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Stephan Otto ist Emeritus der Ludwig-Maximilians-Universität München, an der er den Lehrstuhl für Philosophie sowie für Geistesgeschichte des Humanismus innehatte und das Institut für Philosophie und Geistesgeschichte der Renaissance leitete. Seine weit ausgreifenden ideengeschichtlichen Forschungen folgen dem Konzept einer Kritik der historischen Vernunft, das er in Auseinandersetzung mit Wilhelm Dilthey erarbeitete. Die hier vorgestellte Philosophie des Erinnerungsbewußtseins folgt diesem Entwurf und verknüpft mit der Frage nach den Bildern im Bewußtsein Überlegungen zum Verhältnis von Darstellbarkeit und Darstellung.

Stephan Otto

Die Wiederholung und die Bilder

Zur Philosophie des Erinnerungsbewußtseins

Meiner

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.

eISBN (PDF) 978-3-7873-2094-3
eISBN (ePub) 978-3-7873-3115-4

www.meiner.de

© Felix Meiner Verlag Hamburg 2007. Alle Rechte Vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Umschlagabbildung: Carolus Bovillus, Arbor cognitivarum animae virium, Liber de intellectu, Paris 1510. Umschlaggestaltung: Jens-Sören Mann. Konvertierung: Bookwire GmbH

Für meine Frau

Homo, intendendo mentem, modos rerum, earum imagines et verum humanum gignit.

Giambattista Vico

Anstelle eines Vorwortes

möchte ich dem Leser dieses Buches von einer Begegnung berichten, an die ich mich lebhaft erinnere. Vor vielen Jahren traf ich auf dem Weg zu meiner Vorlesung einen Kollegen, der mich erstaunt fragte, was für ein sonderbares Thema ich da angekündigt hätte: »Philosophie der Erinnerung« – wo es doch eigentlich Sache der Psychologen sei, sich mit dem Erinnern zu befassen!

Seit der Antike haben sich Philosophen sehr aufmerksam und eindringlich mit memoria und reminiscentia, mit Gedächtnis und Erinnerung beschäftigt. Erst in der Neuzeit und insbesondere in der Moderne ist das Thema »Erinnerung« zu einem Problemtitel geraten, und zwar wegen der Bilder, in denen unser Erinnern sich veranschaulicht. War es doch kein Geringerer als Immanuel Kant, der behauptet hat: »wenn man den Begriff nicht von Bildern ablösen kann, wird man niemals rein und fehlerfrei denken können«. Seitdem fällt es den Philosophen schwer, in und mit Bildern zu denken, und manche, zum Beispiel Edmund Husserl, wollten darum die Bilder aus der Erinnerung vertreiben. Das aber hat bedenkliche Folgen für unser Verständnis von Bewußtsein, Subjektivität und Personalität. Die Rede einiger Kulturwissenschaftler von der Erinnerungsvergessenheit der Philosophie ist jedenfalls nicht unbegründet – deshalb habe ich dieses Buch geschrieben. Und ich habe mich bemüht, es so zu schreiben, daß es auch für denjenigen noch lesbar bleibt, der im »Fach Philosophie« nicht zuhause ist; denn wer ein bewußtes Leben führen will, muß das im flüchtigen Strom seiner Erinnerungsbilder tun.

Dennoch wird es gar nicht so einfach sein, dieses Buch zu studieren, denn es ist kein schlichter doxographischer Bericht, es ist keine Erzählung von der Geschichte des Wortes »Erinnerung«. Der Leser möge mir mithin erlauben, einige wenige Hinweise zu formulieren, die für seine Lektüre hilfreich sein dürften. Ich habe eine Analyse der Theoriekontexte unternommen, in denen die Frage nach Gedächtnis und Erinnerung entweder beantwortet werden kann oder aus denen sie verschwindet – und warum sie aus ihnen verschwindet. Dem Gedächtnis, insoweit es neurophysiologisch bedingt ist, mag die Hirnforschung auf die Spur kommen; der Erinnerung und dem Sicherinnern fällt auch der Philosoph nicht mit der Tür ins Haus, und wie er sich in deren Haus zurechtfindet, das hängt von mancherlei Voraussetzungen ab: von den Prämissen, die er setzt, von der Methode, der er folgt, und schließlich von seiner Vorstellung von Philosophie als »Wissenschaft« oder gar als »System«. Das sind die »Theoriekontexte«, an denen mein Buch sich orientiert, Kontexte, die dem Nachdenken über Erinnerung entweder hinreichend großen Spielraum lassen oder diesen Spielraum einengen – bis hin zu einer »Erinnerungsvergessenheit«. Um diese Kontexte vorzustellen, habe ich Vico mit Hegel, Aristoteles mit Plotin und diesen wiederum mit Augustinus konfrontiert, habe ich die Transzendentalphilosophie Kants der Phänomenologie Husserls, Schelers und Ricœurs gegenübergestellt, die Wittgensteinsche Philosophie der normalen Sprache, den französischen Neostrukturalismus und die deutschsprachige Theorie der Subjektivität im Hinblick auf ihr »Erinnerungsdefizit« untersucht und mich mit der Neurowissenschaft auseinandergesetzt, die am »Erinnerungsbewußtsein« an ihre Grenzen stößt. Dabei erwies sich das »Erinnerungsbild« immer wieder als Schnittpunkt der Kontexte und Probleme. Den Leser, der diesen Schnittpunkt, das »Bildproblem«, immer im Auge behält, werden die sich überkreuzenden Linienführungen in meinem Buch nicht verwirren. Er mag sich zudem jene Kapitel zur Lektüre auswählen, die ihn vorrangig interessieren – mit Querverweisen möchte ich ihm das Weiterblättern in anderen Kapiteln erleichtern. Auch in einem philosophischen Buch, meine ich, soll man blättern dürfen. Deutlich machen will ich: daß wir »uns selbst«, unsere Personalität, ohne die Erinnerung mit ihren Bildern niemals »finden« können, daß wir in unserem Erinnern das Vergangene auch nicht »wiederholen«, sondern es uns bildlich »veranschaulichen«. Und ebenso wie mit den »Bildern« hat die Philosophie ja auch mit der »Anschaulichkeit« ihre begrifflichen Probleme.

Diese Zusammenhänge freizulegen und zu zeigen, wie die Frage nach dem Erinnerungsbewußtsein durch Theorien, Methoden und »systemisches Denken« oftmals verdeckt wird, das war meine Absicht. Es versteht sich von selbst, daß die Anlage dieses Buches eine Beschränkung auf die wichtigste Forschungsliteratur erforderlich machte.

