Auf der Landstraße wirbelte der Wind Staubwolken auf.

Gustave Flaubert, Madame Bovary

(Deutsch von René Schickele und Irene Riesen)

Seit Stunden verschwinden die Grashalme unter der gelben Plane. Wenn sie auf der anderen Seite des Mähwerks wiederauftauchen, liegen sie da und bedecken das Feld. Die abgemähten Halme sehen so weich aus, als könnte man sich einfach reinfallen lassen. Aber das kann man nicht. Dadrunter ist der Lehmboden und der ist hart wie Stein.

Ich sitze hinter Jan und gucke durch die zerkratzte Scheibe. Die Sonne war erst über dem Wald, jetzt sinkt sie auf den Flugplatz von Lübeck zu, wie eine Bombe, eine sehr langsame Bombe.

Ich muss schreien, wenn ich will, dass Jan mich hört. Aber bis jetzt wollte ich das nicht. Ich gucke auf den Leberfleck an seinem Hals, und mein Kopf schlägt immer wieder gegen die Scheibe, genau an der Stelle, an der schon ein Fettfleck ist.

Ich habe versucht, mir Büros vorzustellen, Strände und Cafés mit Tulpen auf den Tischen, aber überall sind nur Felder, bis an den Horizont.

Ein Rattern kommt aus dem Mähwerk, das neben dem Trecker das Weidegras vom Boden schneidet.

»Scheiße.«

Durch die staubige Scheibe sehe ich nur noch, wie ein Reh Richtung Wald davonspringt, und ich kann nichts dagegen machen, dass in meinem Kopf sofort Bilder sind von Knochen, Fleisch und braunem Fell, das innerhalb von Sekunden in winzige Fetzen gehäckselt wird.

Jan stellt den Motor ab. Ich höre mich atmen, und irgendwo im Trecker knackt es noch. Ich kann kein Wort sagen, will die Stille nicht gleich wieder kaputtmachen. Ich stelle mir vor, dass überall Blut klebt. Gedärme verfangen sich in den Klingen.

Meine Hände rutschen von Jans Schultern, als er sich aus dem Sitz schwingt. Blut sickert in den Lehmboden. Ich stehe auf und halte mich am Metallgriff fest, der so heiß ist, dass ich eigentlich wieder loslassen müsste, um mir die Handinnenflächen nicht zu verbrennen, aber dann würde ich sofort umfallen, so zittrig sind meine Knie noch von der Fahrt.

»Dauert das lange?«, will ich fragen, aber aus meinem Hals kommt nur ein Krächzen. Ich räuspere mich und versuche es noch mal. »Ich muss aufs Klo«, sage ich.

Jan kniet neben dem Mähwerk und hebt die Plane an.

»Und ich hab Hunger.«

Ich ziehe mir die Sonnenbrille vor die Augen, bevor ich die Stufen runtergehe. Damit ich die Augen nicht zusammenkneife und sich bald dicke Krater über meine Stirn ziehen. So wie bei Manuela.

Ich schau mich um. Da ist nur das Windrad, das sich nicht dreht, und dann ist da doch ein kleiner brauner Fleck am Wald, der zwischen den Bäumen verschwindet.

Aber direkt vor mir liegen Fellreste. Sie sind viel größer, als ich sie mir vorgestellt hab. Die Haare sind noch ganz ordentlich, kein bisschen zerknickt, und ich hab sofort diesen Impuls, mich runterzubeugen und diese Fetzen zu streicheln. So ein komischer Streichel-Reflex. Aber ich bleibe stehen, weil auf Tieren immer massenhaft Bakterien rumkrauchen.

 

Ich war noch nie dabei, wenn ein Kitz zerhäckselt wurde. Früher hat Jans Vater uns Kinder geholt, um vor dem Trecker herzulaufen beim ersten Schnitt, mit Stöcken in der Hand, die wir waagerecht von uns gestreckt ins Weidegras halten mussten. Eigentlich hab ich das nie wegen dem Fünfmarkstück gemacht, das wir dafür gekriegt haben, sondern weil ich unbedingt ein Rehkitz finden wollte. Hab ich aber nie. Wahrscheinlich waren wir so laut, dass die Rehe schon weggelaufen sind, als wir uns noch um den besten Stock stritten.

»Is das nich viel zu spät«, sage ich, »im Juni?«

Jan steht auf, sucht das Gras ab. Er geht auf ein Stück zu, an dem ein winziges Ohr hängt, völlig heil, als könnte es noch hören und wackeln und alles. Daneben liegt ein schwarzer Klumpen, der das Auge sein könnte oder die Schnauze. Mir wird schlecht.

Jan greift nach dem Ohr und wirft den Kopfrest in die Treckerspur.

»Da sind Bakterien dran«, sage ich.

»An dir sind Bakterien dranne«, sagt er, greift nach einem Knochen, an dem noch Fell hängt, und wirft auch den in die Treckerspur, in der ich stehe.

»Das stimmt aber«, sage ich, »die meisten Rehe sind von Lungenwürmern und Haarbalgmilben befallen.« Hab ich erst vor ein paar Tagen im Internet gelesen.

