens unterdrückte er jede Gefühlsregung. Weder würde er seine Verwunderung zeigen noch den Kummer, den er verspürte, weil sich ihm plötzlich das verängstigte Gesicht des kleinen Mädchens an der Barrikade vor sein inneres Auge schob.

„Mir gefällt deine Euphorie!“, lachte Porter und schlug eine Ledermappe auf, die bis jetzt unbeachtet auf einem Mahagonitisch gelegen hatte. „Hier findest du deine Papiere, deine Befehle und die Namen und Empfehlungen eines Großteils der bereits mit dem Schiff vertrauten Mannschaft. Dein Auftrag ist überaus heikel und bedarf großen Fingerspitzengefühls. Falls etwas schiefgeht, wird die Admiralität leugnen, ihn erteilt zu haben.“

„Ich habe wohl nicht die Möglichkeit, das Kommando abzulehnen?“, fragte Lennart mit gezwungen heiterer Stimme nach. War er überhaupt bereit, die Verantwortung für ein Schiff und dessen Seeleute zu übernehmen?

„Doch, das steht dir frei. Aber ich kenne dich. Du brennst auf ein eigenes Kommando. Du bist der fähigste Mann für diese Aufgabe, der mir in den Sinn gekommen ist. Und ich vermute, du weißt, dass du nie wieder eine solche Chance erhalten wirst. Es gibt genug Männer in deiner Position, die sich die Finger danach lecken würden.“

„Aber ich darf sie mir verbrennen?“

„Ich traue dir genug Diplomatie zu …“ Porter brach ab, schwieg einen Augenblick und fuhr dann fort, als habe er Lennarts Einwand aus seinem Gedächtnis gestrichen: „Übrigens habe ich angeregt, dass Midshipman Marlon Montiniere auf die Silver Eagle versetzt wird.“

Lennart nickte, war sich jedoch im Unklaren darüber, ob es ihm zusagte, dass sein jüngerer Bruder unter sein Kommando gestellt wurde. Sie verstanden sich im Grunde gut, doch was ihre berufliche Laufbahn anging, hatten sie so ihre Differenzen …

Unter mein Kommando? Lennart wiederholte innerlich seinen eigenen Gedankengang. Hieß das, dass er sich bereits mit dem Angebot arrangierte, das ihm hier so unvermutet offeriert wurde? Um seine Nervosität zu verbergen, verschränkte er die Hände hinter seinem Rücken und warf einen Blick auf die noch immer lodernden Flammen über der Stadt. Im Nebenraum entstand Unruhe. Offenbar war man im Hinblick auf den weiteren Fluchtweg für Madison und seine Regierungsbeamten übereingekommen.

Lennart zwang sich gedanklich zurück zu der Mission, die man ihm unterbreitet hatte. Andere warteten Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte auf eine derartige Möglichkeit. Allerdings entnahm er der vorsichtigen Umschreibung seines Kommandos, dass die Korvette nicht in einem Flottenverbund segeln würde. Vielmehr würde er auf sich allein gestellt sein und als Spion der Meere fungieren. Das hatte durchaus seinen Reiz, barg aber gleichzeitig unzählige Gefahren. Zudem … umgab seine erste Aufgabe nicht ein Hauch von Illegalität, wenn im Zweifelsfall die Admiralität jedes Wissen um seine Mission abstreiten würde?

„Sieh dir die Liste durch und wende dich an mich, wenn du gern einen bestimmten Mann an deiner Seite hättest. Im Prinzip hast du viele Freiheiten, deine Vorgaben ähneln dem Kaperauftrag eines privaten Schiffseigentümers.“ Porter lachte wieder, schlug die Mappe zu und übergab sie Lennart. „Und wie lautet deine Entscheidung, Lieutenant Commander?“

„Lieutenant Commander?“

„Hatte ich vergessen zu erwähnen, dass dir eine Beförderung zuteilwurde?“

„Im Zusammenhang mit dem Kommando über die Korvette?“

„So könnte man es ausdrücken.“

Das aufgeregte Prickeln in Lennarts Innerem nahm an Intensität zu. Musste er tatsächlich noch abwägen, ob die Gefahr im Verhältnis zum Angebot zu groß war? Er scheute das Risiko nicht. Ohnehin war es gleichgültig, ob er seinen Dienst auf einer Kriegsfregatte oder auf einer der neuen, wendigen und schnellen Korvetten tat, ob innerhalb einer Flotte oder allein. Lennart schluckte alle Unsicherheiten hinunter.