München, im Frühjahr 2007

Inhalt

Einleitung

Gedächtniskult und Philosophie der memoria

Erstes Kapitel

Der Konflikt zwischen »Bildern« und »Wörtern«

I. Die Option Vicos: memoria und ingenium oder vom Vorrang der Bilder

II. Die Option Hegels: memoria und Intelligenz oder vom Vorrang der Wörter

III. Ingenium und Intelligenz, Subjektivität und Personalität oder: wie stellen »Erinnerungsbewußtsein« und »Selbstbewußtsein« sich dar?

Exkurs: Erinnerung als »Bild«, als »Schrift« und als »geometrische Figur«. Zur memoria-Lehre der Renaissance

Zweites Kapitel

»Ich denke«, »ich erinnere mich«, »ich erlebe«. Die Philosophie des Erinnerungsbewußtseins zwischen reiner Transzendentalphilosophie und reiner Phänomenologie

I. »Einerseits intellektuell, andererseits sinnlich«. Kants Theorie der »reinen« und der »möglichen« Bilder

II. Anschaulichkeit, Gestalt, Figur. Kant und der manieristische »disegno«

III. »Figürliche Synthesis«: Kants Probleme mit der Anschaulichkeit

IV. Kants »Hypotypose« als »Versinnlichung« von Begriffen

V. Husserl versus Kant: »Anschauung« und »Anschaulichkeit«

VI. »Primäre« und »sekundäre« Erinnerung: Husserls Entdeckung der »Retention«

VII. »Mittelbare« und »unmittelbare Erinnerung«: Schelers phänomenologische Auslegung des Satzes »ich erinnere mich«

VIII. Ein Fazit. Die Bilder der memoria oder von der Falte im Bewußtsein

Drittes Kapitel

Ein Rückblick auf Augustinus und die Antike

I. Augustins memoria als »geistiges Bild«

II. Was Aristoteles »vor Augen stellt« oder Erinnerung und theoria

III. Das »Bilderrätsel« in der memoria-Philosophie des Aristoteles

IV. Memoria und phantasia oder wie Aristoteles dem Gedächtnis ein »Sichtfeld« eröffnet

V. Reminiscentia: Aristoteles vergleicht die Erinnerung mit einer »Jagd«

VI. Aristoteles erfragt die Gründe aller »Versichtbarung«

VII. Das »Siegel« und das »Sehen«: Plotin versus Aristoteles oder Aristoteles versus Plotin?

VIII. Erinnerung und Zeit: Augustins Auseinandersetzung mit Plotin

IX. In regione dissimilitudinis: Augustins Bilddenken im »Reich der Unähnlichkeit«

Viertes Kapitel

»Erkenntnisrelevante Anschaulichkeit«. Die Bilder im Erinnerungsbewußtsein zwischen Anschauung und Begriff

I. Veranschaulichung als »sprachbewegte Form«

II. »Anschauliches Denken« oder »erkennendes Anschauen«?

III. Veranschaulichung als »Wertgefüge«

IV. Das »innere Wort« des Erinnerungsbewußtseins im Konflikt mit der Philosophie der »normalen Sprache«

V. Wahrnehmungsbewußtsein, Erinnerungsbewußtsein, Aufmerksamkeit

VI. Vom »Mythos des Subjektiven« und vom Ich als »Konstrukt des Gehirns«: sind wir unsere Synapsen?

VII. Erkenntnisrelevante Veranschaulichung und »visual mental imagery«

Fünftes Kapitel

Die Bilder der memoria: »Repräsentationen« oder »Wiederholungen«? Zur Differenzstruktur des Erinnerungsbewußtseins

I. Die Differenzstruktur des Erinnerungsbewußtseins und der neostrukturalistische Diskurs über »Differenz«: eine Auseinandersetzung mit Jacques Derrida und Gilles Deleuze

II. Das »Theater« der »unglücklichen«, der »nackten« und der »verkleideten Wiederholung«: Deleuze und Kierkegaard als Dramaturgen eines Theaters ohne Bilder

III. Über Bergsons »Universum der Bilder« und über die Differenz einer mémoire die »vorstellt« und einer mémoire die »wiederholt«

IV. »Repräsentation im Begriff« und »Repräsentanz im Bild«

Sechstes Kapitel

Erinnerungsbewußtsein, Bildbewußtsein, Personalität

I. Erinnerungsbewußtsein und »Theorie der Subjektivität«

II. Erinnerungsbewußtsein und Bildbewußtsein

III. Erinnerungsbewußtsein und Personalität

Anmerkungen

Personenregister

Sachregister

Einleitung

Gedächtniskult und Philosophie der memoria

»Wir sind stets Aktaion in dem, was wir betrachten.
Immer muß etwas anderes betrachtet werden, das Wasser, Diana oder die Wälder, damit man von einem Bild seiner selbst erfüllt wird«.

(Gilles Deleuze)

Den Knoten im Taschentuch – wer kennt ihn nicht, aber wer knüpft ihn noch, um sich gegen das Vergessen zu wappnen und seinen eigenen Bewußtseinshaushalt ins Gleichgewicht zu bringen? Gedenken und Erinnern, in die Anonymität eines öffentlichen Kultes ausgewandert, haben gegenwärtig im Modeatelier der Kulturwissenschaften eine neue, jedoch nur trügerische Heimstatt gefunden, trügerisch deshalb, weil hier die einzelne Person von der Mühe der Selbstfindung durchs Erinnern nur dem Schein nach entlastet wird. So beugt man sich lieber und leichter über die Landkarte der »Gedächtnisorte« des Pierre Nora1 als über die Erinnerungsspuren in der eigenen Seele, über diese plötzlich auftauchenden, plötzlich vergehenden und ebenso plötzlich wiederkehrenden Bilder in der memoria, die vergangenes Leben in subjektive Gegenwärtigkeit herüberretten. Der philosophische Preis dieser Auslieferung der Selbsterinnerung an den öffentlichen Gedächtniskult ist hoch, und ob er einen gesellschaftlichen Mehrwert erbringt, bleibt fraglich.