»Das is so frisch, das können wir zum Abendbrot essen«, sagt Jan.

Er wischt sich die Hand an seiner Hose ab.

»Knusprige Rehöhrchen.« Er will tatsächlich seinen Arm um meine Schultern legen. »Kitz-Kotelett.« Ich kann gerade noch rechtzeitig wegtauchen. In diesen Momenten ist Jan so weit weg von mir, als wäre ich Bauchtänzerin auf Bora Bora und er eben Bauer in Schattin.

»Wollten wir nicht fertig werden?«

Ich setz meinen Fuß auf die unterste Treckerstufe, als ich Motorengeräusche höre. Zwei Kleinbusse fahren den Berg hoch, die weißen von der Windkraftfirma.

»Och nö«, sagt Jan.

Die Busse biegen in den Feldweg ein, schlingern hin und her um die Schlaglöcher und wirbeln so viel Staub auf, dass die Reifen verschwinden.

»Komm jetzt«, sage ich, kletter rein und setze mich wieder auf meinen Platz.

Die Luft ist immer noch unerträglich stickig hier drin und es riecht sogar ein bisschen nach verbranntem Plastik, als würden die Sitze mit ihren Gummibezügen gleich schmelzen. Die sind schwarz und saugen sich sofort mit Sonne voll, sodass man sich den Hintern verbrennt, wenn man sich draufsetzt. Die neuen Trecker haben Klimaanlagen, getönte Scheiben und so, und Jan hat erzählt, er hat sogar schon mal einen mit Kühlschrank gesehen.

Jan hat das mit den heißen Sitzen auf jeden Fall nie gestört, aber ich hab mal in der Jolie gelesen oder Maxi, ich weiß nicht mehr genau, dass die Spermien im Hoden absterben, wenn sie zu warm werden, und wenn sich Jan, seit er vier ist, auf diese Sitze gesetzt hat, ist es ein Wunder, wenn da überhaupt noch Leben zwischen seinen Beinen ist.

»Jan«, rufe ich nach draußen. »Jan!«

Es ist gleich halb neun. Ich hab Hunger. Ich will nach Hause.

Aber bevor ich aus dem Trecker springen kann, um Jan zu sagen, wie spät es ist, geht er los, quer durchs abgemähte Gras. Er wird immer kleiner und seine Gummistiefel schlackern um seine nackten Beine. Wenn ich nicht selber Stiefel anhätte, würde ich ihm jetzt hinterherrennen.

Eine Maus läuft vor mir in ein Loch im Boden. Über Lübeck startet ein Flugzeug und fliegt direkt in die Sonne. Und sofort hab ich das Gefühl, ein dickes Kind klammert sich an meinen Rücken und schlingt seine Arme so fest es geht um meinen Hals. Manchmal glaub ich, jedes Flugzeug, das ich sehe, existiert überhaupt nur, um mich daran zu erinnern, dass ich einer der unbedeutendsten Menschen der Welt bin. Wieso sollte ich sonst in diesem Moment auf einem halb abgemähten Feld stehen? Nicht mal in einer Nazi-Hochburg, nicht mal an der Ostsee oder auf der Seenplatte, nicht mal auf dem Todesstreifen, sondern kurz davor, daneben, irgendwo zwischen alldem. Genau da, wo es eigentlich nichts gibt außer Gras und Lehmboden und ein paar Plätze, die gut genug sind, um da Windräder hinzustellen. Als Kind hat mir das irgendwie noch gereicht, aber nur weil ich fest davon überzeugt war, spätestens mit achtzehn würden meine Füße Tag und Nacht in High Heels stecken, mit denen ich lachend über den Berliner Asphalt stöckel.

 

Ich nehme die Fanta, die unterm Gaspedal klemmt. Die Flasche zischt nicht mal mehr beim Öffnen. Nach einem Schluck von diesem warmen Zeug ist mir jedenfalls schlecht und mein Magen fängt an zu knurren. Ich wühle zum dritten Mal in der Gefrierbox, aber da sind nur noch Alufolienreste und leere Gefrierbeutel, die orange angelaufen sind von meinen Möhren. Ganz unten liegt das Taschenmesser. Mit dem hat Jan mir vorhin eine braune Stelle aus meinem Apfel geschnitten, den ich dann zwar doch nicht gegessen hab, weil er nach Verfaultem geschmeckt hat, aber Jan hat ihn gegessen, mit Kernen und allem, bis nur der Stiel übrig war.

Ich klappe das Messer ein. Jan ist schon fast am Windrad. Er sieht wie ein kleiner Junge aus, wie er da in seinen abgeschnittenen Jeans über dieses riesige Feld stapft. Wenn er zurückkommt, brauchen wir bestimmt noch eine Stunde für die restlichen Bahnen. Ich klappe das Messer wieder aus. Über mir ist dieser riesige Himmel, und als ich hochgucke, sehe ich nur dieses verdammt blaue Blau, das sich über die ganze Welt zieht wie eine Plane, unter der wir gefangen sind.