„Ich übernehme den Auftrag, David. Danke für das in mich gesetzte Vertrauen.“

„Ich habe nichts anderes erwartet.“ Porter gefror das Lächeln auf seinem Gesicht, als einen Häuserblock entfernt ein Feuerball in den dunklen Himmel schoss.

„Ich wäre jetzt lieber auf einem Schiff“, brummte er, fuhr jedoch mit leichtem Schalk in der Stimme fort: „Wenn man bedenkt, dass dein Vater aus dem französischen Viertel von New Orleans stammt, würde ich dir jetzt gern den Spitznamen Korsar verpassen.“

„Die Korvette liegt vor der Küste Louisianas?“, fragte Lennart knapp, ohne auf die Bemerkung einzugehen.

„Richtig. So kannst du einen kurzen Heimatbesuch einschieben, bevor du wieder in See stichst und hoffentlich eine Menge britische Schiffe das Fürchten lehrst. Ich wünsche dir viel Erfolg.“ Porter reichte ihm die Hand, die Lennart kräftig drückte, ehe er militärisch grüßte und den Raum verließ, um seine Waffen wieder an sich zu nehmen.

Im Freien begrüßten ihn der beißende Gestank und der helle Lichtschein der noch immer wütenden Brände. Ein auffrischender Wind ließ ihn den Kopf heben. Vielleicht täuschte er sich, aber der Himmel sah nach einem herannahenden Sturm aus. Was das für die brennende Stadt bedeuten könnte, wagte er sich kaum auszumalen. Es drängte ihn danach, irgendetwas zu tun, und sei es nur, ein paar Wassereimer zu schleppen. Doch seine Pläne waren vor wenigen Minuten auf den Kopf gestellt worden, auch wenn dieses kurze Zusammentreffen eigentümlich surreal auf ihn nachwirkte.

Er klemmte sich die Ledermappe fest unter den Arm und verließ den Stadtteil auf demselben Weg, auf dem er ihn betreten hatte.

N

Die Fuchsstute galoppierte über die schlammige Wiese, schleuderte Dreckbrocken und Grasbüschel unter ihren Hufen hervor, die meterweit durch die von Blütenduft geschwängerte Luft flogen. Aufgeschreckt flatterten einige Amseln auf und flohen in Richtung Fluss.

Der Reiter stieß einen anfeuernden Ruf aus, hob den Säbel und griff die reglose Figur in der Mitte der Waldschneise an. Ein dumpfer Schlag ertönte, als die Waffe ihr Ziel traf. Ein paar Meter weiter machte das Pferd eine enge Wendung auf der Hinterhand und pflügte dabei die Grasnarbe auf. Der Reiter parierte das goldglänzende Tier durch, sodass es neben dem Opfer zum Stehen kam, und riss sich den Hut vom Kopf. Dabei lösten sich lange dunkle Haarsträhnen aus einem nachlässig geschlungenen Knoten. Die junge Frau betrachtete mit einem breiten Grinsen den im Gras liegenden Kopf der Strohpuppe, die ohnehin bemitleidenswert aussah.

Triumphierend steckte sie den Säbel in die Scheide und wischte sich mit dem Ärmel ihrer mit Schmutzspritzern übersäten Baumwollbluse den Schweiß von der Stirn.

Catherine Hansen, die jüngere Tochter des Plantagenbesitzers, stellte sich in die Steigbügel, warf einen belustigten Blick auf die Sklavenkinder, die sie bei ihrer täglichen Übung beobachtet hatten, und winkte ihnen zu. Die Mutigen unter ihnen winkten zurück, andere sahen sie mit bewundernd aufgerissenen Augen an, obwohl die weiße Frau in Hosen, die einen Männersattel benutzte und mit unglaublichem Geschick eine Waffe zu führen verstand, ein vertrauter Anblick für sie war.

