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Rudolf Harms (1901–1984) promovierte nach dem Studium in Göttingen und Leipzig 1922 bei Johannes Volkelt über das Thema »Untersuchungen zur Ästhetik des Spielfilms« (maschinenschriftl. 116 S. Leipzig 1925) zum Dr. phil. Die überarbeitete Fassung seiner Dissertation ist die vorliegende Philosophie des Films, die als Buch 1926 erstmalig bei Felix Meiner, Leipzig erschien. 1927 folgte im Verlag G. Braun, Karlsruhe, in der Reihe »Wissen und Wirken« die kleine Schrift Kulturbedeutung und Kulturgefahren des Films.

In den 1920er Jahren arbeitete Rudolf Harms, zunächst in Leipzig, später in Berlin, als Filmkritiker. Nach dem Zweiten Weltkrieg war er Dozent für Psychologie an der Berliner Volkshochschule. 1948 erfolgte die Übersiedlung nach Hunoldstal über Usingen. Im selben Jahr erschien die Erzählung Ein lächerliches Wesen im Harriet Schleber Verlag, Kassel.

Nach 1959 wurde Harms als Autor zahlreicher historisch-biographischer Romane bekannt, die im Rahmen des Bertelsmann-Leseringes, für den der Autor auch als freier Lektor tätig war, zusätzlich hohe Lizenzauflagen erzielten. Erwähnt seien: Die abenteuerlichen Reisen des Marco Polo (auch unter dem Titel Frühes Licht und später Stern erschienen; Berlin-Schöneberg, 1959), Cagliostro. Roman eines genialen Schwindlers (Berlin-Schöneberg, 1960), Robespierre (Hamburg, 1962), Semelweis. Retter der Mütter (Hamburg, 1964) sowie Robert Koch. Arzt und Forscher (Hamburg, 1966).

Rudolf Harms

Philosophie des Films

Seine ästhetischen und metaphysischen Grundlagen

Mit einer Einleitung
herausgegeben von
Birgit Recki

Meiner

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische

Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.

eISBN (PDF): 978-3-7873-2135-3

eISBN (ePub): 978-3-7873-3119-2

www.meiner.de

© für diese Ausgabe: Felix Meiner Verlag Hamburg 2009. Alle Rechte vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Umschlaggestaltung: Jens-Sören Mann. Konvertierung: Bookwire GmbH

Inhalt

Reine Anschauung und Bewegung: Die Suggestionskraft des Films. Von Birgit Recki

Vorwort

Einleitung

Dasein, Entwicklung und Wesen des Films

Der Film eine Wirklichkeit: Die Arten des Films – Verbreitung des Spielfilms – Der Film als ökonomischer Wertfaktor einer Nation und des Einzelnen (Lebensberuf) – Beeinflussung des öffentlichen Lebens durch den Film – Entwicklungsgeschichtlicher Überblick: Der Werdegang des Films – Entwicklung der Aufnahmestätten (und Filmgesellschaften) wie der Wiedergabestätten (Filmtheater) – Die künstlerische Entwicklung des Films – Sonderfaktoren: Die Welt als Lichtschatten – Die Welt als Fläche – Die Welt als Bewegung – Stellungnahmen zum Film als neuer Kunstart

I. Abschnitt

Die Erfahrungsgrundlagen

Selbstbekenntnisse von Künstlern – Filmkunstgeschichte – Gedankenaustausch und Presse – Selbsterlebnis oder Eigenerfahrung – Weitherzigkeit bei der Aufstellung ästhetischer Forderungen

II. Abschnitt

Der Film als Kollektivkunst

Kollektivkunst aus technischen und materiellen Gründen

a) Das Aufnahmeorgan

Der Film als rein optische Kunst – Störung der ästhetischen Willenlosigkeit

b) Der Aufnahmegegenstand (Negativ- und Positivfilm)