Ich sehe Jan nicht mehr. Er ist in einer Senke verschwunden. Mit dem Messer kratze ich über den Trecker-Reifen, sodass der Lehm auf den Boden bröselt. Ich weiß nicht, ob dieses kleine Taschenmesser dazu in der Lage wäre, diesen Reifen zu durchstechen. Irgendwie hab ich das Gefühl, es würde mir viel, viel besser gehen, wenn ich es ausprobieren würde. Ich glaube, dann wäre ich auch nicht mehr sauer auf Jan, weil er mich hier stehen lässt und einfach zu diesen Windrad-Leuten gelaufen ist, obwohl ich Hunger hab und nach Hause will. Ich klappe es auf, die Klinge blitzt in der Sonne, und dann ist da so ein Kabel, das außen am Trecker langläuft, das schneide ich durch. Es beginnt an so einer Art Tank und verschwindet dann unter der Motorhaube. Jan hat mir mal erzählt, warum bei diesen alten Treckern die Tanks und Schläuche außen liegen. Aber ich hab den Grund wieder vergessen.

Ich gucke diese beiden Enden an, die da vor mir in die Luft ragen, und kann mir gar nicht mehr vorstellen, dass ich das war. Bevor noch mehr passiert, werfe ich das Messer lieber wieder in die Gefrierbox.

 

Meine Stiefel sinken ein ins Gras, ich wische mir den Staub von den Armen, streiche mir die Augenbrauen glatt. Ich greife mir mit der rechten Hand in den Ausschnitt und rücke mir die linke Brust zurecht, dann mit der linken Hand die rechte. Die Ränder vom BH schimmern durch den Stoff. Wenn ich gewusst hätte, dass ich heute Menschen begegnen würde, die nicht in Schattin wohnen, hätte ich mir was anderes angezogen. Vor mir rasen die Mäuse in ihre Löcher. Ab und zu bleibt eine kurz sitzen, mit so schnellem Atem, dass der ganze Körper bebt. Erst kurz bevor ich auf sie treten würde, verschwindet sie wieder im Boden.

»Wenn man eine Maus fangen will, muss man wie eine Maus denken«, hat Frank mir mal erklärt. Als ob es nichts Wichtigeres auf der Welt gibt. Dabei wollte ich überhaupt keine Maus fangen und ich wollte erst recht nicht wie eine denken. Er wollte das, weil er der Meinung ist, dass ich zu mehr nicht in der Lage bin. Würde er zwar nie zugeben, weiß ich aber genau. Außerdem will er mich nicht an seine Kühe lassen. An Mäuse ja, an seine wertvollen Milchkühe nicht. Manuela darf wenigstens noch an die Kälber, aber ich hab nach der Sache mit den Mausefallen dann die Tränken bekommen. Einen Gartenschlauch halten, das schaffe ich gerade noch.

In Wirklichkeit hatte ich die Mausefallen absichtlich falsch gespannt. Wer will schon eine halb zerquetschte Maus aus einer Falle pulen?

 

Das Windrad ist auf Nord-West stehen geblieben. So ruhig wie die Rotorblätter in den Himmel ragen, sieht es echt ungefährlich aus. Jan steht neben einem der Männer, die aus den weißen Bussen gestiegen sind. Ein paar Kraniche schreien im Wald, sonst ist es völlig still.

Als ich das erste Mal beim Windrad war, ist mir fast schwindelig geworden beim Hochgucken. Es sah aus, als würde es auf mich drauffallen, als ob es sich mit jeder Drehung auf mich zu bewegt. Ich hatte Angst, dass sich ein Blatt löst und mich erschlägt. An der Eisentür steht immerhin Betreten der Windkraftanlage verboten. Lebensgefahr! Außerdem hat jemand im Dorf erzählt, dass man einen Schlag kriegt, wenn man auf den Betonsockel tritt, aber das ist natürlich Quatsch. Ich bin jedes Mal, wenn ich da war, auf den Betonsockel gestiegen. Ich hab sogar meinen Kopf an die Eisentür gelegt, und es ist nie was passiert. Wenn es wirklich gefährlich wär, hätten die einen Zaun bauen müssen um das ganze Gebiet, so wie bei den Löschteichen, die überall auf den Feldern angelegt werden.

Der Wintec-Mann zeigt auf eine Stelle im Weizen, und dann gehen Jan und er hinter dem Wagen vorbei. Kurz sehe ich sie nicht mehr. Ich hole Stroh aus meinen Taschen, Halme und Krümel und Samen und streue sie wie Hänsel und Gretel hinter mir her. Die Schwalben fliegen so hoch. Niemand wird meine Krümel wegpicken.

Jan bleibt mit dem Wintec-Mann am Feldrand stehen, neben einer Stelle, an der die Weizenpflanzen eingedrückt sind. Da liegt irgendwas Schwarzes, auf das sie runtergucken, ein Wildschwein oder ein Nandu. Als ich näherkomme sehe ich, dass es ein Raubvogel ist, völlig verkrümmt. Der eine Flügel ausgebreitet, der andere liegt unter dem Körper. Um ihn rum sind überall Federn verstreut.

»Ja, das Blei«, sagt der Mann und stupst den Flügel mit seiner Schuhspitze an.

