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Richard H. Popkin

Mit allen Makeln

Erinnerungen eines Philosophiehistorikers

Anhang:
Die dritte Kraft im Denken des 17. Jahrhunderts

Mit einem Vorwort hrsg. von
Martin Mulsow

Meiner

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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eISBN (PDF) 978-3-7873-2097-4
eISBN (ePub) 978-3-7873-3116-1

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Inhalt

Vorwort von Martin Mulsow

Mit allen Makeln. Erinnerungen eines Philosophiehistorikers

Anhang:
Die dritte Kraft im Denken des 17. Jahrhunderts

Bücher von Richard Popkin

Vorwort

Richard H. Popkin gilt als einer der großen Philosophiehistoriker des 20. Jahrhunderts – und doch ist sein Werk für das deutsche Publikum erst noch zu entdecken. Seit I960 hat Popkin in zahlreichen Büchern und Sammelbänden Themenfelder der Geistesgeschichte eröffnet, von denen sich die traditionelle Philosophiehistorie nichts hätte träumen lassen. Es geht bei ihm um unbekannte Skeptiker, häretische Juden, chiliastische Träumer, um die Vertreibung der Juden aus Spanien, die Entdeckngen von Kolumbus und die Untergrundliteraten der Aufklärung – aber auch und immer wieder um die großen Denker wie Spinoza, Hobbes, Leibniz, Newton oder Hume. Nur werden diese Denker in ein ganz neues Licht gerückt, indem sie in ihre geschichtlichen Kontexte zurückversetzt werden, die eben von allerlei seltsamen und uns fremdgewordenen Strömungen gekennzeichnet waren.

Denjenigen, die Popkin kannten, war schnell klar: Dies ist kein gewöhnlicher Philosophieprofessor. Der Mann scherte sich weder um akademische Förmlichkeiten noch um die Regeln der Grammatik. Seine Mutter war eine Romanschriftstellerin.1 Popkin selbst hatte die Gabe eines genialen Gedächtnisses. Entsprechend begann er als Mathematiker, wechselte dann aber bald über zur Philosophie. Popkin war im Herzen ein Detektiv, und sein vieldiskutiertes Buch über den Kennedymord, The Second Oswald (1966), bestätigt diese Leidenschaft. Er liebte es, riesige komplizierte Informationsmengen zu einem kohärenten Ganzen zusammenzusetzen. Was immer es war – Watergate oder der junge Spinoza –, Popkin suchte nach unentdeckten Spuren. Noch das späte mit David Katz verfaßte Werk Messianic Revolution von 1999 ging vom Attentat in Oklahoma City aus, um dessen ideologische Spur zwischen Antisemitismus und Endzeiterwartung bis weit in die Frühe Neuzeit hinein zurückzuverfolgen. Die Frühe Neuzeit war denn auch das eigentliche Gebiet, auf das der am 27. Dezember 1923 geborene Popkin seinen philosophiegeschichtlichen Spürsinn richtete. 1960 erschien sein bis heute bekanntestes (aber nie ins Deutsche übersetztes) Buch: The History of Scepticism from Erasmus to Descartes. Darin wurde jener Skeptizismus wiederentdeckt, der seit dem späten 16. Jahrhundert von Kreisen der katholischen Kirche genährt wurde, um den Rationalismus vieler Protestanten zu unterminieren. Popkin las Montaigne, Descartes – und später auch Spinoza und Bayle2 – im Lichte dieses Narrativs auf neue Weise. Und er vervollständigte sein Bild von diesen Denkern – und von Hobbes, Glanvill, Hume und vielen kaum bekannten Theoretikern –, indem er in den folgenden Jahrzehnten dem Puzzle ständig neue Teile zuführte: etwa den Millenarismus, also die Endzeiterwartung, die so viele Philosophen und Wissenschaftler von Comenius bis Newton umtrieb und ihre Systeme prägte. Die Gewißheit der Endzeit aus einer unfehlbaren Bibeldeutung heraus erschien manchen ein besserer Weg aus der skeptischen Krise als das cartesische »cogito«. Zwischen den Rationalisten und den Empiristen waren diese Männer (und eine Frau: Anne Conway) eine nicht zu unterschätzende »Third Force«. Popkin lag viel daran, die Einteilungen der philosophischen Lehrbücher aufzubrechen. Vor allem die angloamerikanische Philosophiehistorie der Nachkriegszeit neigte zu der Vereinfachung, alles in die Felder Rationalismus und Empirismus aufzuteilen. Wenn Philosophiegeschichten heute damit vorsichtiger sind, ist das nicht zuletzt Popkin zu verdanken.

Der Detektiv Popkin verfolgte seine Spuren aber auch bis in den Untergrund der »clandestinen Philosophie« von religionskritischen Pamphleten wie der berüchtigten Schrift über die »drei Betrüger« Moses, Jesus und Mohammed. Oder den antichristlichen Schriften, die in den Kreisen der Amsterdamer Juden um 1700 zirkulierten, bevor sie ihren Weg in den Schwarzmarkt der Aufklärer und in die Hände der Deisten fanden. Jüdisches (häretisches) Denken war dem Nachkommen russischer Juden immer ein Anliegen. Er spekulierte über die Verbannung Spinozas aus der jüdischen Gemeinde, über die Aktivitäten des großen Vermittlers Menasse ben Israel oder das mögliche Marranentum (verborgenes Judentum) von Isaac La Peyrère, einem der ersten Bibelkritiker. Nicht immer sind seine oft gewagten Hypothesen akzeptiert worden, aber immer war die Forschung dankbar für die Anregungen.

»Popkin knew hundreds of sixteenth-, seventeenth-, and eighteenth-century thinkers personally,« hat Popkins Schüler Richard Watson bemerkt. «Perhaps several thousand. He had read their letters and private papers, noted what they underlined in the book they read, checked mentions of their names in official documents, virtually memorized the book they wrote, and registered their relations to one another. His memory was omnivorous, nothing […] ever escaped, but what defined the man was that his mind ranged around in that memory bank and made all the connections.«3

Popkin, der in Iowa, St. Louis und Kalifornien gelehrt hat und dazwischen rastlos auf Reisen war, verbrachte seine letzten Jahrzehnte in Pacific Palisades bei Los Angeles, dem bevorzugten Ort deutscher Emigranten. Schon seit Jahren von Lungenproblemen gezeichnet und am Ende fast blind, hat er dennoch nie seinen spezifischen Humor verloren immer wieder den großen Kreis seiner Mitstreiter und Korrespondenten mit der Offenheit und Großzügigkeit seiner Hinweise verblüfft. Bis zuletzt hat er an Projekten gearbeitet, mit Unterstützung studentischer Helfer, die ihm Texte vorlasen und das Eintippen übernahmen. Er saß in seinem Rollstuhl, schrieb Texte still in seinem Kopf und konnte dann aus dem Gedächtnis heraus diktieren. Bis zuletzt hat er Freunden seinen Wissensschatz geöffnet und Informationen und Adressen vermittelt.