Die Photographie als Reproduktionsmittel im Film – Photographie nur als Mittel zum Zweck; die Handlung ist die Hauptsache – Beherrschung der Bewegung durch das Wiedergabemittel – Der Negativfilm – Überwiegend mechanischer Vorgang der „absolut realistischen“ Wiedergabe von Linie und Form – Der Aufnahmestandpunkt und der Bildausschnitt (Stimmungssymbolik) sind beweglich – Kritisches zum Wiedergabemittel – Die Helligkeits- und Raumwerte weisen wie die Bewegung je nach ihrer Ausgestaltung einen Zug zur Wirklichkeitsnähe oder -ferne auf – Der Positivfilm – Einkopieren und Virage – Die Bewegung hebt den Film über den Zustand der bloßen Naturkopie heraus

c) Das Lichtspielhaus als Sammelraum

Die Aufgabe: eine Vereinigung von Massen zum Zwecke gemeinsamen künstlerischen Genusses – Die Gefahren liegen im Gesamtaufenthaltsort und der einzelnen lokalen Gebundenheit – Das Ziel: Ausschaltung der niederen und Konzentrierung der höheren ästhetischen Sinne auf den künstlerischen Genuß

d) Film und Musik

Die Musik zunächst ein rein äußerlich hinzukommen- der Faktor – Entwicklungsgeschichtlicher Überblick – Der Charakter der Begleitmusik: Überwiegende Betonung des Einfach-Gefühlsmäßigen – Enge innere Zusammenhänge zwischen Film und Musik – Vertiefung der Bilder ins Metaphysische – Kritisches

III. Abschnitt

Der Film auf der weißen Wand

Allgemeines: Der Film eine Bildhandlung

a) Das Filmbild

Entwicklung seiner Faktoren: Fläche, Lichtschatten und Bewegung – Die Folgerungen: Überwiegender Zug zur Wirklichkeitsferne

b) Die Filmhandlung

Der Vorspann – Die Filmtitel – Die Handlung nach Exposition, Haupthandlung und Konflikt

IV. Abschnitt

Die Sondergebiete des Films

Phantastik und Komik als geistesfreies Spielen mit der realenWirklichkeit – Der phantastische Sensationsfilm – Der phantastische Märchenfilm – Der phantastische Sagenfilm – Der komische Film – Die Burleske – Die Groteske – Die Karikatur – Der Monumentalfilm – Der schöne Film

V. Abschnitt

Ästhetische Grundtypen und Grundnormen

Das Schöne und das Charakteristische – Akt und Tanz – Das Typische und das Individuelle – Das Erhabene, besonders das grenzenlos und gräßlich Erhabene und das Kolossalische – Das SinnlichÄsthetische – Einheit von Form und Gestalt – Das Tragische – Starke Einschränkung des Films, Fortfall der feineren inneren tragischen Verwicklungen – Das Schicksalsmäßige – Fortfall der subjektiven Äußerungsmöglichkeit der leidenden Person – Der Typus des Niederdrückend-Tragischen im Film – Das Komische – Günstige Bedingungen für den Film – Abarten des Komischen – Die vier Grundnormen und der Anschluß an die übrigen Hauptkünste

VI. Abschnitt

Die Stufenfolge künstlerischen Schaffens

Die künstlerische und die technische Keimzelle – Begriff der Mittelbarkeit und Unmittelbarkeit der Fixierungsmittels – Beim Film liegt eine Stufenfolge vor: Idee, Manuskript, Ausgestaltung zur Bildhandlung – Zur Darstellung – Zum szenischen Aufbau – Plastizität und Flächigkeit – Negativfilm – Anschluß an den zweiten Abschnitt

Schluß

Ethik und Metaphysik des Films

Ethisches zum Film – Wichtigkeit ethischer Wirkungsmöglichkeiten – Grund: Starke Suggestionskraft und Massenverbreitung – Erläuterung dieser beiden – Möglichkeit einer ethischen Wirkung – Gefahr des heutigen Durchschnittsfilms – Metaphysisches zum Film – Die Gebärde als Urmitteilung – Bewegung – Der Kosmos schließt sich zum Ring