»Kommen Sie mir nich mit Blei«, sagt Jan. »Ihr Waldscheißer glaubt wohl, man kann uns alles erzählen.«

Ich schmeiße den Grashalm, den ich gerade abgerissen hab, doch nicht weg. Ich behalte ihn, um ihn weiter zu zerknicken. Der Mann atmet laut aus.

»Na ja«, sagt er.

Seine Stimme ist ruhig und genervt, als würde er das jeden Tag hören. Ich lächel ihn an, damit er merkt, dass ich nicht so bin wie Jan, dass ich nichts gegen ihn hab und gegen Windräder auch nicht, aber er guckt übers Feld. Auf seinen Wangen sind winzige Sommersprossen. Seine Haut ist noch ganz okay dafür, dass er mindestens vierzig sein muss. Sein Schnauzbart bedeckt die Oberlippe nur halb. Man kann noch erkennen, dass er volle Lippen hat. Lippen sind mir nämlich ziemlich wichtig bei Männern, wichtiger als Augen oder Oberarme jedenfalls.

»Wissen Sie eigentlich, wie viele Vögel im Straßenverkehr draufgehen?«, kommt durch diese Lippen.

Er hat die Hände in die Taschen von seinem Overall geschoben. Wintec – Wir drehen uns weiter – steht auf seinem Bauch, dadrüber ist das Zeichen mit den Rädern.

Jan schüttelt den Kopf und grinst dieses ironische Grinsen. Der Vogel starrt direkt zu mir hoch. Seine Augen sind gelb und haben in der Mitte einen schwarzen Punkt, der Schnabel steht ein Stück offen, Blut klebt in den Federn vom Kopf.

»Is das ein Seeadler? Oder ein Bussard?«

Niemand antwortet mir, aber der Wintec-Mann atmet wieder laut aus, und dann höre ich nur noch seine Schritte im Gras.

»Der is doch nur ein Mitarbeiter«, sage ich und gehe in die Knie, runter zu dem Adler oder Bussard oder was das ist.

Anstatt mir zu antworten, dreht Jan sich einfach um und geht. Sein T-Shirt ist ausgeleiert, der Kragen hängt schräg um seinen Hals. Er sieht aus wie früher, als er mal in diesen Pflaumenbaum geklettert ist, um mir zu zeigen, dass er sich traut, von ganz weit oben runterzuspringen. Sein T-Shirt ist hängen geblieben, aufgerissen, und er ist mit nacktem Oberkörper vor mir gelandet, da waren wir zehn oder elf. Ich hab natürlich gelacht, weil es einfach echt komisch aussah, und er war sofort eingeschnappt und hat wochenlang nicht mehr mit mir geredet.

Ein Käfer klettert über die Augen von dem Raubvogel. Die ganze Zeit dachte ich, dass das Blut am Schnabel von einem Tier ist, das der Raubvogel gerissen hat, aber es ist aus einer Wunde gelaufen, direkt unter dem Auge. Wieder hab ich diesen Reflex, ihm über die Federn zu streichen, wie vorhin schon bei dem Rehkitz, aber ich halte einfach mit einer Hand meine andere Hand fest und denke an die Milben und Würmer.

 

Der Mann kommt mit einem Plastiksack in der Hand zurück und es ist mir ein bisschen peinlich, dass ich immer noch an dieser Stelle stehe. Ich lasse den Grashalm fallen.

»So«, sagt der Mann.

Über seine Hände hat er Gummihandschuhe gezogen, die ihm viel zu klein sind, sie reichen ihm nicht mal bis zum Handgelenk.

»Hältst du mal auf?«

Er wartet gar nicht darauf, was ich sage, sondern drückt mir den Müllsack in die Hand. Dann schiebt er den ausgestreckten Flügel unter den Körper und nimmt den Vogel hoch, sodass der Kopf hin und her wackelt. Ich halte den Müllsack so weit auf wie möglich. Ich kneife die Augen zu. Ich höre das Rascheln von Federn und Plastik, irgendwas berührt meine Finger und ich hoffe, dass das nicht der Vogel, sondern der Arm von diesem Wintec-Mann war.

»Danke.«

Er nimmt mir den Beutel aus der Hand.

Auf seinen Armen wachsen blonde Löckchen. Er schlägt das Plastik um den Adler, sodass er ein kleines Päckchen wird, das er sich unter den Arm klemmen kann.

»Mir tut das auch leid«, sagt er.

Er zieht die Handschuhe aus, knüllt sie in eine seiner Hosentaschen. Aus der anderen zieht er eine Packung Lucky Strike, die er mir entgegenstreckt, aber ich schüttel den Kopf. Früher hab ich manchmal bei Partys geraucht, aber Jan hasst das. Erstens ist es Geldverschwendung und zweitens mag er den Geschmack nicht beim Küssen. Darum muss ich jetzt jede Gelegenheit nutzen, in der ich ein bisschen passiv rauchen kann. Es erinnert mich einfach an die Zeit, als es noch kein Rauchverbot gab. Die Disco-Lichter, die bunten Schwaden im Dorfgemeinschaftshaus, bis dir die Augen tränen.

»Was soll man machen?«, sagt der Mann, die Zigarette im Bart.