Ich selbst bin erst spät mit Popkin in Kontakt gekommen: 1990 bei dem vierwöchigen Sommerseminar über die »Drei Betrüger« in Leiden, in das ich rein zufällig hineingeschneit war, das aber prägend für meine weitere Arbeit werden sollte. 1990 war ich noch eher verwundert über diesen kleinen dicken Mann mit Warzen und fettigen Haaren, der schnaufend die Treppen hochstieg. Als ich aber in den Jahren danach immer intensiver in brieflichen Austausch mit ihm kam, da lernte ich erst den richtigen Popkin kennen: Einen unglaublich lebendigen, freigiebigen und begeisterungsfähigen Menschen, der nie aufhörte, Projekte zu entwerfen, Sammelbände zu planen und auf unentdeckte Schätze in Bibliotheken hinzuweisen.

Richard Popkin starb am 14. April 2005 in Los Angeles. Nach seinem Tod hat es mehrere Konferenzen und Unternehmungen gegeben, die sein Andenken ehren und die Lebendigkeit seines Erbes zeigen. In Los Angeles gab es im Juni 2006 in der Clark-Library eine Tagung mit dem Titel The Legacies of Richard Popkin, organisiert von Popkins Sohn Jeremy. In Belo Horizonte, Brasilien, hat José Maia Neto im Oktober 2007 eine Gedächtnis-Tagung für Popkin abgehalten, und in Florenz hat Antonio Rotondò kurz vor seinem eigenen Tod einen Sammelband in Erinnerung an Popkin organisiert, der von Luisa Simonutti als Herausgeberin fortgeführt wird.

* * *

Ich habe einige Zeit gezögert bei der Entscheidung, die deutsche Übersetzung der Autobiographie Popkins zu veröffentlichen. Sie erschien im englischen Original in Form von zwei Aufsätzen an abgelegenen Orten: der erste im von Richard A. Watson und James E. Force herausgegebenen Sammelband The Sceptical Mode in Modern Philosophy. Essays in Honor of Richard H. Popkin (Dordrecht: Kluwer 1987, S. 103–149), der zweite in Everything Connects. In Conference with Richard H. Popkin, einer Festschrift zu Popkins 75. Geburtstag, herausgegeben von James E. Force und David S. Katz (Leiden: Brill 1998, S. xi-lxxvi).

Während der erste Aufsatz – der erste Teil der Autobiographie, der bis etwa 1986 reicht – schwungvoll geschrieben ist und ein buntes Bild nicht nur von Popkins Interessen und Theorien, sondern auch der Zeitgeschichte enthält, erschöpft sich der zweite Teil in Beschreibungen von Konferenzen und gibt zunehmend den Themen von Popkins gesundheitlichen Schwierigkeiten in den letzten Jahren Raum. Er kann weit weniger öffentliches Interesse beanspruchen als der erste, durchaus ungewöhnliche Teil. So stellte sich die Frage: Sollte man den zweiten Teil einfach weglassen? Doch das hätte eine seltsame Amputation bedeutet, denn die Jahre zwisehen 1986 und 1997, von denen diese Seiten erzählen, waren reich an Tagungen, die die Ernte dessen einfuhren, was Popkin seit den 1960er Jahren gesät hatte. Da es Zweck dieses kleinen Bandes sein soll, in Popkins Welt einzuführen und Interesse an seinen Themen zu wecken, sei es dem Leser zugemutet, auch einige Längen zu erdulden und Einzelheiten zu erfahren, die nicht an die große Glocke gehängt werden müssen.

Der Titel, den Popkin seiner Autobiographie gegeben hat, lautet im Original »Intellectual Autobiography: Warts and all«. Das läßt sich schwer ins Deutsche übertragen. Das wörtlich »Warzen und das alles« Meinende changiert in seiner Bedeutung zwischen »In aller Offenheit«, »ohne Umschweife« und »ungeschönt« bis hin zum umgangssprachlichen »Mit allen Macken«. Der Titel sagt einiges über Popkins unorthodoxe Art, mit Dingen umzugehen – und sei es der eigenen Autobiographie.4

Natürlich ist die eigentliche Übersetzung, die notwendig ist, aber noch aussteht, diejenige von Popkins Hauptwerk, der History of Scepticism. Das konnte in dem Rahmen, der hier zur Verfügung stand, nicht geleistet werden. Um aber dennoch einen Eindruck zu vermitteln, wie sehr Popkin gerade auch mit seinen Aufsätzen neue Türen geöffnet und neue Sichtweisen ermöglicht hat, ist der Autobiographie hier noch ein exemplarischer Aufsatz beigegeben. Er heißt »Die Dritte Kraft im Denken des 17. Jahrhunderts« und stammt aus dem Jahr 1982, als Popkin Gastprofessor an er Clark-Library in Los Angeles war. Erschienen ist der Aufsatz 1992 (in Popkin: The Third Force in Seventeenth-Century Thought, Leiden: Brill 1992, S. 90–119). Dieser Aufsatz bindet zwei der Themen, die Popkin bis dahin beschäftigt hatten, auf überraschende Weise zusammen, indem er Millenarismus als eine mögliche Antwort auf die skeptische Krise im 17. Jahrhundert versteht. Zugleich ermöglicht der Aufsatz eine Art »Gestalt-Wahrnehmung« der diffusen Gruppierung um Hartlib, Dury und Comenius, die man sonst auch »Hartlib-Kreis« nennt.5 Dieser Kreis ist in gewisser Weise ein Vorläufer der Royal Society und der wissenschaftlichen Revolution, doch sieht man in ihm viel deutlicher die treibende Kraft, die in der spezifischen religiösen Überzeugung gegeben ist.

Die hier gedruckten Texte sind von einer Gruppe Münchener Übersetzer unter der Leitung von Andreas Mahler aus dem Englischen übertragen worden. Übersetzer der Autobiographie waren Andrea Arendt, Richard Barth, Birke Bossmann, Andreas Keller und Christel Klink, Übersetzer der ›Dritten Kraft‹ Birke Bossmann und Christel Klink. Ich danke der ganzen Gruppe für ihr großes Engagement. Weiterhin danke ich den Verlagen Brill und Springer (Springer Science and Business Media, die Rechtsnachfolger des Kluwer-Verlags) für die freundliche Erlaubnis, die drei Texte übersetzen zu dürfen.

New Brunswick, im Frühjahr 2008

Martin Mulsow

1 Vgl. Jeremy D. Popkin: »A Forgotten Forerunner: Zelda Popkin’s Novels of the Holocaust and the 1948 War«, in: Shofar: An Interdisciplinary Journal of Jewish Studies 20 (2001), S. 36–60.