Anmerkungen

Literaturschau und Quellenverzeichnis

Sachregister

Personenregister

Reine Anschauung und Bewegung: Die Suggestionskraft des Films

Von Birgit Recki

1. Rudolf Harms: Pionier und Klassiker einer Ästhetik des Films

Rudolf Harms ist ein Pionier der Filmästhetik, den es als einen ihrer frühen Klassiker zu entdecken gilt. In einer Zeit, da die Sachwalter der ästhetischen Hochkultur weithin das neue Medium noch als Jahrmarkts- und Variété-Attraktion benasrümpfen und namentlich die Philosophen noch nicht einmal angefangen haben, die Frage zu beantworten, ob der Film eine Kunst sei, schreibt 1922 der gerade Volljährige seine Dissertation Untersuchungen zur Ästhetik des Spielfilms bei Johannes Volkelt.1 Daraus ist die Philosophie des Films hervorgegangen, die 1926 in Leipzig bei Felix Meiner veröffentlicht wurde. Es ist ein mehr als nur unvoreingenommener Blick, mit dem hier der Film philosophisch ernst genommen wird; es ist Begeisterung für das Neue an der neuen Kunst. Die Philosophie des Films stellt eine der ersten Auseinandersetzungen dar, in denen die Eigenart des Mediums grundsätzlich und umfassend auf den Begriff gebracht, sein künstlerischer Status und Wert gewürdigt werden.

Die historische Distanz, die uns von ihrem Autor trennt, ist dabei nur allzu offenkundig: Harms kennt als Zeitgenosse des frühen Kinos ausschließlich den schwarz-weißen Stummfilm, und er bezieht sich auf ihn mit einer Emphase, die dessen Wortlosigkeit als konstitutiven Faktor seines ästhetischen Wertes nimmt. Nicht einmal von Ferne zieht er in Betracht, daß die technischen Möglichkeiten des Films etwas anderes als dies zulassen könnten. Auf die Experimente mit dem, was man damals den »sprechenden Film« nannte, bezieht er sich herablassend, ja wegwerfend. Der Film, wie ihn Harms ganz natürlich findet, gibt die Handlung in Bildern, denen die individuierende und differenzierende Sprache fehlt. Nur daß der Ästhetiker in dieser Wortlosigkeit keinen Mangel zu sehen vermag, sondern im Begriff des Schweigens eine genuine Qualität und Intensität behauptet. In ihr entspringt auch die Tendenz zur Typisierung, Stilisierung und Symbolisierung von Charakteren und Handlungen, die Harms dem Film in seinem Kunstcharakter wesentlich zuschreibt.2 Wie groß muß die Enttäuschung über den schon wenig später, 1928, einsetzenden Siegeszug des Tonfilms gewesen sein, der den Stummfilm zu einer Kindheitsphase des neuen Mediums herabsetzen und die realistische Grundtendenz des Films verstärken sollte. Das konnte Harms, konnten seine Zeitgenossen nicht wissen. 3

Doch es wäre voreilig, aus dieser Bindung an einen überwundenen technischen Entwicklungsstand des Mediums die historische Überholtheit des gesamten Ansatzes zu folgern. Daß die Erwartung an das Schweigen, wie sie in der metaphysischen Spekulation am Ende des Buches zu einer mystischen Utopie der kosmischen Vereinigung durch die raumgreifende und zeitüberwindende Kultur der leiblichen Gebärde überhöht wird,4 durch die historische Entwicklung gegenstandslos geworden ist, ändert nichts an der Triftigkeit der ästhetischen Begriffe und Analysen, die Harms der visuellen Gestalt des Films widmet. Alles was er darüber hinaus über den Film vorträgt, kann uns auch mit Blick auf das Kino unserer Tage noch fruchtbare Anregungen geben. Seine eng an den frühen Beitrag von Bélà Balázs5 angelehnte Phänomenologie bietet auch noch für eine Ästhetik des Films nach 1928 elementare, differenzierte und bis heute anschlußfähige Einsichten.