Er steht genau da, wo der Vogel eben noch gelegen hat, auf den runtergedrückten Weizenhalmen und um ihn rum die Federn.

»Tja«, sage ich.

Ich hab keine Ahnung, was das alles mit dem Blei zu tun hat. Es geht um die Munition, die die Tiere vergiftet, so viel weiß ich. Ich könnte Jan fragen. Aber dann würde er wieder von alldem anfangen und bis morgen früh nicht mehr aufhören. Der Mann guckt über das Feld.

»Diesig heute«, sage ich und sehe dem Rauch hinterher, den er in die Luft pustet. »Es riecht so doll nach Heu, dass der Verwesungsgeruch gar nich auffällt«, sage ich.

Aber eigentlich riecht es nur nach Zigarette.

Wenn er wirklich schon über vierzig ist, wären das mindestens zwanzig Jahre Altersunterschied. Seine Sommersprossen kommen mir unwahrscheinlich vertraut vor. Der ganze Typ kommt mir sowieso total vertraut vor. Alles an ihm. Wie er raucht und redet und seine Hände in die Tasche steckt.

»Wir müssen weitermachen«, sage ich, gucke noch mal kurz zu seinen Augen hoch, die irgendwo in den Himmel über Lübeck starren. Das Flugzeug ist schon lange weg. Ich hab gar nicht gesehen, wohin es geflogen ist.

 

Ich gehe eine Stufe hoch und noch eine, bis ich in diesen runden Raum sehen kann, mit Sprossen an der Seite, dicken Kabeln und Metallseilen, die sich bis nach oben ziehen. Jan steht neben einem Stromkasten, den Kopf in den Nacken gelegt. Ich schiebe mir die Sonnenbrille in die Haare.

»Jan, komm da raus!«

Meine Stimme hallt zwischen den Wänden hin und her, und ich bin mir sicher, dass alle, die da oben im Turm sind, mich gehört haben müssen.

»Jan!«

»Nerv mich nich!«

Kleine Lichter leuchten hinter den Sprossen und blenden mich so sehr, dass ich das Ende vom Turm nicht sehen kann.

Der Wintec-Mann guckt in unsere Richtung. Vielleicht sieht man doch, dass mein BH gepolstert ist. Eigentlich ist da nicht besonders viel von mir drin. Er wirft seine Zigarette weg, nimmt das Vogelpaket und geht rüber zu dem Bus, aus dem er vorhin den Müllsack geholt hat.

»Ich geh jetzt.«

Ich spüre, wie unter mir die Wärme aus dem Beton aufsteigt. Auch außen am Windradturm ist eine Leiter, aber die beginnt erst zwei Meter über dem Boden. Keine Ahnung, wie man da hochkommen soll.

Mit Jan bin ich mal auf diesen alten Aussichtsturm geklettert, zwischen Restorf und Lüdersdorf. Wir waren beim Pfingstfest, das ist schon Jahre her.

»Komm mal mit«, hat Jan mir ins Ohr geflüstert. »Ich zeig dir was.«

Wir saßen auf so einer wackligen Bierbank. Die anderen waren schon ziemlich betrunken. Und ich hab wirklich überlegt, ob ich mitkommen soll, weil ich dachte, der will ja nur raus mit mir, um irgendwo im Dunkeln rumzuknutschen, was ich ziemlich kindisch gefunden hätte. Jan hat einfach meine Hand genommen und mich durch dieses volle Zelt gezogen bis raus auf den Parkplatz. Sein Auto war verdammt ordentlich, keine Flaschen, keine Pizza-Kartons, kein McDonald’s-Müll, und er hat sich angeschnallt, obwohl wir nur zehn Minuten fahren mussten, bis wir vor einem verrosteten Tor hielten, das mir noch nie aufgefallen war, obwohl ich bestimmt jeden Tag mit dem Schulbus daran vorbeigefahren bin. Ja, ich will ihn, dachte ich in diesem Moment.

Jan schob das Tor durch den Schlamm. Die Absätze von meinen Pumps versanken im Gras.

»Soll ich dich tragen?«, hat er auch noch gefragt.

»Nein, nein.«

Meine Sohlen schmatzten, ich musste meine Absätze immer wieder aus der Wiese ziehen und nach ein paar Metern tauchte der Aussichtsturm im Mondschein auf. Jan stand schon auf der Leiter.

»Na, komm!«, rief er zu mir runter.

Der Turm schwankte und klapperte bei jeder Sprosse. Alles war total verrostet, es war ein Wunder, dass ich mir nicht einen Fingernagel abgebrochen hab. Und ich hatte echt teure Nägel damals.

Ich traute mich nicht an den Rand, obwohl ich mich gerne am Geländer festgehalten hätte, also stand ich nur in der Mitte, während Jan andauernd hin und her lief.

»Okay, tags ist die Aussicht besser.«

Unser ganzes Leben hatte ich ihn ja nur in Gummistiefeln gekannt, die Klamotten immer mit Kuhscheiße verklebt, und er stank nach Stall. Und jetzt hatte er dieses weiße Hemd an und sah fast aus, wie Dawson aus Dawsons Creek.