2 Spätere Auflagen des Buches haben die Spanne des Werks erweitert: The History of Scepticism from Erasmus to Spinoza (Berkleley 1979); The History of Scepticism from Savonarola to Bayle (Oxford 2003).

3 Richard A. Watson: »Richard H. Popkin«, in: Isis 96 (2005), S. 412–415.

4 Vgl. auch Jeremy D. Popkin: »Is Autobiography Anti-academic and Uneconomical? Some Thoughts on Academic Autobiography«, in: History of Political Economy 39 (2007), S. 30–47.

5 Vgl. dazu meine Aufsätze: »Metaphysikentwürfe im Comenius-Kreis 1640-1650. Eine Konstellationsskizze«, in: Martin Mulsow und Marcelo Stamm (Hg.): Konstellationsforschung (Frankfurt 2005), S. 221–257, und: »The Third Force Revisited«, in: Jeremy Popkin (Hg.): The Legacies of Richard Popkin (Dordrecht: Springer, im Erscheinen).

Mit allen Makeln
Erinnerungen eines Philosophiehistorikers

übersetzt von
Andrea Arendt, Richard Barth, Birke Bossmann,
Andreas Keller und Christel Klink

 

I.

Womit beginnt man am besten seine intellektuelle Biographie? Mit den ersten Gedanken, an die man sich erinnern kann? Oder mit den frühesten Schreibversuchen? Ich will ab dem Zeitpunkt beginnen, wo ich die Phase meiner intellektuellen Pubertät überwunden hatte und eigene Vorstellungen davon zu entwickeln begann, was auf der Welt so vor sich geht.

Als Ideengeschichtler bin ich der Auffassung, dass man Ideen, egal von wem sie stammen, immer in einen historischen Zusammenhang einbetten muss, damit man mit ihnen einigermaßen systematisch und stringent umgehen kann. Ich will also zunächst kurz skizzieren, aus welchen familiären Verhältnissen ich komme. Ich wurde am 27. Dezember 1923 in der Bronx geboren. Meine Eltern waren unauffällige, säkularisierte Juden aus der Mittelschicht. Selbst schon in den USA geboren, waren sie beide Kinder von Immigranten aus einem kleinen Städtchen in der Nähe von Wilna, das damals zu Russland gehörte. Meine Eltern hatten sich vom orthodoxen Judentum gelöst und standen ihm eher feindselig gegenüber. Sie waren Amerikaner und amerikanisiert. Beide waren in New York aufs College gegangen, allerdings ohne einen Abschluss zu machen. Sie waren berufstätig und betrieben eine Agentur für Öffentlichkeitsarbeit. Meine Mutter schrieb, anfangs nur Artikel, später auch Detektivgeschichten und Romane. Die weltoffene, fortschrittliche Gesinnung meiner Eltern war gleichermaßen geprägt von John Dewey und seiner fortschrittlichen Schulreformbewegung wie von Bertrand Russells aufgeklärtem Humanismus, vom Sozialismus eines Eugene Victor Debs wie von den radikalen Reformbestrebungen der Linken um Roosevelt.

Solange ich denken kann, lebten wir in einer fast ausschließlich jüdischen Welt, in der alle ähnlich emanzipiert waren wie wir. Meine Eltern engagierten sich in der jiddischen Kulturszene von New York und kannten so ziemlich alle ihre Schriftsteller, Bühnenautoren und Schauspieler. Leider haben sie diesen Teil des jüdischen Lebens mit uns Kindern nicht geteilt.

Einen halben Block weiter in der Bronx lebten auch Katholiken, die für uns sozusagen den Feind darstellten. Oft verhöhnten sie mich und meinen Bruder, und gelegentlich boten sie uns eine Verfolgungsjagd die Straße entlang.

Meine Eltern engagierten sich für alle möglichen nicht-religiösen jüdischen Belange. Von Anfang an waren sie aktiv darum bemüht, die Wahrheit über die Hitlerdiktatur öffentlich zu machen, Flüchtlingen zu helfen und Pläne für die Emigration von Juden nach Palästina und in andere Länder zu unterstützen. Aber wenn auch die jüngere Schwester meiner Mutter in den dreißiger Jahren nach Palästina ging und seither dort lebt, waren meine Eltern keine Zionisten.

Meine Familie unterstützte Roosevelts Reformen und auch einige kommunistisch zu nennende Initiativen. Ein russischer Spion, der später im Gulag getötet wurde, war oft Gast in unserem Haus. Einige unserer Verwandten waren Kommunisten, und meine Eltern waren aktiv in einem Komittee zur Unterstützung der Demokratiebewegung in Spanien tätig. So weit ich mich erinnern kann, hatten wir aber nichts mit den mörderischen Auseinandersetzungen unter Trotzkisten, Lovestonisten und Norman-Thomas-Sozialisten etc. zu tun. Ich bin mir sicher, dass meine Familie für Roosevelt, Herbert Lehmann und Fiorello La Guardia gestimmt hat, obwohl mein Vater in New York Wahlkampfmanager von Alf Landon (dem republikanischen Präsidentschaftskandidat von 1936) und auch der von La Guardias demokratischem Gegenkandidaten war.

Aufgrund der fortschrittlichen Einstellung unserer Eltern wurden mein Bruder und ich auf eine der besten fortschrittlichen Schulen geschickt, die Walden School in Manhattan. Ich war ziemlich frühreif, und dementsprechend hatte diese Schule für mich in den vier Jahren, in denen ich dort war, nur die eine Funktion: meine intellektuelle Entwicklung zu hemmen. Ich lernte, wie man strickt, webt, Aschenbecher töpfert, und Französisch. Ich lernte auch, dass ich, obwohl wir, gemessen an den Maßstäben der Depression, wohlhabend waren, in der Schule als armer Junge galt. Wir wohnten zwar in einem eigenen Heim, einem Zweifamilienhaus in der West Bronx, das meiner Familie gehörte. Wir hatten neun Zimmer, eine schwarze Hausangestellte (die wir immer zu überzeugen versuchten, Kommunistin zu werden, damit sie ihre wirtschaftlichen Probleme lösen könne), ein Auto, massenhaft Bücher, verfolgten kulturelle Aktivitäten und unternahmen Reisen durch den östlichen Teil der Vereinigten Staaten. Aber meine Klassenkameraden waren Juden aus der Oberschicht, die Häuser auf dem Land hatten, Privatunterricht in Musik und Kunst erhielten und Pferde und andere Tiere besaßen. Aus diesem Blickwinkel war unser adrettes Mittelschichthaus in der West Bronx nichts weiter als ein Elendsquartier, gemessen an den großen eleganten Wohnungen im Central Park West und den Stadtvillen meiner Klassenkameraden an der Upper East Side. Obwohl wir also während der Zeit der Depression nie wirklich arm waren, kam es mir im Vergleich zu der Welt meiner reichen Schulfreunde trotzdem so vor. Mein Vater war früher sehr arm gewesen, er hat als Kind Zeitungen verkauft und sein ganzes Leben lang arbeiten müssen, um seine Eltern zu unterstützen. Als Kind, so hat man mir erzählt, soll er in Harlem in einer unmöblierten Wohnung ohne warmes Wasser gelebt haben. Er und seine Geschwister mussten sich aus tiefster Armut nach oben kämpfen. Der Familie meiner Mutter ging es besser, obwohl ihr Vater ein Immigrant war, der alle seine geschäftlichen Unternehmungen in den Sand setzte. Aber auf ihrer Seite der Familie gab es eine ganze Reihe erfolgreicher Aufsteiger, die allesamt daran arbeiteten, die Amerikanisierung meines Großvaters mütterlicherseits zu bewirken, der sein Leben lang ein unnachgiebiger orthodoxer Jude blieb. Er und meine Großmutter ließen sich schließlich in Wilkes Barre, Pennsylvania, nieder und zogen dort drei Töchter groß, die alle schon als Teenager Heim und Orthodoxie hinter sich ließen.