„Jetzt kann First nicht mehr trainieren“, rief Flea ihr zu. Das achtjährige Mädchen, das Catherine in ihrer Wildheit, ihrem Eigensinn und ihrem Mut in nichts nachstand, sprang begeistert auf und ab. Catherine mochte das Kind mit der ebenholzschwarzen Haut, dem krausen kurzen Haar und der auffälligen wulstigen Narbe auf der Stirn. Fleas voriger Besitzer hatte ihr diese zugefügt. Catherines Mutter Elizabeth hatte wenige Monate vor ihrem Tod das verletzte Kind von einem nachbarschaftlichen Besuch mit nach Hause gebracht …

„Sie werden First dieses Mal also besiegen, Missi Cat!“, jubelte Flea weiter, als ob Catherines Sieg bereits feststünde.

Catherine war sich dessen nicht so sicher. Bis vor zwei Jahren war ihr First – ein Sklavenjunge, der ihr als Ausbildungspartner zur Seite stand –, bei jedem ihrer spielerischen Wettkämpfe unterlegen gewesen. Doch mit zunehmendem Alter wurde First größer und stärker, während Catherine, sehr zu ihrem Leidwesen, nur weibliche Formen annahm. So verbissen sie sich auch gegen die Veränderungen wehrte, so wusste Catherine doch, dass sie letztlich nichts dagegen tun konnte. Ihr vertrautes und geliebtes Leben würde bald ein Ende haben …

Catherine winkte den Kindern zum Abschied zu, brachte ihre Stute dazu, sich aufzubäumen, und galoppierte dann von der Lichtung in den schattigen Waldweg. Sie hörte die lachenden und johlenden Stimmen ihrer kleinen Zuschauer, die es liebten, wenn sie dieses Kunststück zeigte. Bald verschluckten die dumpfen Schläge der Pferdehufe und das Brausen der uralten Bäume im leichten Westwind jedes andere Geräusch.

Minuten später sprang Catherine vor dem langgezogenen Stallgebäude hinter dem herrschaftlichen Plantagenhaus aus dem Sattel. Einer der Stallknechte kam angerannt. Als er sie erkannte, hielt er an, zog grüßend den Strohhut und kehrte an seine unterbrochene Aufgabe zurück. Wie alle, die für die Pferde verantwortlich waren, wusste er, dass Catherine ihre Stute selbst absatteln und füttern wollte.

Nachdem Catherine das Pferd versorgt und Sattel und Zaumzeug an seinen Platz geräumt hatte, ergriff sie ihren braunen Schlapphut und schlenderte über den Kiesweg in Richtung Haus.

Noch immer brannte die Sonne von einem wolkenlosen Himmel auf South Carolina hernieder. Über den Feldern und Wiesen flimmerte die Luft. Insekten schwirrten um Catherines verschwitztes Gesicht, und sie versuchte, sie durch ein kräftiges Wedeln mit ihrem Hut zu vertreiben. Inzwischen getrocknete Matschklumpen lösten sich von ihrer Kleidung, in der sie vielmehr wie ein Stallbursche denn eine junge Dame der gehobenen Gesellschaft aussah, und fielen zu Boden. So war es wenig verwunderlich, dass Catherine, als sie mit einem übermütigen Satz auf die Holzveranda sprang, in fünf entsetzte Damengesichter blickte.

Catherine hielt erschrocken inne. Emilys Nähkränzchen hatte sie völlig vergessen. Sie war viel zu sehr in ihre Gedanken darüber versunken gewesen, wie lange sie ihr ungebundenes Leben wohl noch würde beibehalten dürfen. Immerhin war sie fast achtzehn und die meisten Gleichaltrigen waren entweder verlobt oder sogar schon verheiratet.

Ihre Schwester hob missbilligend die Brauen und verdrehte gekonnt ihre schönen hellblauen Augen. Emily kam mit Catherines Eskapaden halbwegs zurecht, aber ihre Freundinnen hatten für die unkonventionellen Erziehungsmethoden, die Catherine erfuhr, kein Verständnis.

„Catherine, du siehst aus wie ein … ein …“ Offenbar fehlte Marie-Ann ein passender Vergleich und vor Schreck war sie in die deutsche Sprache verfallen. Schnell versteckte sie ihr Gesicht hinter einem mit Monogramm bestickten Spitzentaschentuch, als müsse sie sich vor Catherines Ausdünstungen schützen.