»Ich will runter«, hab ich dauernd gesagt und den Reißverschluss meiner Jacke ganz nach oben gezogen. Jans Wangen waren eiskalt.

 

Endlich. Das Klappern von der Metallleiter hinter mir. Jans Schritte auf dem Beton.

»Was hast du da gemacht?«, sage ich, als Jan hinter mir angekommen ist.

Ich sinke schon wieder ein im abgemähten Gras. Die Halme fliegen vor mir durch die Luft bei jedem Schritt.

»Soll ich dir jetzt was von Technik erzählen?«

Wenn ich es nicht hören will, erzählt er mir andauernd Techniksachen. Dann versuche ich immer so zu tun, als wäre das superinteressant. Männer brauchen das. Das ist eine der ersten und wichtigsten Regeln, die ich gelernt hab, von Caro: Männern zuhören, oder wenigstens so tun, immer schön lächeln und an den richtigen Stellen bemitleiden.

»Wenn Daniel schon ein bisschen angetrunken is, setzt du dich neben ihn, und wenn er anfängt zu labern, tust du so, als wär das alles megaspannend, reißt deine Äuglein auf, nickst und lächelst.« Genau so hab ich das damals gemacht. Nach zehn Minuten hat Daniel mich gefragt, ob ich nicht mal mit ihm nach draußen kommen will, und da ist es passiert. In den Monaten danach hab ich das dann ziemlich oft gemacht, mit ziemlich vielen Jungs. Bis Caro mit der nächsten Regel ankam: Frauen, die mit zu vielen Männern rummachen, sind Schlampen.

 

Ich drehe mich um, aber der Mann ist nicht mehr da. Wahrscheinlich ist er auch in diesem riesigen Turm verschwunden.

Jan geht um den Trecker und sucht noch mal den Boden ab, während ich mich die Stufen hochziehe. Als ich den Deckel von der Gefrierbox zudrücke, fällt mir das Messer wieder ein, aber da klettert Jan auch schon rein und wirft sich auf den Sitz, der quietschend auf und ab wippt. Ich gucke rüber zum Windrad, suche den Mann mit dem Schnauzbart, aber ich sehe ihn nicht mehr.

Der Motor brummt, rattert ein bisschen und geht wieder aus. Scheiße. Mir wird heiß, ich hebe mein T-Shirt ein bisschen an und wedel mir die Luft auf den Bauch. Dabei hab ich mir eigentlich nichts vorzuwerfen. Der Trecker ist so alt, dass er immer mal wieder nicht anspringt und Jan ein Auto holen muss, um die Batterien irgendwie überzuleiten. Er dreht den Schlüssel zum zweiten Mal um, es rattert, der Motor geht aus.

»Noch mal«, sage ich.

Diesmal höre ich nur noch das Klimpern vom Schlüssel, der Motor macht gar keinen Mucks mehr.

Ich hole mein Handy aus der Tasche und suche Franks Nummer, obwohl ich echt nicht glaube, dass wir ihn erreichen, weil er noch draußen ist und sein Handy immer in der Küche liegen lässt.

»Kannst du mal meinen Vater anrufen?«, sagt Jan, steht auf und guckt zum Windrad. Ich drücke auf den grünen Hörer.

Es tutet. Eine Mücke landet auf Jans Arm. Ich wische sie weg, dann nehme ich das Handy runter, schalte den Lautsprecher ein und halte es Jan hin, damit er es auch hören kann. Als die Mailboxstimme durch den Trecker schallt, drücke ich auf den roten Hörer.

»Gib mir ma«, sagt er, nimmt mir das Handy aus der Hand und wählt.

Ich höre das Tuten, so still ist es, und wünschte, ich wäre beim Windrad geblieben. Dies ist die Mailbox von … Jan legt auf, dann klickt er sich durch meine Kontakte. Wir atmen still vor uns hin, nur die Mücke summt zwischen seinem und meinem Arm hin und her und kann sich nicht entscheiden, wo sie als Nächstes landen soll.

Ein Wintec-Mann kommt aus dem Turm und geht zu einem der Busse. Ich glaub, der mit dem Schnauzbart. Er geht ruhig und entschlossen auf sein Ziel zu.

»Mailbox«, sagt Jan. »Ich hol den Wagen.«

»Ich hab Hunger.«

»Du wartest hier!«

»Und ich muss aufs Klo.«

»Der Boden kann Dünger gut vertragen.«

Jan springt runter ins Gras, und dann geht er querfeldein aufs Dorf zu.

Ich drehe den Schlüssel um und drücke auf dem Radio rum. Nichts. Nicht mal ein winziges Lämpchen geht an. Ich stecke mein Handy ein, kletter aus dem Trecker und stehe neben einem Rehhuf mit ein bisschen Bein.

Der Wintec-Mann steht neben dem Bus, in dem der Raubvogel liegt, und guckt mir entgegen.

»Was vergessen?«

»Trecker springt nich an.«

Er guckt mir direkt in die Augen. Sein Zigarettenrauch weht mir ins Gesicht. Ich stelle mir vor, wie es wäre, ihn zu küssen. Obwohl er so alt ist, oder gerade deswegen, würde ich es gerne ausprobieren.