Ich denke, dass es uns aus der Sicht meiner Mutter ganz gut ging, und obwohl es im Familiengeschäft finanzielle Höhen und Tiefen gab, führte dies nie zu einer vergleichbaren verheerenden Notlage, unter der zu der Zeit so viele andere zu leiden hatten.

Ein geschäftliches Tief war der Grund dafür, dass ich aus der Walden School herausgenommen und in die De Witt Clinton High School gesteckt wurde. Ich glaube, mein intellektuelles Leben begann dort, zwischen 1937 und 1940. Obwohl Clinton nach der Walden School ein ziemlicher Schock war – 10.000 Schüler, und das Ding sah aus wie ein Gefängnis –, gab es dort auch eine Menge junger aufgeweckter Juden aus den Aufsteigerfamilien im nordwestlichen Teil der Bronx. Zur Walden School gingen die ganzen unangepassten Reichen, von denen nur einige wenige intellektuell interessant waren. (Mein ältester Freund, David Lowenthal, war einer meiner gescheitesten Klassenkameraden, der dort nicht hineinpasste und auf eine andere, besser organisierte Privatschule geschickt wurde. Wir wurden enge Freunde, weil wir im Milieu von Walden beide Außenseiter waren.)

In Clinton waren die intelligentesten Jungen (und es gab dort nur Jungen), die zum großen Teil Juden waren, in einem Begabtenförderungsprogramm. Als Folge bekamen wir nie die schwarzen Schüler, die ein Drittel der Gesamtzahl ausmachten und eine praktische Ausbildung absolvierten, zu Gesicht. Wir waren eine handverlesene Gruppe, hauptsächlich mit dem Ziel, später aufs College zu gehen und einen anspruchsvollen Beruf auszuüben. Unter meinen Klassenkameraden waren viele, die später hervorragende Professoren wurden, einschließlich einiger bedeutender Philosophen (Adolf Grunbaum, Robert S. Cohen, Steven S. Schwarzschild). Wir lernten sehr viel und hatten oft gute Lehrer. Mein berufliches Ziel war ziemlich vage, Dozent für irgendetwas, möglicherweise Französisch oder Mathematik, meine beiden besten Fächer.

Meine intellektuelle Volljährigkeit erreichte ich so zwischen 1939 und 1940. (Ich war nur drei Jahre in Clinton und habe mit 16 meinen Abschluss gemacht.) Die faschistische Gefahr im spanischen Bürgerkrieg, die Bedrohung durch die Nazis und ihre Ausbreitung und die Unterdrückung der Schwarzen im Süden der USA waren zuhause und in der Schule ständige Themen. Ich schloss mich einer Gruppe von Radikalen im amerikanischen Studentenausschuss an. Ich trug eine Anstecknadel der Friends of the Abraham Lincoln Brigade, mit einer Abbildung der Freiheitsglocke. Diese Gruppe kämpfte dafür, die spanische Republik aus den Händen Francos zu befreien. Im Frühjahr 1939 nahm ich an einem Treffen der Jungen Kommunisten teil. Ein oder zwei Monate später wurde ich Mitglied und zum Vizepräsident unserer kleinen Abteilung gewählt. Dann, als sich die schrecklichen Ereignisse von 1939 langsam vor uns entfalteten – München, der Niedergang der spanischen Republik und im August der Hitler-Stalin-Pakt – begann ich meine gerade erst erworbenen Überzeugungen zu hinterfragen. (Ich hatte vorher nur wenig gelesen und war sozusagen einfach in dieses Milieu hineingerutscht.) Nachdem ich den unglaublichen Schock darüber, dass der Erzfeind Hitler und der Anführer des Arbeiterparadieses jetzt gemeinsame Sache machten, mit einigen Freunden aus Clinton besprochen hatte, stellte ich beim nächsten Treffen den Antrag, die jüngsten Entwicklungen weder zu befürworten noch abzulehnen, sondern weitere Klärung abzuwarten. Meinem Antrag wurde zugestimmt. Beim nächsten Treffen wurden meine fragenden Kollegen und ich hinausgeworfen. Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, war ich also, mit knapp sechzehn, ein Ex-Kommunist.

Als intellektueller Anführer unserer rebellischen Gruppe unternahm ich einige Anstrengungen, um uns eine neue Basis zu schaffen. Letztendlich erklärten wir uns zu einer unabhängigen Arbeitsgemeinschaft und trafen uns regelmäßig, um sozialistische Theorien und aktuelle Ereignisse zu diskutieren. Mein Zuhause war das Zentrum unserer Splittergruppe, die keinerlei Verbindung zu irgendeiner anderen linksgerichteten Gruppe unterhielt. Hier lernte ich meine zukünftige Frau kennen, die Zwillingsschwester eines Klassenkameraden aus Clinton. Er brachte sie eines Tages mit zu einem Treffen, und kurz darauf begann unsere Romanze, die zu einer bereits schon über vierzig Jahre dauernden Ehe, drei Kindern und bisher zwei Enkelkindern geführt hat.

Unser unabhängiger sozialistischer Verein löste sich auf, als seine Mitglieder aufs College und später in den Krieg gingen. Meine Familie hat sich nie darüber ausgelassen, auf welches College ich gehen oder was ich studieren sollte. Sie nahmen wohl an, ich würde das städtische College besuchen, wie die meisten meiner Klassenkameraden. Ich hatte jedoch ein Stipendium vom Columbia College erhalten und war bereit, nebenbei hart zu arbeiten, um mir ein Studium dort leisten zu können. Und so verließ ich im Herbst 1940 die linke Welt der Bronx und betrat die glanzvolle Welt der Intellektuellen von Columbia College, das zu jener Zeit das Zentrum intellektueller Auseinandersetzungen darstellte. Ich hatte vorher nur wenig Marx, Nietzsche und Spengler gelesen. Plötzlich befand ich mich jedoch mitten in der Kultur des Westens von den Griechen bis zu John Dewey, eingetaucht in höhere Mathematik, die Klassiker der französischen Literatur und die politischen Theorien der westlichen Welt. Meine Lehrer waren Lionel Trilling, Jacques Barzun, Irwin Edman, John Herman Randall und einige der besten und unverständlichsten Mathematiker. Ursprünglich war Mathematik mein Hauptfach, und ein paar Jahre lang musste ich mich gehörig abstrampeln, um mich gegen alle möglichen Wunderkinder behaupten zu können. Aber ich fühlte mich zugleich auch von der Philosophie und der Geschichte angezogen, und in diesen Bereichen fand ich schließlich meinen Schwerpunkt.