Eine Philosophie des Erinnerungsbewußtseins, wozu könnte sie dienen, wenn nicht wiederum zu einem Kult, einem Kult der Individualität? Und was kann sie sein? Ein Nachdenken über die memoria als »besonderes Vermögen« des menschlichen Geistes zwischen Einbildungskraft und Verstand? Die Mischung eines Gegengifts gegen das Vergessen von Geschichte? Der anachronistische Versuch, der längst gestorbenen ars memoriae noch einmal Leben einzuhauchen? Oder gar ein Gang zum Altar der Göttin Mnemonsyne, der Mutter der Musen?

Mit der Philosophie des Erinnerungsbewußtseins, wie sie in diesem Buch skizziert werden soll, ist derartiges nicht gemeint. Denn alles derartige ist weder schon Philosophie noch kommt es den wesentlichen Fragen auf die Spur, die hinter dem Rücken der von Aristoteles getroffenen Unterscheidung zwischen mneme und anamnesis, zwischen memoria und reminiscentia sich verstecken. Und auch diese Unterscheidung gibt noch keine Auskunft darüber, wie ein modernes philosophisches Denken mit dem Gedächtnis und der Erinnerung umgehen soll. Denn zum einen steht – aus einer philosophischen Sicht, die Ausschau hält nach Gründen und Begründungen – alles Gedenken und Erinnern zunächst einmal in Beziehung zur »Vergessenheit«: zu einer Vergessenheit, die nicht verwechselt werden darf mit unserem alltäglichen »Vergessen«. Wenn wir nämlich alltäglich und immer wieder vergessen (was durchaus hilfreich sein kann für unser Leben), dann vergessen wir »etwas«; dieses »etwas« entschwindet uns und wir müssen fragen, wohin es denn entschwindet. Zu antworten ist: es entschwindet in eine rätselhafte »Vergessenheit« – aber diese »Vergessenheit« darf nicht als bloßer Gegensatz zum Gedenken und Erinnern betrachtet werden; sie muß in den Blick genommen sein als jener dunkle Grund, aus dem die Helle unseres Gedenkens und Erinnnerns herkommt. Eine scharfe Kontur vermögen wir allerdings solch dunklem Grund, vermögen wir dieser »Vergessenheit« nicht zu geben; genau gesprochen: wir können die Vergessenheit nicht in Verstandesbegriffen denken. Deshalb nahm Platon in seiner Anamnesislehre Zuflucht zu dem Mythos eines schlicht »Vorgängigen«, an das wir uns »wiedererinnern«. Wenn wir aber nun schon die Vergessenheit nicht »denken« können, wie sollte es dann, zum einen, möglich sein, Gedächtnis und Erinnerung zu »denken«? Und zum anderen droht alles Denken, allein schon dadurch, daß es zugreift auf sie, die Inhalte unseres Gedächtnisses ebenso wie alles, dessen wir uns erinnern, zu etwas »Gedachtem« zu machen, es gleichsam unter der Hand in Gedachtes zu verwandeln. An uns selber erfahren wir indes, daß weder dasjenige, dessen wir uns in Glück oder Schmerz erinnern, noch auch jenes, was wir gänzlich unbeteiligt in unserem Gedächtnis nur aufbewahren, »bloß Gedachtes« sind. Nicht nur die memoria, die lediglich aufbewahrt, und die reminiscentia, die darüber hinaus das Aufbewahrte sich zueigen macht, nicht also nur Gedächtnis und Erinnerung sind verschieden und zu unterscheiden; verschieden und zu unterscheiden von beiden ist auch das »reine Denken«. Trotzdem können wir gar nicht denken ohne Gedächtnis und Erinnerung: jeder »reine« Gedanke, den wir denken, wird alsbald (wie der Gedanke »Dreieck«) zu einer von unserer Einbildungskraft affizierten »Figur« oder gerät (wie der Gedanke »Hund«) zu einem »Bild«, und solche Figuren und Bilder sind es, derer wir uns erinnern. Würden beide zu »bloß Gedachten«, dann hätte das »Denken des Gedachten« die figurierenden ebenso wie die bildschöpferischen Leistungen der memoria und der reminiscentia verzehrt und verschlungen, auch unser Bewußtsein wäre dann nurmehr »rein gedacht« – und unser bewußtes Leben geriete zu einem »nur gedachten« Trug. Niemals haben deshalb aufmerksam beobachtende Philosophen die memoria und die reminiscentia von der imaginatio abgetrennt; selten genug jedoch haben sie untersucht, was den »Figuren« und den »Bildern« im Bewußtsein gemeinsam ist und was sie unterscheidet. Dies ist der Problemstand, den eine Philosophie des Erinnerungsbewußtseins in ihren Blick nimmt – um damit jedoch zugleich vor ein neues Problem zu geraten. Denn auch die Philosophie des Erinnerungsbewußtseins muß Denken von Gedanken und Gedachtem sein, wenn sie Philosophie »der Erinnerung« werden und nicht ein ungefähres Nachdenken »über Erinnerung« bleiben soll: ein Nach-denken, das stets zu spät käme und der Erinnerung nur hinterherliefe. Soviel vorerst einmal zur Beantwortung der einen Frage, die ich eingangs stellte: Philosophie des Erinnerungsbewußtseins, was kann sie sein? Zu sagen bleibt noch einiges zu der anderen Frage: wozu könnte sie dienen, wenn nicht zu einem neuen »Kult des Selbst«?