»Und warum steht es?«, frage ich und nicke zum Windrad rüber.

»Wartungsarbeiten.«

Er wirft die Kippe in einen Reifenabdruck aus vertrocknetem Lehm.

»Klaus«, ruft einer der Männer von der obersten Stufe der Windkraftanlage.

»Bin gleich wieder da.«

»Okay.«

Ich trete den Zigarettenstummel mit meiner Stiefelspitze aus, verwische die Asche mit dem Lehm. Waldbrandstufe 3. Es hat schon ewig nicht mehr geregnet. Im letzten Jahr ist in der Nähe von der Autobahn eine riesige Scheune abgebrannt. Jan hat mit der Freiwilligen Feuerwehr die ganze Nacht gelöscht. Ich bin mit Manuela auf den Berg gefahren. Der ganze Himmel war rot, der Rauch, die Flammen. Es sah aus, als würde eine ganze Stadt brennen. Wie im Krieg. Manuela hat den Männern nachts um vier noch mal Stullen und Cola gebracht, und ich hab mich um die Kälber gekümmert, nur um zu zeigen, dass ich es kann, denn eigentlich wäre ich auch gerne zum Feuer gefahren, aber das hat am nächsten Tag keinen mehr interessiert.

Klaus ist im Windrad verschwunden. Die Schiebetür vom Bus ist offen. Drinnen alles nagelneu. Die Sitze sind sauber, und es gibt einen Tisch voller Spielkarten, die hin und her gerutscht sind. Ein paar liegen sogar auf dem Boden. Eine Tupperdose steht vor dem Fenster. Es riecht nach Orange oder Zitrone, irgendwas Frisches, und im Kofferraum liegt die Tüte mit dem Vogel neben Kabeln und Kisten. Ich hebe die Karten auf und will sie eigentlich nur zu den andern auf den Tisch legen, aber dann sammel ich alle ein und klopfe sie zu einem ordentlichen Stapel zusammen. Auch hier kommt mir alles unheimlich vertraut vor. Der Geruch, das aufgewärmte Polster, als hätte ich diese Tupperdose da heute Morgen hingestellt. Manchmal glaube ich, dass das aus einem vorherigen Leben kommt, wenn man diese Vertrautheitsgefühle hat. Vielleicht habe ich in einem vorherigen Leben nämlich schon mal auf so einer Rückbank gesessen, in einer Kutsche oder in so einem alten Automobil, oder ich habe in einem Casino Karten gespielt, und diese Pik-Dame ist der Auslöser für das Gefühl, dass ich am richtigen Ort bin, dass ich mein Schicksal gefunden hab und mich nicht dagegen wehren soll.

Durch die Frontscheibe sehe ich, wie Klaus aus dem Windrad kommt. Er guckt sich um, als würde er mich suchen. Ich lehne mich zurück, gucke aus der offenen Tür in die wippenden Gräser, versuche mich zu entspannen, aber dieser Orangengeruch macht mich so wach. Dann steigt Klaus ein und es ist unerträglich still, bis ich sage:

»Ich dachte … Sie könnten mich mitnehmen.«

Klaus dreht sich zu mir um. Der Schnauzbart bedeckt seine Lippen, aber dann lächelt er und ich sehe die Falten neben seinen Augen.

»Geht klar.«

Ich stehe noch mal auf und ziehe die Tür von innen zu.

Mein Kopf schlägt gegen die Scheibe, als er anfährt. Die Tupperdose rutscht vom Tisch, die Karten fallen wieder auseinander. Und als sie so vor mir liegen, Herz-Bube, Kreuz-Dame, Pik-Acht, beschließe ich, mindestens eine mitzunehmen, wenn ich wieder aussteige, und diese Karte wird mir sagen, wie es weitergeht. Ich spüre jetzt schon die Energie, die die Karten verströmen mit ihren abbröckelnden Farben und Kaffeeflecken, als hätten sie schon mehr erlebt als ich.

Klaus drückt auf dem Radio rum. Der Fahrtwind reißt mir die Strähnen aus dem Zopf.

»Wenn es zieht, sag Bescheid!«

»Nein, nein.«

Obwohl ich schon eine Gänsehaut hab. Aber manchmal mag ich es, zu frieren, weil es ist, als würde irgendwas Aufregendes passieren.

Je weiter wir fahren, desto weniger will ich aussteigen. Als wir den Berg runterfahren, aufs Dorf zu, weiß ich, dass ich hier sitzen bleiben muss. Keine Ahnung, woher ich das weiß. Schicksal, Bestimmung. Wir sind gleich bei dem ersten Haus, das ja eigentlich das letzte Haus vom Dorf ist. Auf der Wiese von der Deutschlehrerin läuft Samson schon auf den Zaun zu, um uns in ein paar Sekunden anzukläffen. Es ist egal, ob die Lehrerin mich sieht. Niemand im Dorf kennt sie wirklich.

»Wo wohnst du denn?«, ruft Klaus und lässt sein Fenster ein bisschen nach oben fahren.