Diese überlegte sich einen Moment lang, ob sie demonstrativ einen Arm anheben und an ihrer Achsel schnuppern sollte, ließ allerdings von dem rebellischen Einfall ab. Es führte zu nichts, wenn sie die Damen noch mehr gegen sich aufbrachte. Vielmehr bestand die Gefahr, dass sie noch vehementer auf ihren Vater eindringen würden, dass er aus ihr endlich eine anständige junge Südstaatendame formen solle. „Entschuldigt mich bitte“, murmelte sie, machte kehrt und eilte mit auf den Holzplanken knallenden Absätzen in die andere Richtung davon.

„Kein Gentleman, der etwas auf sich hält, wird sich jemals mit diesem Wildpferd abgeben wollen“, hörte sie ungewöhnlich laut Luises sonst so zartes Stimmchen.

Catherine zögerte, mit der Hand auf der Klinke der Verandatür. Ob sie der Gleichaltrigen mit dem Pferdegebiss und der Raubvogelnase sagen sollte, dass damit ja dann ihre Chancen wuchsen, einmal einen „Gentleman“ abzubekommen? Doch sie schämte sich sofort für ihre Gedanken. Luise war keine Schönheit und die Plantage ihrer Eltern war die kleinste in ihrem hauptsächlich von deutschen Auswanderern besiedelten Gebiet. Aber darauf kam es schließlich nicht an. Eines Tages würde ein junger Mann erkennen, dass Luise ein großes Herz hatte – wenn sie nicht gerade mit Marie-Ann zusammensaß und meinte, es deren Bissigkeit gleichtun zu müssen, um dazugehören zu dürfen.

Catherine warf ihrer Schwester ein entschuldigendes Lächeln zu, das Emily mit einem kaum merklichen, hoheitsvollen Nicken beantwortete, und flüchtete in ihr Zimmer. Dort hatte jemand einen Badezuber mit angenehm kühlem Wasser für sie bereitgestellt. Catherine seufzte dankbar und schälte sich aus der schmutzigen und verschwitzten Reitkleidung.

Summer trat ein, raffte die Kleidung zusammen und war bereits wieder an der Zimmertür, als sie sich zu Catherine umdrehte, die soeben in die Wanne glitt. Das dunkelhäutige Gesicht der Greisin war faltig, ihr lockiges Haar weiß, ihre Schultern und ihr Rücken waren von den Jahren harter Arbeit gebeugt. Sie hatte lange auf den Baumwollfeldern gearbeitet, bis sie zu alt dafür geworden war. Nun half sie bei leichteren Aufgaben im Haus.

„Nun, Missi Catherine?“

„Ich habe die Strohpuppe zerlegt. First wird seinen Übungsgegner erst reparieren müssen. Vielleicht verschafft mir das einen kleinen Vorteil.“

„Und?“

„Ich habe den Sattel und das Zaumzeug seines Pferdes versteckt.“

„Und?“

Catherine lachte auf und tauchte erst einmal unter. Prustend kam sie wieder an die Oberfläche und strich sich mit gemächlichen Bewegungen das tropfende Haar aus dem Gesicht. „Sein Pferd steht bei den trächtigen Stuten auf der abgelegensten Koppel, genau dort, wo er den Wallach niemals suchen wird.“

Summer kicherte und ließ die junge weiße Frau allein. Sie war eine Sklavin, die ihr Leben lang nichts anderes gekannt hatte, als für ihre Herren zu schuften. Dennoch hatte sie sich einen feinen Humor und eine große Lebensfreude bewahrt, so ungebrochen wie ihr Glaube an den Gott, der ihr eines Tages die Freiheit schenken würde, wie sie es so häufig sang.

Catherine rieb sich nachdenklich über einige schmerzende blaue Flecken, die First ihr bei Kampfübungen am Vortag zugefügt hatte. Sie war wie ein Junge aufgewachsen, verstand es aber trotzdem, auch ohne Waffen zu kämpfen. Mit den Waffen einer Frau …? First war es jedenfalls noch nie eingefallen, sie so zu sabotieren, wie sie es zuletzt gelegentlich versucht hatte.