Kein Wunder, daß der Problemtitel »Erinnerung« – als einer der Brennpunkte alles Fragens nach dem bewußten Leben – aus der Philosophie ausgewandert ist, nicht nur aus der an »gesellschaftlichen Bedürfnissen« orientierten, sondern auch aus der »akademischen« der universitären Lehre. Anders gewendet: kein Wunder, daß das Thema »Erinnerung« im Erlebnispark der Kulturwissenschaft, der auf den Ton der Zeit hörenden Erbin der »Geisteswissenschaften«, seinen Platz erhielt; denn die Philosophie selber hat dieses Thema ins Exil geschickt. Ein Blick auf die Literatur der letzten Jahrzehnte kann über das geringe Interesse belehren, welches die philosophische Zunft den Theorieproblemen entgegenbringt, die mit dem Thema »Erinnerung« sich verknüpfen. Da gibt es zwar eine Hermeneutik der Geschichte als Erinnerung, da gibt es bei Herbert Marcuse gesellschaftskritische Verweise auf Erinnerung und Phantasie als Mittel der Befreiung, da stößt man auf Theodor Adornos Sätze über Tradition als unbewußte Erinnerung, Sätze, die auf Marcel Prousts mémoire involontaire zurückweisen, und da findet sich schließlich manch anderes dieser Art. Aber Erinnerung als selber aufzuklärende, der theoretischen Erschließung bedürftige Bewußtseinsgestalt hat keine Konjunktur, und wissenschaftliche Diskurse über Edmund Husserls Phänomenologie der »Retention« und »Protention« lassen sich, natürlich, in publikumswirksame Reden über postmodernes oder »nach-metaphysisches« Denken nicht einbringen. Selbst da, wo Analysen des Erinnerungsbewußtseins doch zu erwarten wären, auf dem Feld nämlich der an Kant und Fichte sich anschließenden »Theorie der Subjektivität«, kommt Erinnerung bestenfalls als Epiphaenomen, wenn nicht gar als Widerpart des epistemischen »Selbstbewußtseins« ins Bild. Paradigmatisch für diese tristesse ist das umfangreiche Buch von Charles Taylor Sources of the Self. The Making of the Modern Identity, eine Beschreibung der Genesis des Selbstverständnisses des Menschen der Moderne auf neunhundert Seiten, publiziert im Jahr 1989; das Wort memory taucht hier, trotz mancher Überlegungen zu Augustinus, nur ein einziges Mal auf, und das auch lediglich in einer Fußnote. Und um mit der memory abzuschließen: in der anglo-amerikanischen Analytischen Philosophie scheint sie noch einmal zu Ehren zu kommen – aber zu doch sehr bescheidenen Ehren, denn hier fungiert sie lediglich als möglicher oder bestreitbarer Indikator individueller Identität im Kontext gesprochener Sprache.

Wohin also soll man reisen, in welches Exil kann man der Erinnerung folgen? Zwei Länder haben ihr Zuflucht geboten: das schon genannte Land der Kulturwissenschaft – und das Land der Literatur. Daß memoria und reminiscentia in einer »Semiotik der Kultur als Gedächtnisraum«2 bestens aufgehoben sind, darf zumindest insofern bezweifelt werden, als die strukturell-philosophischen Fragen, die an Gedächtnis und Erinnerung gestellt werden müssen, in einer lediglich kulturhistorischen Zeichenlehre zur Verhandlung gar nicht kommen können; wenn hinwiederum Kulturwissenschaftler, mit Recht, feststellen müssen, daß die Philosophie »noch immer« durch eine »eigentümliche Erinnerungs-Vergessenheit sich auszeichnet«3, dann bringen sie damit nur zum Ausdruck, daß sich ihr Forschungsfeld tatsächlich als Aufnahmeland der von den Philosophen exilierten memoria verstehen darf. Aber es bleibt auch das Land der Literatur zu durchwandern, und hier werden wir nun wirklich fündig. In den Romanen und Autobiographien eines Primo Levi, eines Jorge Semprún und eines Imre Kertész ist der Erinnerung ein ihr gemäßer Ort zugewiesen. In den Texten dieser Autoren kämpft die Erinnerung an erlittenes Leid mit der Hoffnung, dieses Leid zu vergessen; in ihnen erfährt der Kampf zwischen Erinnerung und der sie bedingenden »Vergessenheit« – Kertész bezeichnet sie in seinem Galeerentagebuch als von der Erinnerung an erfahrenes Schicksal abzuhebende »Schicksallosigkeit« – eine Darstellung in geschriebenen Wörtern und zugleich in anschaulichen Erinnerungsbildern. Die Philosophie, die »Vergessenheit« ja nicht in Begriffen denken kann und deshalb nicht weiß, wie sie das aus solcher Vergessenheit herkommende Erinnern denken soll, muß darum zu dieser Literatur in die Schule gehen – nicht um literarisch zu werden, sondern um zu lernen, daß Denken sich nicht erschöpft in einem »Denken des Gedachten«, des »bloß Gedachten«, sondern daß es sich weiten kann zu einem Denken des in der Erinnerung »darstellbar Gedachten«.4 Hier sehe ich den Zugang zu einer Philosophie des »figurierenden« und »in Bildern arbeitenden« Erinnerungsbewußtseins sich öffnen. Denn das Erinnerungsbewußtsein ist jener Raum, in dem Denken und Gedachtes ihre Abstraktheit abstreifen, um zu konkreter, »anschaulicher« Darstellung zu kommen – und hieran dürfte deutlich werden, wozu die Philosophie des Erinnerungsbewußtseins dienen kann, nämlich: dem philosophischen Denken Anschaulichkeit und anschauliche Darstellbarkeit zurückzuerobern.

Aus diesem Grund stehen die Überlegungen im ersten Kapitel dieses Buches unter dem Motto »der Konflikt zwischen Bildern und Wörtern«, man dürfte auch sagen »zwischen Bildern und Zeichen«. Denn Wörter sind, semantisch betrachtet, nichts anderes als Zeichen. Sie können möglicherweise Anschaulichkeit vermitteln, an sich selber sind sie indes nur Zeichen »für etwas«, für einen Gedanken, für eine Sache, auf die sie lediglich verweisen. Bilder hingegen sind figurierte Anschauung; insofern auch sie »für etwas« stehen, für einen Gedanken oder für eine Sache, bleiben sie zwar Zeichen – aber ihre Bezeichnungsweise ist eine gänzlich andere als die der bloßen Wörter, denn sie bringen das durch sie Bezeichnete unmittelbar in eine anschauliche Figur. Unbeschadet des den Wörtern und den Bildern gemeinsamen Zeichencharakters läßt sich sagen: im Bild ist die Verweisungsfunktion des Wortes »auf« Gedanken oder Dinge in eine anschauliche Darstellung »von« Gedanken und Dingen verwandelt. Daher rührt der Konflikt zwischen Wörtern und Bildern – ein Konflikt, der bis in unser Bewußtsein hereinreicht und den zumal das Erinnerungsbewußtsein auszutragen hat. In ihm stoßen, unablässig, erinnerte Wortzeichen und anschauliche Erinnerungsbilder aufeinander. Auszutragen hat das Erinnerungsbewußtsein diesen Konflikt auch dann und gerade dann noch, wenn es sich als Bewußtsein eines mit sich identischen »Selbst« – als Selbstbewußtsein also und als Kristallisation von »Subjektivität« – zu verstehen sucht.