»Auf dem großen Hof am Dorfplatz.«

»Der Milchviehbetrieb?«

»Genau!«

Im Rückspiegel sehe ich, dass sich seine Mundwinkel ein paar Millimeter nach oben ziehen, als würde er an irgendwas denken, was mit mir zu tun hat, keine Ahnung.

»Aber da will ich nicht hin«, sage ich dann, obwohl ich überhaupt keine Ahnung hab, wohin ich will. Ich will nur sitzen bleiben, in diesem Auto. Samson springt am Zaun auf und ab.

»Wo soll ich dich denn rauslassen?«, fragt Klaus.

In dem Moment klingelt sein Handy, das über dem Radio in so einer Halterung steckt. Er lässt die Fenster nach oben fahren.

»Hallo?«

Wir fahren schon an den Schlehenbüschen vorbei, hinter denen das kleine Reetdachhaus steht, in dem Jans Opa gewohnt hat. Gleich sind wir an der Weide mit den Trockenstehern. Von da kann man schon den Stall sehen. Ich beuge mich unter den Tisch und sammel die Spielkarten wieder auf. Jede einzeln, so langsam wie möglich.

»Ja«, sagt Klaus. »Ja.«

Er bremst ab, kurz bevor wir über das große Schlagloch fahren, das in der Kurve liegt. Caro-Sieben, Pik-Zehn. Dann gibt Klaus wieder Gas. Kreuz-Bube. Herz-Acht. Ich höre das Rauschen in den großen Weiden vor dem Dorfplatz.

»Klar«, sagt Klaus.

Pik-Ass.

Vor dem Fenster leuchten Zapfsäulen, als der Motor ausgeht. Ich weiß nicht, ob ich geschlafen hab, aber jetzt bin ich wach, so wach, als hätte mir jemand eine Spritze voll mit Adrenalin in den Arm gerammt. Diesel, Super 95, Ultimate 100, Benzin. Klaus zwängt sich aus der Tür, drückt sie vorsichtig hinter sich zu. Vielleicht glaubt er, dass ich noch schlafe, aber ich gucke ihm dabei zu, wie er die Tanköffnung aufdreht, den Deckel auf der Tanksäule ablegt und die leuchtenden Zahlen anstarrt, die über das Display laufen.

Mein Nacken ist verspannt. Man darf in Autos einfach nicht einschlafen. Die Karten sind schon wieder überall auf dem Tisch verteilt, als hätte ein Kind versucht, sie zu mischen. Es klickt. 78,43 Euro. Wie spät ist es? Warum habe ich nichts von Jan gehört? Ich ziehe mein Handy aus der Tasche, drücke auf den Tasten rum, aber nichts passiert, und auch als ich ganz lange auf die ON-Taste drücke, bleibt das Display schwarz. Nur die rote Batterie leuchtet auf, flackert und ist wieder weg. Noch eine Spritze. Ohne Handy bin ich völlig allein. Ich weiß noch nicht mal, wo ich bin. Ich suche ein Nummernschild, kann aber keins erkennen, neben uns steht nur so ein flacher Sportwagen, in dem eine blonde Frau sitzt und auf dem Radio rumtippt. Einen Moment glaube ich, das bin ich, ein hängen gebliebener Rest aus meinem Traum oder eine Zukunftsvision. Ich bin fest davon überzeugt, dass alle Menschen die Gabe haben, in die Zukunft zu gucken. Tief im Unterbewusstsein wissen wir auch, was wir in unseren vergangenen Leben alles durchgemacht haben, aber die Wissenschaft, dieser ganze Schulunterricht, hat diese Gabe zerstört. Manchmal blitzt es noch durch, wenn wir es zulassen, aber normalerweise überlagert die Vernunft alles und wir wissen nicht mal, wer wir in diesem Leben sind.

Ich ziehe mir meinen Zopfgummi aus den Haaren, sehe Klaus in der Tankstelle durch die Gänge gehen. Ich lehne mich zwischen den Vordersitzen durch nach vorn, mache das Licht an und stelle mir den Rückspiegel so, dass ich mich sehen kann. Natürlich ist der Spiegel viel zu klein. Meine Haare sehen ziemlich undone aus. Ich wische mir ein bisschen Schlaf aus den Augen, kämme mir den Pony mit den Fingern durch.

Klaus steht an der Kasse. Ich befeuchte meine Lippen, und dann stell ich den Rückspiegel wieder so ein, wie er gewesen sein muss, ungefähr. Ich angel die Tupperdose vom Boden und lasse mich damit auf den Rücksitz fallen. Sie ist leer, mir kommt nur so ein Käse-Plastik-Geruch entgegen, dass mir noch schlechter wird und ich den Deckel sofort wieder zudrücke.

HH steht auf dem Nummernschild von dem Wagen, der jetzt auf die Tankstelle fährt. Ich war erst ein Mal in Hamburg, und das ist ewig her. Ich hatte diese angebliche Adresse von meiner Mutter gefunden. Ich glaube, in einer Jackentasche von meinem Vater, als ich seine Sachen gewaschen hab, da war so ein Zettel, auf dem PetraDa kommen auf gedrängtem Weg, zwei Mörder plötzlich auf den Steg.