Seufzend tauchte sie ihr erhitztes Gesicht ein zweites Mal in das angenehm kühle Nass. In ihr schlummerten zwei Seelen, und sie war alt genug, um zu ahnen, dass ihr das womöglich eines Tages Schwierigkeiten einbringen könnte. Dennoch: Um nichts in der Welt wollte sie diese ganz besonderen Jahre ihrer Kindheit und Jugend missen, auch wenn sie wohl bald der Vergangenheit angehören würden …

N

Die Aufregung um Catherine hatte sich wieder gelegt; Emilys Freundinnen nähten weiter und wandten sich anderen Themen zu. Da gab es die Pläne für Hochzeiten und Bälle zu diskutieren, die in der nahenden Wintersaison stattfinden sollten, oder den neuen Schneider, der sich unweit der deutschen Plantagen in einer kleinen Ortschaft niedergelassen hatte. Er war Schweizer, hatte jedoch einige Jahre in Paris gearbeitet. So zumindest besagten die Gerüchte. Gleichgültig, ob der Parisaufenthalt der Wahrheit entsprach oder nicht; allein das Gerücht würde dem Mann eine große Anzahl Kundinnen einbringen. Allerdings war das für Emily alles nicht mehr von Interesse.

Versonnen setzte sie einen akkuraten Stich nach dem anderen, während ihre Gedanken auf Wanderschaft gingen. Ihr Vater hatte ihr vorhin im Vorbeigehen zugeraunt, dass ihr Verlobter eingetroffen sei. Wie auch immer der Brite, der vor etwa drei Jahren um ihre Hand angehalten hatte, an den britischen Blockadeschiffen vorbeigekommen war – nun war er hier. Und er wollte sie mit sich nach London nehmen!

Aufregung, Vorfreude und eine Spur von Angst bedrängten ihr Herz in einem irritierenden Durcheinander, das sie gar nicht mochte. Sie war nur froh, dass ihr Vater sich um alle Belange rund um ihre Abreise und Vermählung kümmerte. Und um die von Catherine …

Emily legte ihre Hände in den Schoß. Catherine war ein Wildfang mit einem unmöglichen Betragen. Oft genug sahen ihre Haare aus wie ein Vogelnest und beherbergten Blätter und Zweige. Dazu diese geschmacklose Männerkleidung, die sie so gern trug …

Emily konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Sie liebte ihre Schwester innig, ihrem Gebaren zum Trotz, das in der deutschen Nachbarschaft auf zunehmend mehr Unverständnis traf.

In früheren Jahren war Emily bei jedem aufziehenden Gewitter in Catherines Bett geschlüpft und hatte sich dort unglaublich sicher gefühlt. Später hatte Catherine es einmal mit einem Landstreicher aufgenommen, der Emily bedroht hatte. Wie ein großer Bruder hatte sie sich zwischen sie und ihren Angreifer geworfen und hatte ihn mit ihrem Degen in die Flucht geschlagen. Diese Geschichte, die sich wie ein Lauffeuer herumgesprochen hatte, hatte in der Gesellschaft für einen Skandal gesorgt.

Emily war das egal gewesen. Catherine hatte sie vor diesem Kerl und seinen grabschenden Händen beschützt und vor Schlimmem bewahrt! Seitdem untersagte Emily sich jedes negative Wort über ihre jüngere Schwester, und meist verteidigte sie das Mädchen sogar vor anderen.

Seltsam und belustigend zugleich war nur, dass Catherine, die ihre eigenen Würmer zum Angeln sammelte und einmal einen Waschbären als Haustier gehalten hatte, eine Aversion gegen Schmetterlinge hegte. Mehr noch, sie hatte eine tiefe, irrationale Angst vor den bunten, filigranen Schönheiten. Dies war jedoch ihr gut gehütetes geschwisterliches Geheimnis.

Nach dem Tod ihrer Mutter Elizabeth, die Catherines Treiben vielleicht irgendwann Einhalt geboten hätte, sah Emily ihre unkonventionelle Erziehung und Entwicklung jedoch in einem kritischeren Licht. Emily hegte die Befürchtung, dass ihre ungestüme Schwester mit ihrem jungenhaften Verhalten und ihrem überaus großen Selbstbewusstsein, gepaart mit einer kräftigen Portion Leichtsinn, eines Tages in große Schwierigkeiten geraten könnte. Immerhin war sie trotz allem eine junge Frau.

* heute: Toronto