In den Jahren 1941–42 belegte ich John Hermann Randalls berühmte Vorlesungsreihe über die Geschichte der Philosophie. Doch trotz solch gediegener Tutoren wie Charles Frankel und Justus Bucher konnte ich mit Plato und Aristoteles nicht viel anfangen. Ich versuchte mich immer noch als freier Sozialist. Als Jack Randall durch die hellenistische Philosophie fegte, gab er uns den Auftrag, Sextus Empiricus’ Pyrrhonische Grundzüge zu lesen. Ich lieh mir die Loeb-Ausgabe aus der Bibliothek aus, und auf den U-Bahn-Fahrten von Columbia zu unserem Haus in der Bronx und zurück traf ich endlich auf einen philosophischen Autor, den ich verstehen konnte und der mich ansprach. Das gleiche passierte im zweiten Semester, als ich mich damit herumschlug, herauszufinden, worum es wohl bei Descartes, Spinoza, Leibniz, Locke und Berkeley ginge – bis Hume kam.

Rückblickend kann ich sagen, dass ich aufsässig war und den dogmatischen Liberalismus und die anti-religiöse Einstellung meiner Familie gründlich in Frage stellte; ich war auch rebellisch in Bezug auf die kommunistische Weltanschauung, und sobald meine Mentoren an der Columbia versuchten, mir den Glauben an John Deweys Instrumentalismus oder Frederick Woodbridges Naturalismus zu vermitteln, suchte ich nach einer Möglichkeit, zurückzuschlagen. Im zweiten Studienjahr fand ich diese schließlich bei Sextus und Hume.

Um das Ganze noch einmal in den richtigen Kontext zu rücken, meine Liebe zu Sextus und Hume verdrängte mein Interesse an der Mathematik in keiner Weise, und die moderne symbolische Logik wie auch die damaligen Dissidenten der holländischen Intuitionisten fand ich sehr aufregend. Ernest Nagel führte mich ein in die Welt der neuen Logik und der logischen Positivisten, die sich gerade in der amerikanischen Szene bemerkbar machten.

Nach dem 7. Dezember 1941 veränderte sich jedoch meine intellektuelle Entwicklung. Ich erinnere mich, dass ich mich nur wenige Stunden, nachdem Roosevelt verkündet hatte, dass Pearl Harbor bombardiert worden war, mit Julie traf, meiner Freundin und zukünftigen Frau. Wir sprachen darüber, was das für uns als Teenager bedeutete. So wie wir und unsere Altersgenossen es sahen, würde dieser Krieg wohl noch Jahrzehnte andauern. Niemand hatte eine erkennbare Zukunft. Amerikanische Männer würden zum Militär gehen und dann zehn oder zwanzig Jahre fort sein, bevor sich die Probleme lösten. Bis zur Schlacht von Stalingrad gab es keine erkennbaren Zeichen, dass man Hitler besiegen konnte. Und von den gewaltigen Anstrengungen an Kriegsschauplätzen wie Guadalcanal ausgehend, würde es Jahrzehnte dauern, die Japaner zu besiegen. Karrierepläne hingen also völlig in der Luft.

Ich schrieb mich für ein militärisches Programm ein, mit dem man den Collegeabschluss beschleunigen konnte, sofern man ein kriegsrelevantes Thema im Hauptfach studierte. Mein Hauptfach war Mathematik, also kam ich dafür in Frage, und mein aktiver Dienst wurde bis 1943 aufgeschoben. Ich durfte mir außerdem meinen Dienstzweig aussuchen und wählte, wie viele andere auch, den Geheimdienst, um schließlich bei der Feldartillerie zu landen.

Im Januar 1943 verstarb mein Vater ganz plötzlich mit 47 Jahren. Ohne vorher krank gewesen zu sein, hatte er plötzlich einen Herzinfarkt und verstarb am Tag darauf. Sein Tod war ein traumatischer Verlust für die ganze Familie. Mein Vater war ein herzlicher, liebevoller Mensch, das Zentrum unseres Lebens. Intellektuell hatten wir uns auseinandergelebt, da er im Gegensatz zu meiner Mutter die intellektuelle Welt, die ich betrat, immer weniger zu verstehen vermochte. Dennoch hatten wir uns in seinem letzten Jahr, als ich einen Abendkurs an der Columbia belegt hatte, zum Essen in der Stadt getroffen. Als Wahlkampfmanager des demokratischen Anwärters für das Amt des Gouverneurs von Connecticut war er aktiv am politischen Geschehen beteiligt und engagierte sich sehr für die weltlichen Belange der Juden angesichts der Ereignisse im Europa der Nazizeit. Unsere kurzen Treffen machten deutlich, dass wir mehr und mehr auf unterschiedlichen Ebenen lebten. Dennoch war sein Tod ein gewaltiger Schock für mich und ein psychischer Schlag, von dem ich mich in über vierzig Jahren nicht erholt habe. Dies führte zu einem emotionalen Zusammenbruch, gefolgt von einer kurzen militärischen Dienstzeit, aus der ich, nachdem ich Virginia vor jedweder möglichen Nazi-Invasion gerettet hatte, im Herbst 1943 entlassen wurde.

Ich ging an die Columbia zurück, wo ich abends ein Aufbaustudium absolvierte, und verdiente mein erstes Geld als Assistent für statistische Berechnungen bei einem Versicherungsmakler. Mit zwanzig begann ich, an privaten High Schools zu unterrichten. In einem der seltenen Momente, in dem ich die Möglichkeit gehabt hätte, die Geschicke der Welt zu beeinflussen, versagte ich völlig. Man bot mir an, am Manhattan Project mitzuarbeiten. Ich hatte keine Ahnung, worum es dabei ging. Ein Dozent der Physik, der in der Laborausbildung mein Lehrer gewesen war, bot mir eine Stelle an, bei der ich in einer Garage hinter der Columbia den ganzen Tag Differentialgleichungen berechnen sollte. Hätte ich die Stelle angenommen, davon bin ich überzeugt, wüsste man bis heute nicht, ob man eine Atombombe bauen kann oder nicht.