Mit dem Wort »Subjektivität« ist jetzt ein Stichwort gefallen, dem wir im Kontext einer Philosophie der memoria angespannte und kritische Ausmerksamkeit schenken müssen: Aufmerksamkeit, die auf ein nicht leicht zu entwirrendes Problemfeld sich richtet, das wiederum erst vor dem Hintergrund der unterscheidenden Rede über memoria und reminiscentia sich auftut. Auf diesem Problemfeld ist die Frage zu verorten, wie Subjektivität – als auf sich zentriertes »Selbstbewußtsein« – zu einem »Erinnerungsbewußtsein« sich verhält, das zwar als »subjektiv« sich erfährt, aber in der Flut seiner erinnerten Wörter und Bilder eher zu versinken droht als »zu sich selbst« zu finden vermag. Auf diesem Problemfeld ist ferner die Frage zu stellen, in welcher Weise Subjektivität in einem Erinnerungsbewußtsein aufscheint, dessen »bleibende« Form im »bewegten« Fluß eines retentiven und protentiven »Bewußtseinsstroms«, wie Husserl ihn beschrieben hat, sich zeigt. Und auf diesem Problemfeld ist schließlich und vor allem ein Kantischer Gedanke zu prüfen: der Gedanke eines »stehenden und bleibenden Ich«, der Gedanke eines transzendentalen Subjekts, eines vom Philosophen erdachten »Ich denke«. Von ihm sagt Kant: »das Ich denke muß alle meine Vorstellungen begleiten können«, und zur Erklärung dieses Satzes fügt er umgehend hinzu: »denn sonst würde etwas in mir vorgestellt werden, was gar nicht gedacht werden könnte« (KrV, B 131 f.). Kaum einem Leser des zweiten Satzes ist bislang aufgefallen, daß er einen Schlüssel birgt zum Verständnis der Exilierung der memoria aus dem »reinen« philosophischen Denken. Es ist hier noch nicht der Ort, diesen Satz ausführlich zu kommentieren, aber es ist unverzichtbar, bei ihm schon jetzt kurz zu verweilen. Erstens, um die Konturen einer Philosophie des Erinnerungsbewußtseins etwas genauer abzustecken; zweitens, um klar zu machen, warum Kant das »vorgestellt werden« und das »gedacht werden«, warum er die Vorstellung und das Denken derart eng zueinander rückt; und drittens, um wenigstens eine jener Wurzeln auszugraben, aus denen die Probleme herausgewachsen sind, welche die Philosophie mit dem Gedächtnis und mit der Erinnerung bis heute hat.

Figuren und Bilder im Erinnerungsbewußtsein sind gewiß auch »Vorstellungen«, Vorstellungen allerdings ganz besonderer Art. Sie zeigen nämlich, wie der römische Hausgott Janus, ein doppeltes Gesicht: eines, das zurückblickt nicht nur auf geistige, sondern auch auf sinnliche, erlebte Erfahrungen; und zugleich ein anderes, das vorausblickt auf eine Instanz, welche die mannigfaltigen Erinnerungsvorstellungen ordnen und zu einer Einheit derart fügen kann, daß man sagen darf »ich erinnere mich«. Das Ich in diesem Satz »ich erinnere mich« ist dann diese Instanz, die die zahlreichen, noch nicht miteinander verbundenen Vorstellungsbilder im Erinnerungsbewußtsein zu einem Sich-erinnern dieses Ich versammelt und eint, also zu einer »Synthesis« bringt. Von welcher Art muß dieses ordnende, versammelnde und einende Ich nun sein? Kann es ein Ich im Erinnerungsbewußtsein bleiben, oder muß es als ein reines, transzendentalisiertes »ich denke« begriffen werden, welches alles Vorstellen und Erinnern nur »begleiten« kann, aber auch begleiten »können muß«? Von der Unschärfe und Polysemie des Kantischen Vorstellungsbegriffes kann die Rede hier nicht sein. Aber gesagt muß werden, daß Vorstellungen im Erinnerungsbewußtsein nicht solche sind, wie nur ein transzendentales »ich denke« sie vor sich bringt und vor sich hinstellt, damit sie von ihm »gedacht werden« können.5 Denn sie zeigen dem Denken und insbesondere dem »stehenden und bleibenden Ich« des transzendentalen Denkens nur eines ihrer beiden Gesichter. Sie sind deshalb nicht geradewegs in »Gedachtes« zu verwandeln. Kants theoretisches Interesse bleibt beschränkt auf Vorstellungen, die von einem transzendentalen »ich denke« zu einer »gedachten Einheit« gebracht werden »können«, seine transzendentale Philosophie ist aus diesem Grund vor der memoria und vor der Eigenart der Erinnerungsvorstellungen zurückgewichen. Sie hat auch vor der Rede »ich erinnere mich« die Flucht ergriffen und jene Seite der Erinnerungsvorstellung, die auf sinnliche Erfahrung zurückverweist, schlicht einem »empirischen Bewußtsein« überantwortet. Schon damit sind Kant die Theorieprobleme der memoria – und zumal die Strukturprobleme eines Erinnerungsbewußtseins, von dem in der Kritik der »reinen« Vernunft ja auch nie die Rede ist – entglitten. Darüber hinaus war Kant der »kritischen« Überzeugung, daß erst eine transzendentale Subjektivität, daß erst das reine »ich denke« jenseits aller Sinnlichkeit die »gedachten« Vorstellungen zu »meinen« Vorstellungen macht. Doch triftig ist solche Überzeugung nur dann, wenn man einzig die Verbindung dieses transzendental gedachten »ich denke« mit »gedachten« Vorstellungen als »ursprüngliche Verbindung« (KrV, B 133) versteht – und damit den Erinnerungsvorstellungen mit ihrem doppelten Antlitz jede »Ursprünglichkeit« abspricht. Wenn wir aber ohne Erinnerungsvorstellungen, ohne die Wörter, Figuren und Bilder der memoria – und damit ohne die veranschaulichende »Phantasie«, wie Aristoteles in seiner Schrift Über die Seele betont – niemals denken können: sind dann unsere Erinnerungsbilder nicht noch viel »ursprünglicher« als jene nur gedachten Vorstellungen, die Kant der »transzendentalen Einheit des Selbstbewußtseins« unterwirft?