Die Akzente liegen dabei ebenso stark auf den kunsttheoretischen Bestimmungen des Mediums Film wie auf den wahrnehmungspragmatischen Aspekten, die ihnen auf der Seite der Rezeption korrespondieren. Wir haben es somit, anders als bei dem auf fatale Weise epochemachenden Aufsatz Walter Benjamins aus dem Jahr 1936, hier mit einem veritablen Ansatz zur Ästhetik des Films zu tun.

Zwar sieht Harms bereits Mitte der 1920er Jahre wie ein Jahrzehnt später Benjamin, daß der Film zu einem »Kulturfaktor«, und das heißt auch: zu einer gesellschaftlichen Produktivkraft geworden ist.6 Doch verwechselt er deshalb nicht die einzelwissenschaftlichen Perspektiven auf den Kontext des Films, auf seine industrielle Produktion und seine institutionellen Rezeptionsbedingungen, mit der Fragestellung einer philosophischen Ästhetik. Er hält seine Philosophie des Films frei von allen nationalökonomischen und sozialwissenschaftlichen Aspekten. Sie sollten darum keineswegs ignoriert werden. Unter Aufbietung des zeitgenössisch verfügbaren statistischen Materials über Filmindustrie und Strukturen der Filmrezeption widmet er sich ihnen ein Jahr später eigens in einer kleinen Nachfolgeschrift.7

Für seine Philosophie des Films setzt er ein mit einer Entkräftung des technikfeindlichen Vorurteils gegen das neue Medium, indem er entwaffnend daran erinnert, daß jede Kunst auf irgendeiner Form von Technik beruht.8 Er bilanziert die Techniken des Films von den Aufnahmeverfahren bis zur Projektion9 und geht – inmitten einer noch überwiegend skeptischen bis ablehnenden kulturellen Umgebung – von der positiven Arbeitshypothese aus, daß der Film das Zeug zu einer ernstzunehmenden Kunst hat:

»Der Film trägt in sich die Möglichkeiten zu einer Wesenheit, deren typische Eigenarten ihn in ihrer organischen Gesamtheit von jeder anderen Kunst scheiden.«10

Damit ist für den Film auch Autonomie der Kunst in Anspruch genommen: »Das der Kunst vorschwebende Ideal, […] mit den gegebenen realen Mitteln eine Welt [zu] erbauen«, ist ihm wie jeder anderen der Künste zuzusprechen.11

Seine Begriffe legt Harms so an, daß diese Option eine Chance hat. Er spricht von der besonderen Suggestionskraft des Films und sucht deren Geheimnis in der Analyse seiner technischen und ästhetischen Eigenarten zu ergründen. Über die konkreten Erträge zum Verständnis des neuen Mediums hinaus, das sich als das Leitmedium des 20. Jahrhunderts erweisen sollte, ist damit ein methodischer Ansatz gewählt, der diesen Entwurf zu einer methodologischen Fallstudie qualifiziert: Wie man sogleich sieht, verspricht mit der Frage nach seiner Suggestionskraft am Fall des Films die Trennung zwischen einer Ontologie der Kunst und einer Theorie der ästhetischen Erfahrung obsolet zu werden, da der Begriff dazu angetan ist, beide Dimensionen des Kinos, die werk- bzw. medienästhetische und die rezeptionsästhetische, miteinander zu vermitteln. Den Ansatz bildet zwar die Frage nach der Wirkung, doch führt deren Analyse so zwanglos wie zwangsläufig auf die Eigenarten des Mediums als auf die Quelle dieser Wirkung. In der Anlage des Buches entsprechen dieser Vermittlung nicht allein ein ganzes Bündel von Aspekten, in denen die sensationelle Wirkung von bewegten Bildern so analysiert wird, daß sich hier die Theorie der neuen Kunst als Theorie ihrer ästhetischen Erfahrung konkretisiert, sondern zudem eine nach dem Modell literaturwissenschaftlicher Gattungspoetik verfahrende narratologische Einteilung der filmischen Genres.