Ich lehnte das Angebot ab, heiratete Juliet, machte meinen Magisterabschluss in Philosophie an der Columbia und begann, Mathematik, Physik und Geschichte zu unterrichten. Wir waren beide der Meinung, dass ich noch woanders weiter studieren sollte. Ein Professor, der im Grundstudium mein Studienberater und außerdem ein alter Freund der Familie war, hatte mir frei ins Gesicht gesagt, dass ich als Jude wohl kaum in Frage käme, einmal Philosophie zu unterrichten. Er sagte, es gäbe nur sehr wenige Juden auf diesem Gebiet und auch die hielte man nicht für geeignet. Ich ignorierte seinen Rat, hatte aber keine Ahnung, wohin ich mich wenden sollte und wer über die wenigen Aufsätze, die ich gelesen hatte, hinaus die berühmten Namen des Fachs waren. Ich bewarb mich an der Brown University, in Cornell, Harvard, Princeton und Yale. Meine Favoriten waren Brown und Harvard. Ich erhielt für die damalige Zeit großzügige Stipendien von Cornell sowie aus Princeton und Yale. An der Brown University konnte man sich nicht entscheiden. Harvard schrieb mir über sechs Monate lang immer wieder, dass sie meine Bewerbung nicht bearbeiten könnten, so lange nicht der Beweis vorläge, dass ich gegen Pocken geimpft sei. Ich schickte ihnen immer wieder Fotokopien meiner medizinischen Unterlagen von der US-Armee. Aus Gründen, die ich heute nicht mehr nachvollziehen kann, entschied ich mich schließlich für Yale (und ein paar Monate nach meiner Ankunft dort erhielt ich die letzte Anfrage aus Harvard bezüglich meiner Pockenschutzimpfung). Schwer zu sagen, was passiert wäre, wenn ich eine andere Universität besucht hätte. Aber dieses eine Jahr in Yale, 1945–46, hat mich entscheidend geprägt.

Es war das erste Mal, dass Juliet und ich außerhalb des stark jüdischen geprägten Milieus von New York lebten. Als wir in New Haven nach einer Unterkunft suchten, merkten wir schnell, dass wir Außenseiter waren und als Mieter für die wenigen Wohnungen kaum in Frage kamen. Wir kamen schließlich im Kellergeschoss eines alten Hauses auf der Trumbull Street unter, bei zwei ältlichen jüdischen Jungfern, Nachfahren von deutschstämmigen Juden aus der Immigrationswelle von der Mitte des 19. Jahrhunderts. Sie freuten sich über jedes Anzeichen, dass Juden es in Yale »schaffen konnten«. Als Juliet eine Stelle bei der Alumni-Vereinigung für ehemalige Yale-Absolventen bekam, waren sie ganz aus dem Häuschen. Es war das erste Mal, dass so etwas Wundervolles geschehen war.

Die Philosophie in Yale befand sich im Umbruch. Die altehrwürdigen Mitglieder waren schon in Rente, und einige der übrigen Lehrkräfte waren noch immer im militärischen Dienst. Charles Stevenson hatte man eine Festanstellung verweigert. Der Logiker, Fred Fitch, war beurlaubt. Brand Blanchard war zwar eingestellt, aber krank. Sein Kollege vom Bryn Mawr College, Paul Weiss, ein Jude von der Lower East Side, sprang für ihn ein. Es gab nicht genug Dozenten, um einen kompletten Magisterstudiengang durchzuführen. Ich studierte bei Weiss, F.S.C. Northrop, Robert Calhoun und Professor Outler von der Theologischen Fakultät. Im zweiten Semester belegte ich zudem Kurse bei Blanchard und Charles Hendel. Im Laufe des Jahres besprach ich meine mathematischen und logischen Interessen oft mit Fred Fitch. Es gab nur vier Teilnehmer im Aufbaustudiengang für Philosophie, da die meisten Männer immer noch beim Militär waren. An der Columbia war ich 1944-45 in einem Seminar der einzige Student gewesen, und in einem anderen war außer mir nur noch ein weiterer, Paul Oskar Kristeller, der entscheidenden Einfluss auf meine spätere Entwicklung haben sollte.

Ich kämpfte gegen Paul Weiss und seine aggressiven metaphysischen Ansichten. Ich war geprägt vom Positivismus und Pragmatismus und voll der Skepsis, also schlug ich gegen alle Ideen, die er präsentierte, zurück. Ich schrieb eine Arbeit über Sextus zum Thema Ethik und geriet in eine wunderbar lehrreiche Auseinandersetzung mit Weiss. Ich kämpfte gegen Northrops wilde Verallgemeinerungen und lernte unter Anleitung von Weiss die Forschungsbibliothek zu nutzen, um dort nach Munition gegen diesen Mentor zu suchen. In Gesprächen mit Fitch entwickelte ich mein Interesse für die finite Mathematik sowie für die holländische intuitionistische Mathematik und Logik. Bei Blanchard lernte ich die Standardtricks, um idealistischer Metaphysik zu widerstehen. Und durch Hendel bekam ich eine neue Sichtweise auf Hume, die ich in Kürze erörtern werde.

Zu dem Zeitpunkt, als ich nach einem Thema für meine Dissertation suchte, interessierte mich am meisten irgendetwas in Richtung Geschichte der finiten oder nicht-rationalen Mathematik und/oder die Möglichkeit einer grundlegenden Infragestellung der Logik. Ich schrieb eine umfangreiche Abhandlung über die Exhaustionsmethode des Eudoxos von Knidos und die Frage, ob diese der Vorläufer der Infinitesimalrechnung sei. Auf fünfzig Seiten argumentierte ich, dass dem nicht so sei, und schickte das Ganze an eine der führenden mathematischen Zeitschriften, wo man den Artikel annahm, vorausgesetzt, ich würde ihn von fünfzig auf fünfundzwanzig Seiten kürzen, was ich aber nie tat. Ich spielte mit dem Gedanken an eine Untersuchung der empirischen und induktiven Mathematik von J.S. Mill und beschäftigte mich mit der Kritik an der formalen Mathematik und Logik von Brouwer, Heyting, Weyl und Borel. Ich schlug Blanchard vor, eine Untersuchung über die pragmatische Mathematik und Logik von F.S.C. Schiller anzufertigen. Er war entsetzt darüber, denn er hatte Schiller in Oxford kennen gelernt und ihm seine ikonoklastische Sichtweise und seine persönlichen Angriffe auf F.H. Bradley nie verzeihen können.