Vom transzendentalen und spekulativen Idealismus – der »klassischen« deutschen Philosophie – wurde das Thema »Subjektivität« maßlos übersteigert, bis hin zum Begriff einer »absoluten Subjektivität«, und Hegel setzte in seiner Wissenschaft der Logik alles daran, diesen »Begriff« noch einmal zu übertrumpfen, ihn nämlich in die »Idee« als »die Einheit des Begriffs und der Realität« zu erheben.6 Aber in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, dem Aufriß seines »Systems«, arbeitet sein Denken an dieser Realität sich nun auch ab: hier findet die »reale« Subjektivität des Menschen, und mit ihr die Erinnerung, eine subtile Darstellung. In der letzten Fassung dieses Werkes aus dem Jahr 1830, und zwar in den »Zusätzen«, die auf Mitschriften seiner Hörer beruhen, lesen wir den Satz:

»Hier, in der Erinnerung, fassen wir unsere Subjektivität, unsere Innerlichkeit, ins Auge und bestimmen das Maß der Zeit nach dem Interesse, welches dieselbe für uns gehabt hat« (§ 452, Zusatz).7

Damit sind wir bei einem der beiden Texte angelangt, um welche die Überlegungen des ersten Kapitels dieses Buches über die Philosophie des Erinnerungsbewußtseins kreisen. Der andere Text, den ich dem Hegelschen gegenüberstelle, steht in Giambattista Vicos Neuer Wissenschaft und lautet:

»Die memoria ist memoria, wenn sie die Dinge wiedererinnert; sie ist fantasia, wenn sie die Dinge verändert und nachschafft; sie ist ingegno, wenn sie den Dingen eine neue Einfassung gibt und sie in eine taugliche, zu errichtende Ordnung bringt« (SNS § 819).8

Um mögliche Mißverständnisse von Anfang an auszuschließen: es geht hier nicht um einen historischen Vergleich Vicos mit Hegel. Hegel hat die Neue Wissenschaft vermutlich gar nicht gekannt, jedenfalls hat er sich niemals mit ihr auseinandergesetzt.9 Im Rahmen einer Philosophie des Erinnerungsbewußtseins ist hier auch einzig eine Sachfrage von Interesse: die nach den die beiden Texte beherrschenden Leitbegriffen, also »Subjektivität« und »ingenium«. In der deutschen Geistesgeschichte hat die Philosophie des »ingenium«, wie sie in der Renaissance, im Barock und dann noch von Vico erörtert wurde, ihre Verkürzung zu einer Ästhetik des »Genies« erfahren. Die Triade memoria-fantasia-ingegno ist indes noch strikt philosophisch-methodologisch konturiert, Vico will mit ihr die Einheit des menschlichen Geistes in der Differenz von drei »Grundoperationen« zur Darstellung bringen. In moderner Sprache: unter der Direktive des im Bewußtsein »Ordnung« schaffenden ingegno sollen das vom Gedächtnis imprägnierte Erinnern an Dinge und das imaginative Vorstellen, dieses »Nachschaffen« von Dingen, zu einer »Synthese« kommen.10 Unterläuft eine solche »ingeniöse Synthese« denn nicht die sematologische Differenz zwischen erinnerten Sprachzeichen – Wörtern also, die Anschaulichkeit bestenfalls vermitteln – und erinnernden Vorstellungsbildern in ihrer unmittelbaren Anschaulichkeit? Anders gesagt: vermag Vicos ingenium-Konzept den »Konflikt zwischen Wörtern und Bildern« im Erinnerungsbewußtsein zu steuern? Macht Vicos Begriff des ingegno, dieser Leitbegriff seiner metafisica della mente umana, einen solchen Konflikt vielleicht sogar vermeidbar? Das Gewicht dieser Frage wird spürbar, wenn wir Vicos »ingeniöse Geistestrinität« memoria-fantasia-ingegno mit Hegels in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften entworfenen Lehre vom »theoretischen Geist« konfrontieren; denn diese Lehre lebt geradezu vom Streit zwischen Bildern und Zeichen oder »Namen«, sie basiert auf der »sematologischen Differenz« von Bild und Wort – und rückt damit die Rede von »unserer Subjektivität« als einer »Innerlichkeit«, die wir »in der Erinnerung ins Auge fassen« sollen, in ein oszillierendes Licht. Der »Mnemonik der Alten«, welcher er den Vorwurf macht, »die Namen in Bilder zu verwandeln« und damit den Geist »auf die Folter gesetzt« zu haben, stellt Hegel den Satz entgegen: »Bei dem Namen Löwe bedürfen wir weder der Anschauung eines solchen Tieres noch auch selbst des Bildes, sondern der Name, indem wir ihn verstehen, ist die bildlose einfache Vorstellung. Es ist in Namen, daß wir denken« (Enz § 462).

Sollte tatsächlich erst ein »bildloses Verstehen« uns zum »Denken« bringen? Wer unser Denken lösen wollte von den Bildern der Welt, die wir betrachten und erinnern, der käme auch niemals – Gilles Deleuze sagt das sehr treffend, und er folgt damit der Erzählung des Giordano Bruno vom Bilderjäger Aktaion – zu einem »Bild seiner selbst«.11

Erstes Kapitel

Der Konflikt zwischen »Bildern« und »Wörtern«

Kants Entwurf einer transzendentalen Philosophie des »Ich denke überhaupt« ebenso wie die an Kant (wenngleich kritisch, nämlich an der Idee eines monistischen »Systems« orientierten) Philosophien Hegels, Fichtes und Schellings haben in die europäische Geistesgeschichte einen tiefen Schnitt eingetragen, der nicht lediglich aus der Optik auf den durch diese Zäsur ermöglichten Gewinn betrachtet werden darf, sondern auch mit einem Blick auf die solchen Gewinn begleitenden Verluste. Denn neben dem von der »klassischen« deutschen Philosophie hell – und sogar bis zur Blendung überhell – ausgeleuchteten Weg zum »Selbstbewußtsein«, zur »absoluten Subjektivität« und zum »spekulativen Begriff« mußten andere Pfade des Denkens ins Dunkel geraten: nicht zuletzt die Pfade einer Reflexion über die memoria und ihre die erlebte Welt erinnernden Bilder, einer Reflexion mithin über unser Erinnerungs- und Bildbewußtsein. Schon Kant hatte derartige Pfade nicht verfolgen wollen, weil sie seiner Meinung nach (davon wird im zweiten Kapitel die Rede sein) nur in die »Psychologie« und zurück zur »Empirie« führen konnten. Mit welchen Schritten der Kantkritiker Hegel diese Pfade nun doch wieder betrat, aber zugleich als Zugänge zu seinem »System« neu kartographierte, soll in diesem ersten Kapitel untersucht werden: entlang den beiden in der Einleitung vorgeführten Sätzen Vicos und Hegels über memoria und Erinnerung im Gefälle der sematologischen Differenz zwischen Bild und Wort. Am Vorrang des Bildes vor dem Wortzeichen, an dem Giambattista Vico festhält (im ersten Abschnitt dieses Kapitels beschrieben) und demgegenüber am Vorrang der Zeichen und Wörter vor allen Bildern, für den Hegel votiert (im zweiten Abschnitt dargestellt), läßt sich nicht nur ein Ergebnis jener Zäsur abnehmen, mit der sich die klassische deutsche Philosophie von der (wie man um 1800 sagte) »vormaligen Metaphysik« distanzierte; darüber hinaus läßt sich an diesem Ergebnis verdeutlichen, welche neuen Fragestellungen eine philosophische Erkundung des Erinnerungsbewußtseins mit seiner Bilderwelt von nun an als für die philosophische »Theorie« irrelevant erscheinen ließen. Ich werde die These formulieren und begründen, daß mit der von Hegel vollzogenen »Aufhebung« der in Bildern arbeitenden memoria in ein von jedweder Bildlichkeit befreites, Er-Innerunggenanntes »In-sich-gehen des Geistes« das Thema »veranschaulichendes Erinnerungsbewußtsein« zu einem Trauma der Philosophie geraten ist – und das für lange Zeit.