Was ist Film? So lautet die Frage, die Harms als methodischen Kehrreim durch die gesamte Untersuchung mitführt. Der Film ist eine »Kollektivkunst« – schon diese vorläufige, scheinbar ganz auf den äußeren Befund seiner kommunikativen Rezeptionsform bezogene Bestimmung gibt die erste Probe auf das Exempel der Verknüpfung der rezeptionsästhetischen mit der werkästhetischen Perspektive: Begründet ist sie in den Tatsachen der Bildproduktion. Der Film »erzwingt die Projektion« und damit die Vorführung auf großer Projektionsfläche. Erforderlich dafür ist, so sieht Harms deutlich, »ein möglichst gleichmäßig verdunkelter Raum«12 – und hat damit bereits einen wichtigen technisch-pragmatischen Faktor der cineastischen Bildmagie, der Suggestionskraft des Films benannt.

2. Bild, Handlung, Licht: Die Künste und die neue Kunst des Films

Wie seither jeder Filmtheoretiker stellt Rudolf Harms die Frage nach der ästhetischen Eigenart des Films zunächst im abgrenzenden Blick auf die traditionellen Künste, insbesondere die bildende Kunst, die Literatur und das Theater. Mit der Malerei teilt der Film die Anschaulichkeit des Bildes, mit dem Theater die literarische Handlung. Zeitgenössisch würden wir daraufhin formulieren: Der Film eignet sich von daher als narratives wie als performatives Bildverfahren. Wenn es bei Harms vom Film daraufhin heißt, er sei die »innigste Einheit von Bild und Handlung«,13 dann scheint dies nur auf den ersten Blick wie der biedere Versuch einer bloßen Synthese. Harms sieht vielmehr, wie bereits an der Bestimmung der Kollektivrezeption erkennbar wird, das unerhörte Novum, daß sich diese Einheit in der Lichtprojektion vermittelt, die den dominanten Faktor der Wahrnehmung bildet. Der Film vermittelt im Bild »die Welt als Lichteindruck«,14 »eine Welt der bewegten Lichtflecke in einem zur Fläche zusammengepreßten Dunkel, die durch jeden fremden Lichtstrahl zerstört wird, der ihre Fläche in der Aufsicht trifft«.15

Mit dieser Bestimmung ist die Ungeheuerlichkeit eines längst in den zeitgenössischen Habitus einverleibten filmischen Produktions- und Rezeptionsfaktors exponiert – eine Eigenart, die kaum genug hervorgehoben werden kann: Nicht allein ist damit eine neue Art von Bildtechnik und Bildträger bezeichnet; phänomenologisch zeichnen sich so zugleich die filmischen vor allen anderen Bildern dadurch aus, daß sie ihr Licht von innen bekommen – und damit eine Strahlkraft ungeahnter Art und Intensität entfalten. In der traditionellen Kunst ist es das gotische Kirchenfenster,16 dem diese Eigenschaft zukommt, und schon hier wissen wir, wie sie sich in der Leuchtkraft der Farben auswirkt.

»Durch die Einschaltung der Bewegung aber bekommt das Bild Leben«.17 Was auf diese Weise geschieht, wenn die Bilder laufen lernen, charakterisiert Harms zugleich als Dynamisierung des Lichts und macht damit den sensationellen Charakter der neuen Eindrücke kenntlich.

3. Reine Anschauung und gefühlte Bewegung

Über ganze Passagen seines Textes sieht es so aus, als wollte Harms die Suggestionskraft des Films allein apollinisch erklären: durch die hier gesteigerte Macht des Visuellen. Es reicht ihm längst nicht aus, den Film als eine »sinnlich anschauliche Kunst«18 zu bestimmen. Er ist »die Welt im Reiche des Sichtbaren«19 – » die Welt als Gesehenes«:20 Harms geht so weit, ihn in diesem Sinne »eine rein seelische, ja immaterielle von jeder Leiblichkeitsempfindung losgelöste Kunst« zu fassen.21 »Der Film vermittelt die Welt als Lichteindruck«.22 Überhöhungen, die in der Bestimmung kulminieren: »Der Film ist eine reine Kunst der Anschauung«;23 eine reine Kunst der Anschauung jedoch , die einen »Spielraum« im Umgang mit der Zeit hat. Hier freilich, in der Verschränkung von Raum und Zeit, ist die Reinheit des Schauens schon aufgegeben, und es kündigt sich die komplementäre und gegenläufige Bestimmung an.