Obwohl ich schließlich meine Dissertation bei Ernest Nagel über die Intuitionisten schrieb, kamen meine Ideen und Argumente aus einem Seminar von Hendel. Seine Betrachtungsweise von Hume war anders als die gängige, aber nicht sonderlich aufregend. Er betonte die naturalistische Lesart von Hume. Ich, wie üblich in Opposition, schrieb eine Abhandlung über Hume und Sextus Empiricus, in der ich argumentierte, dass Hume in Wirklichkeit ein wiedergeborener antiker Pyrrhonist sei. Hendel wies uns an, den Text sehr sorgfältig zu lesen, und das tat ich auch und fand lauter Anklänge an Sextus. Auf einer Reise nach New York erzählte ich Paul Oskar Kristeller davon, der mir dann in seiner weisen, gelehrten Art erklärte, dass es wahrscheinlich einen guten Grund für die Ähnlichkeiten zwischen Hume und Sextus gäbe. Jemand, oder gar ich, sollte einmal untersuchen, ob Sextus zu Humes Zeiten bekannt war und ob es eine frühere skeptizistische Tradition gab, auf die Hume Bezug nahm. Kristellers Kommentare boten mir eine Aufgabe, an der ich Jahre arbeiten sollte. Die Tradition des Skeptizismus war bisher noch nicht untersucht, die Sextus-Rezeption seit seiner Wiederentdeckung 1562 bis hin zu Hume noch nicht entfaltet und Sextus selbst fast völlig ignoriert, außer von Randall und Kristeller, die ihn in ihren Seminaren erwähnten, aber eher wohl nur der Vollständigkeit halber oder als Beispiel für intellektuelle Torheit. Es gab nur einen Artikel über Sextus in der aktuellen philosophischen Literatur der Zeit, geschrieben von Roderick Chisholm. Aber dieser Teil der Geschichte wird später an seinem chronologischen Platz noch weiter erörtert werden.

Das Philosophische Institut von Yale hatte angedeutet, dass man mir das höchste Stipendium geben würde, damit ich meine Dissertation vollenden könne. Als man mir mitteilte, dass die Verwaltung dies abgelehnt habe, beschloss ich, Yale zu verlassen, meine Dissertation in absentia an der Columbia zu schreiben, wo ich ebenfalls bereits alle Voraussetzungen erfüllt hatte, und mir eine Stelle als Dozent zu suchen. 1946–47, als die amerikanischen Soldaten ins bürgerliche Leben zurückkehrten und die GI-Bill nutzten, die ihnen freie Bildungsmöglichkeiten und einen Unterhalt zum Leben bot, wurden die Colleges und Universitäten förmlich überschwemmt. Die bis dahin fast völlig leeren Bildungseinrichtungen quollen plötzlich über vor Studenten, aber es gab nicht genügend Dozenten. In blitzschneller Folge wurden mir drei Posten angeboten, und ich nahm eine Stelle an der Universität von Connecticut in Storrs an, zumindest theoretisch in der Nähe von New Haven, Boston und New York. Ich erhielt ein fürstliches Dozenten-Gehalt von 2.600 US-Dollar für fünfzehn Stunden Vorlesungen über Logik und Einführung in die Philosophie, in einer kleinen Abteilung, die aus ein paar protestantischen Pfarrern und mir bestand.

Storrs war zu dieser Zeit völlig abgelegen, ein großer Campus in einem winzigen Dorf. Es gab keine Geschäfte in Storrs. Wir waren acht Meilen von der nächsten Stadt entfernt, und der Bus fuhr nur ein- bis zweimal am Tag. Wir wohnten in hastig zusammengezimmerten Armeebaracken zusammen mit den anderen neuen Dozenten. Kulturell gesehen, waren wir von unserer jüdischen Welt in New York so weit entfernt, wie man nur sein konnte. Ich war das einzige jüdische Mitglied in der Lehrerschaft. Es gab einen Direktor von Hillel, einer Stiftung für jüdisches Leben auf dem Campus, der auch Anthropologie lehrte, und einen Dekan, von dem man sich im Flüsterton erzählte, dass er Jude gewesen sei, bevor er protestantisch wurde. Zum ersten Mal waren Juliet und ich Anfeindungen von Seiten eines unserer Nachbarn ausgesetzt. Uns wurde auch bewusst, wie hoch der Grad der Billigung von Antisemitismus unter unseren Freunden in der Lehrerschaft war, die judenfeindliche Bemerkungen machte, »Jude« als Schimpfwort gebrauchte und der Meinung war, jeder wisse ja, dass jüdische Studenten schummelten etc.

Wir hatten zwar keine richtigen jüdischen Wurzeln, aber wir waren Juden. Meine Familie beschäftigte sich zwar mit den weltlichen Aspekten des Judentums und der jiddischen Kultur, aber sie gehörte nirgendwo so richtig dazu. Mein Bruder und ich hatten keine jüdische Ausbildung erhalten, und unsere Eltern hatten auch keine großen Anstrengungen unternommen, uns Jiddisch beizubringen oder uns in diesen Teil ihrer Welt mit einzubeziehen. Sie versuchten sogar, meinen Bruder und mich zu zwingen, an jüdischen Feiertagen in New York zur Schule zu gehen, was sich aber als unmöglich herausstellte, weil sonst niemand dort war. Meine Eltern waren aktiv innerhalb ihrer säkularen jüdischen Welt und wehrten sich heftig gegen die fortbestehenden orthodoxen Ansichten, die vor allem die Welt meiner Großeltern mütterlicherseits beherrschten. Der jährliche rituelle Seder mit der Familie meiner Mutter war immer ein Kampf meiner Mutter gegen ihren Vater. Dagegen bestand Juliets Familie aus sozialistischen Juden, und zumindest war und ist die soziale Ethik des Judentums für sie ein zentraler Faktor, genau wie für mich auch. Ihr Großvater väterlicherseits schrieb ein mit dem religiösen Judentum abrechnendes Buch mit dem Titel Gesunder Menschenverstand und blinder Glaube, das er in den Vereinigten Staaten zweimal auf eigene Kosten drucken ließ.

So lange ich mich erinnern kann, habe ich mich immer wie ein Außenseiter gefühlt, egal wo ich war. Wegen meiner außergewöhnlichen intellektuellen Interessen passte ich nicht zu den anderen Kindern. Als ich älter wurde, fühlte ich mich mehr und mehr als Außenseiter. Mein ikonoklastischer Widerstand gegen die Ansichten meiner Eltern und Lehrer äußerte sich spürbar im philosophischen Skeptizismus. Meine kurze Karriere als Kommunist machte es mir recht schwer, politischen Bewegungen beizutreten, obwohl ich in den letzten etwa fünfundvierzig Jahren eigentlich immer ein unabhängiger demokratischer Sozialist gewesen bin. Als wir den jüdischen Schoß verließen und in das hinausgingen, was damals die höfliche, weiße, angelsächsisch-protestantische und judenfeindliche Welt war, samt ihrem geistigen Zentrum, die Gemeinschaft amerikanischer Akademiker, unter denen sich vor dem Zweiten Weltkrieg nur wenige jüdische Professoren befanden, fühlte ich mich als Jude wieder in einer Außenseiterrolle. Juliet fiel es leichter, sich in dieser fremden Umgebung zurecht zu finden, und sie hat sich sich immer für Dinge engagiert, die ihr am Herzen lagen. Wir waren beide durch und durch säkularisierte Juden mit so gut wie keiner Ahnung, wie »richtige« Juden zu sein hatten. Bei einer Vorstellung verschiedener Religionen in Storrs lernten wir, wie ein orthodoxer jüdischer Gottesdienst aussah, und Juliet war richtig entsetzt. Ich hatte das Gefühl, dass dies überhaupt nicht meine Welt war, und vertrat zu der Zeit die Ansicht, Teil der von Bertrand Russell repräsentierten angelsächsischen intellektuellen Tradition zu sein. Ich versuchte sogar, Unitarier zu werden, scheiterte aber sehr schnell.