Im Ausgang von der Konfrontation des Vicoschen Denkmodells mit demjenigen Hegels wird im dritten Abschnitt dieses Kapitels die Grundlegung einer Philosophie des personalen Erinnerungsbewußtseins skizziert (das sechste und letzte Kapitel des Buches knüpft an diese Grundlegung an). Der umgangssprachliche Satz »ich erinnere mich« – strikt zu unterscheiden von dem Satz »ich habe Erinnerungen«, welcher der Analytischen Philosophie als Paradigma dient – soll im Hinblick auf seine philosophische Relevanz geprüft werden. Dabei gerät ein Darstellungsproblem in den Blick, insofern nämlich zu untersuchen ist, ob und wie das Ich in der Aussage »ich denke« im Ich derAussage »ich erinnere mich« darstellbar sein und zur Darstellung kommen kann – und zwar einzig im umgreifenden Gesamtgefüge der Person. Weder Kants transzendentales »Ich denke überhaupt« noch Hegels Konzept einer Er-Innerung als Insichgehen »des Geistes« eröffnen eine Perspektive auf die Darstellbarkeit ichbezüglichen »Selbstbewußtseins« im personalen Erinnerungsbewußtsein, im Sich-erinnern einer Person. Die Frage nach dem Modus, in dem die Aussage »ich denke« zu der Aussage »ich erinnere mich« sich verhält (oder die Frage, in welcher Weise das Denken einer Person, die sich als »Ich« bezeichnet, sich auf das »Ich« in dem von Bildern durchzogenen Sicherinnern dieser Person bezieht) wird damit zu einer für die Philosophie des Erinnerungsbewußtseins basalen Frage.

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I. Die Option Vicos: memoria und ingenium oder vom Vorrang der Bilder

Ebenso wie Hobbes seinem Leviathan hat Vico der Neuen Wissenschaft ein Bild vorangestellt: die berühmte »dipintura« der Metaphysik, der »Frau mit den geflügelten Schläfen« (SNS § 2). Aber der Text, den Hobbes schrieb, ist lesbar und verständlich, ohne daß man sein Frontispiz betrachten müßte; denn der abgebildete Leviathan »illustriert« lediglich die Überlegungen, die Hobbes in geschriebene Wörter längst gekleidet hat. Ganz anders Vicos »dipintura«: wer sie nicht aufmerksam betrachtet, dem muß die Scienza Nuova unverständlich bleiben. Deren Idee ist nämlich mit dem Bild der »Dame Metaphysik« nicht zusätzlich und nachträglich erläutert; vielmehr gründet sich die gesamte Textur des von seinem Verfasser immer wieder überarbeiteten Buches auf dieses von allem Anfang an in den Blick zu nehmende Bild. Vico selber betont das, schon in seinen ersten Sätzen: das Bild »soll dem Leser helfen, die Idee dieses Werkes vor der Lektüre zu erfassen, um sie nach der Lektüre mit Hilfe der Phantasie leichter im Gedächtnis zu behalten« (SNS § 1). Wir horchen auf: einmal, weil memoria und fantasia die Bühne der Neuen Wissenschaft schon in der ersten Szene betreten, und sodann, weil Vico doch nichts anderes sagt als: am Anfang aller lesbaren geschriebenen Wörter steht ein Bild. Und daß artikulierte Wörter von anschaulichen Bildern auch immer herkommen, gerade dies will Vicos »neue« Wissenschaft ja dartun. Man denke nur an die universali fantastici, an jene Bildschöpfungen des Mythos, in denen die Scienza Nuova den Urgrund aller rationalen Sprache mit ihren zu Texten geronnenen Wörtern erblickt. Am Anfang aller Wörter, die wir hören oder sprechen, stehen Bilder, die wir malen und sehen – wie das Bild des donnernden Jupiter, das in der Geschichte der Kultur allererste vom menschlichen Geist »erfundene« Bild (SNS § 377). An den Vorrang der Bilder will Vico erinnern, und seine eingangs zitierten Sätze über die memoria zunächst als Wiedererinnerung, dann als bildschaffende Phantasie und schließlich als ordnendes Ingenium werden überhaupt nur anhand dieser Führungslinie wirklich verständlich. Wir müssen darum dieser Führungslinie aufmerksam folgen – zurück zur »dipintura« und weiterschreitend zu ihrer Auslegung in Vicos ganzem Werk –, um seiner Philosophie der Erinnerung und der erinnernden Bilder auf die Spur zu kommen.