Im Gegensatz zu meinen Eltern und zu meiner Frau war und bin ich in einem ernsthaften Sinn religiös. Als Junge hatte ich das, was William James »religiöse Erlebnisse« genannt hätte. Ich habe aber in keiner Weise darin irgendetwas von dem erkannt, was ich über das Judentum oder das Christentum wusste. In Storrs verfeinerte ich mein skeptizistisches Instrumentarium, indem ich mit meinen protestantischen Pfarrer-Kollegen diskutierte, ohne jedoch explizit eine gegensätzliche Ansicht auszuformulieren.

Ein Jahr später wurde mir eine Assistenzprofessur an der Universität Iowa angeboten, zusammen mit einer beträchtlichen Gehaltserhöhung. Iowa war absolut phantastisch, eine der Top-Ten- Universitäten mit vielen berühmten Dozenten. Ohne die geringste Ahnung vom mittleren Westen brachen wir also auf in die beste, aber auch schlimmste Epoche unseres Lebens. Und während der Jahre in Iowa entwickelte ich auch meine Theorie zur Rolle des Skeptizismus in der modernen Philosophie.

Iowa City war langweilig, flach, purer mittlerer Westen, die Universität ausgenommen. Diese lag mehrere hundert Meilen außerhalb dessen, was man damals Zivilisation genannt hätte. Sie hatte 14.000 Studenten, eine sehr lebhafte Kunsthochschule, eine Schauspielschule und einen Studiengang für kreatives Schreiben, was einige von »unseren Leuten« aus Greenwich Village, wo wir als Frischvermählte gelebt hatten, hierher nach Iowa City brachte. Die Universität war gerade dabei, zusätzliches Lehrpersonal anzuwerben, um dem Ansturm der Kriegsveteranen standhalten zu können. Viele intelligente junge Männer kamen zur gleichen Zeit wie wir, darunter einige unserer heutigen besten Freunde. Viele von denen, die ihre Laufbahn an der Universität von Iowa in den Jahren unmittelbar nach dem Krieg begannen, wurden später zu bedeutenden Fachvertretern in den Natur–, Geistes- und Sozialwissenschaften.

Das Institut für Philosophie war winzig und bestand aus nur vier Mitgliedern. Die älteren, Everett Hall und Gustav Bergmann, lagen hoffnungslos miteinander im Clinch. Bergmann war österreichischer Flüchtling und das jüngste Mitglied des Wiener Kreises. Hall war ehemaliger Pfarrer aus dem mittleren Westen, der sich mit analytischer Philosophie beschäftigte. Aber dies ist nicht der geeignete Ort, um die innerhalb des Fachbereichs herrschenden Spannungen zu erläutern. Zwei Neuankömmlinge betraten die Bühne, Joe Cobitz, ein anderer junger jüdischer Philosoph, der gerade seinen Abschluss in Harvard gemacht hatte, und ich. Bergmann fand mich auf Anhieb sympathisch und den anderen neuen Kollegen unsympathisch, und er beschwerte sich, dass es im Fachbereich zu viele Juden gäbe. Bergmann nahm die Bereiche Logik und Wissenschaftsphilosophie in Beschlag. Hall unterrichtete Wertetheorie. Und meine Arbeit bestand darin, detaillierte Kurse über die Geschichte der Philosophie von den Griechen bis ins neunzehnte Jahrhundert und darüber hinaus Kurse in Philosophie, Literatur und Religionsphilosophie zu halten. Das war eine wunderbare Gelegenheit, mein Wissen zu erweitern und meine historischen Interessen zu entwickeln. Die Spannungen innerhalb des Fachbereichs waren für mich traumatisch, und da ich nicht willens war, ein Anhänger von Bergmann zu werden, wurde ich wiederum zum Außenseiter, diesmal in der von ihm dominierten Welt. Allerdings hatte dies den Vorteil, dass ich mit hochinteressanten Leuten aus vielen anderen Instituten intellektuellen Austausch pflegte.

Von 1947–1950 tauchte ich in die Geschichte der Philosophie ein und vollendete meine Dissertation. Mit den Geburten unserer ersten beiden Kinder gründeten Juliet und ich eine Familie. Unser Sohn Jeremy wurde im Dezember 1948 geboren und unsere Tochter Margaret im Mai 1950. Während ich meine Dissertation fertigstellte, wurde mir klar, dass mir wichtige Kenntnisse in höherer Mathematik fehlten, ohne die ich das Thema nicht weiter verfolgen konnte. Ich schob das Ganze beiseite und machte mich daran, die Beziehung zwischen dem Skeptizismus Humes und dem des Sextus herauszuarbeiten. Ich begann, die Geschichte der Sextus-Ausgaben ab der Renaissance sowie die Schriften der Skeptiker von Montaigne bis Hume zu erforschen. Zusammen mit Edward H. Madden, zu der Zeit Student im Aufbaustudium, verfasste ich eine Abhandlung, die zeigte, dass das ganze kausale Argument Humes schon bei Sextus Empiricus zu finden war. John Hermann Randall lehnte dies mit aller Entschiedenheit ab, vor allem aufgrund fehlender Beweise für irgendeine historische Verbindung zwischen Sextus und Hume.

Also begann ich, die Lücke zu schließen, und veröffentlichte einige kleinere Artikel zur Frage, wer in der Neuzeit die Schriften des Sextus gelesen hat. Um 1949 herum schrieb ich eine Abhandlung mit dem Titel »Hume’s Pyrrhonism and His Critique of Pyrrhonism«, welche die Merkmale von Humes Skeptizismus aufzeigte und darlegte, dass Hume ein in sich »konsistenterer« Pyrrhonist gewesen sein musste, anders als Sextus, der oft dogmatische Behauptungen aufstellte. Und ich deutete Hume als Skeptiker, der gezeigt hatte, dass man aus den Ansätzen, die bis dahin benutzt worden waren, keine brauchbare Philosophie erstellen konnte. Hume, so wie ich ihn darstellte, war weder der Vater des logischen Positivismus noch der Held der modernen empirischen Wissenschaft, sondern ein große Fragender, dessen Fragen noch nicht beantwortet waren.