Das Frontispiz der Scienza Nuova ist nicht lediglich ein Bild, das »etwas« darstellt: die Gestalt der Metaphysik in ihrer »ekstatischen Haltung«; das Auge Gottes »mit dem Blick seiner Vorsehung«; die Statue des Homer, des »wahren« Homer, der für Vico keine historische Person ist, sondern wiederum ein Bild, ein Bild nämlich, in welchem die in der memoria der Griechen aufbewahrten Erzählungen von den Heroen Achill und Odysseus sich spiegeln, Erzählungen, die von Mund zu Mund gingen, weil die Wörter der Schrift noch gar nicht erfunden waren. Erst Vicos »Metaphysik des menschlichen Geistes« vermag diesen »wahren Homer« zu sehen, und von ihr erst wird gesehen, wer und was der »wahre« Homer wirklich war. Ein Bild nun, das Dinge und Figuren darstellt, ist die »dipintura« zwar auch, aber nicht nur. Denn darüber hinaus ist sie ein »Bild der Bilder« oder ein Bild, das jene zwei Momente enthält, aus denen die »Bildlichkeit« eines jeden Bildes besteht: aus dem Sehen und dem Gesehenwerden – aus der »Reflexivität« mithin des Bildes. Man muß dieses Frontispiz nur genauer betrachten als es üblicherweise geschieht: da können die philosophischen Blicke der Metaphysik dem Vorsehungsblick Gottes entgegensehen, weil der Lichtstrahl aus dem alles übersehenden göttlichen Auge längst den »konvexen Edelstein« getroffen hat, mit dem die Dame Metaphysik »ihre Brust schmückt« (SNS § 5). Und dieser Edelstein reflektiert jetzt den ewigen Blick des göttlichen Vorhersehens gebrochen in die Zeit und die Menschengeschichte hinein – auf Homer, das Spiegelbild des »heroischen Zeitalters« (SNS § 808). Vicos Frontispiz ist das Bild eines »Denkens in Bildern«, wie die Neue Wissenschaft es nicht minder deutlich vorführt, indem sie in die Mitte ihrer Geistestriade memoria-fantasia-ingegno ein Vermögen rückt, das Bilder erzeugt. Genauer noch: das Bilddenken Vicos in der Scienza Nuova ist ein Denken der Reflexivität des »Sehens« und des »Gesehenwerdens«, und als solches trägt es auch seine metafisica della mente umana. »Der menschliche Geist«, so lautet ein Axiom im ersten Buch der Neuen Wissenschaft, das deren »Prinzipien« enthält, »neigt wegen der Sinne natürlicherweise dazu, sich selbst draußen, im Körper zu sehen, und nur unter großen Schwierigkeiten mittels der Reflexion sich selbst zu begreifen« (SNS § 236). Was hier mit »Reflexion« gemeint ist, hat nichts zu tun mit jenem Streit um die »Reflexionsphilosophie«, den die »klassischen« deutschen Philosophen austrugen. Vicos Axiom erklärt sich aus seinem »Denken in Bildern« und besagt: der menschliche Geist begreift sich selbst einzig dann, wenn er das »natürliche Sehen« des von Platon gemalten Bildes seiner Gebanntheit in den Leib »zurückwendet« zu einem Hinsehen auf sich selber, zu einem »Sehen«, in dem dieser Geist im Bild der Triade memoria-fantasia-ingegno »gesehen werden« kann. Diese Triade transportiert sehr wohl eine »Theorie« der Einheit des Geistes in seinen voneinander zu differenzierenden Vollzügen, in welchen er »sich selbst begreift«; aber die Vicosche »Theorie« schöpft ihr Leben aus dem Bild, in dem sie sich selber veranschaulicht.

»Theoretisches« Denken an Bilder zu binden oder gar »in Bildern« zu denken, das gilt »kritischen« Philosophen als Verwechslung von »Reflexion« und deren »Darstellung«, als unkritische Vermischung gänzlich verschiedener Diskurse. Es ist ja auch nicht leicht zu begreifen, wie ein Denken in anschaulichen Bildern von einem »reinen« Denken »gedacht« werden soll – und so erklärt sich, warum Philosophen immer wieder, geradezu verzweifelt, aus Kants Konzept der Darstellung oder »Hypotypose« als der »Versinnlichung« von Begriffen (KdU § 59) eine Antwort auf diese Frage heraushören möchten. Aber Begriffe lassen sich nicht »versinnlichen« ohne etwas ganz anderes zu werden als »Begriffe«; deshalb bleibt auch Kant in der bildlosen Rede stecken, daß der »schematischen« Darstellung ein sinnlicher Anschauungsinhalt »a priori gegeben« und der »symbolischen« Darstellung die sinnliche Anschauung »untergelegt« werden muß. Kants Darstellungsdenken bleibt – er sagt es selber – »demonstrativ« und »analogisch«, den Bildern »im« Denken und Erinnern hält es nicht stand. Der »Theorieblick« solcher Art Philosophie verhindert, daß dem »Bild« die gleiche Aufmerksamkeit zuteil wird wie dem »Wort«, dem bloßen »Zeichen« des Gedankens. Angesichts des kartesischen Wortzeichens »ego cogito« hat Vico solche Weise zu philosophieren eine »Barbarei der Reflexion« genannt, eine Barbarei »der abstrakten Wörter« (SNS § 699), die noch verhängnisvoller sei als eine »Barbarei der Sinne« (SNS § 1106) – und deshalb hat er seine Geistestriade in Bildern anschaulich beschrieben: die Phantasie oder Imagination ist nichts anderes als ein »Wiederhervorspringen« von Erinnerungen und das Ingenium nichts anderes als ein »Arbeiten« an den Dingen, derer man sich erinnert (SNS § 699). Für Vico ist »Reflexion« anschauliche, in Sicht nehmende Darstellung und »Darstellung« die anschaulich gemachte Reflexion, die in anschauliche Sicht genommene Theorie.

Schon in seinem Metaphysischen Buch, lange Jahre vor dem Entwurf der Neuen Wissenschaft, hatte Vico die Phantasie »das Auge des ingenium« genannt1 und von ihr als dem »gewissesten« Vermögen unseres Geistes gesprochen, weil wir mit ihr »uns Bilder machen« (LM 118/119). Bereits in dieser Schrift hatte er zudem die memoria und die reminiscentia mit der Phantasie oder Imagination identifiziert und dazu erklärt: »wir können uns nichts anderes vorstellen als dasjenige, woran wir uns erinnern« (LM 124/125); dem ingenium hatte er dabei die Aufgabe zugewiesen, das Zusammenmaß der Dinge zu sehen«, das Zusammenmaß mithin auch der Einbildungskraft und der Erinnerung. Das ingenium gilt ihm darum als »das Vermögen, Getrenntes und Verschiedenes zu einer Einheit zu verbinden« (LM 126/127). Auch hier spricht Vico also von einer »Synthesis« – aber nicht in der abstrakten Gestalt einer »transzendentalen Apperzeption«, sondern in der konkreten Figur eines verknüpfenden Grundes für das Sehen und Gesehenwerden von anschaulichen Bildern, die wir uns vorstellen und derer wir uns erinnern. Die Dignität, die schon im Liber metaphysicus»dipintura«LMLMLMgeniummemoriaphantasiaingeniumRegulae ad directionem ingenii