Denn Harms erkennt auch, daß die Wahrnehmung filmischer Bilder als rein visuelles Geschehen nicht hinreichend bestimmt ist: Im Film werden die Bilder dionysisch. Durch die Einschaltung der Bewegung bekommt das Bild Leben« – und dies Leben ist direkt auf die Lebendigkeit des Zuschauers bezogen. Die Wahrnehmung von Bewegung ist nur möglich im elementaren Bezug auf die eigene Beweglichkeit des Wahrnehmenden. Das heißt: In die Wahrnehmung von Bewegung ist der Leib immer schon einbezogen. »Im Film ist es möglich«, die Bewegung »in einer Mitbewegtheit zu erleben, wie es keine Kunst bringen kann«,24 sagt Harms, und:

»Der Film ist bekanntlich die einzige Kunst, die uns die Bewegung an sich so miterleben läßt, daß wir selbst mit allen unseren Nervenantennen zu Bewegung zu werden scheinen. Wir sehen nicht nur einen Wagen vorbeifahren, einen Menschen fliehen, wir selber kriechen gewissermaßen in diese Bewegung und in ihre Steigerung bis zum stark betonten Höhepunkt hinein, wir selber fallen aus der schwindelnden Höhe in grausige Tiefen, indem wir die Linien dieser Bewegung und ihren Ablauf miterleben, uns in sie einfühlen, an ihr hinabgleiten«.25

Der Film, so fasst er es zusammen, löst »Bewegungsgefühle[]« aus.26 »Der Film ist eine Kunst der Bewegung, und zwar der Bewegung des Gesamtleibes.«27 So wichtig der Ausgang bei der Sichtbarkeit der Bilder ist, beim Film haben wir es durch den Faktor der Bewegung stets auch mit der Fühlbarkeit der Bilderfolge zu tun: Wir sehen nicht nur einen Wagen vorbeifahren, einen Menschen fliehen, wir selber kriechen gewissermaßen in diese Bewegung […] hinein.28 Wenn es dann an späterer Stelle heißt: »Im Mittelpunkt des Films steht der Mensch, und zwar der vollbewegte Mensch«,29 dann dürfen wir nach dem zuvor über die Bewegung Gesagten auch diesem Satz neben seiner kunstontologischen Intention auf den prioritären Darstellungsgegenstand des Films ebensosehr eine rezeptionsästhetische Pointe abgewinnen.

Was Harms nicht bemerkt: wie diese Bestimmung des Films als Kunst der Bewegung in der Annäherung an dessen ästhetische Eigenart all das zu einem Moment unter anderen herabsetzt, was er zuvor über den Film als »Welt im Reiche des Sichtbaren«,30 als »reine Kunst der Anschauung«31 und deren »körperliche Abgelöstheit« gesagt hat.32

4. Realismus und Irrealität

In der damit beschriebenen, von Harms nicht reflexiv aufgelösten Spannung der Bestimmungen läßt sich die Antwort auf die Frage nach der besonderen Suggestionskraft des Films prägnant zusammenzufassen: Der Film, dessen »Grundelemente« somit »sinnliche Anschaulichkeit und Bewegung« sind,33 »ist ein neues Gesamtkunstwerk«.34

Dabei sind die Möglichkeiten des Films in Ausdruck und Darstellung charakterisiert durch das Ineinander vollendeter Realistik und größter Irrealität, oder wie Harms es auch ausdrückt: absoluter Wirklichkeitsnähe bei gleichzeitiger Tendenz zur Wirklichkeitsferne.35 Denn »[d]er Film ist zunächst realistisch durch das photographische Wiedergabemittel«36 – die »absolut realistische Wiedergabe«.37 In Kulturbedeutung und Kulturgefahren des Films heißt es ein Jahr später zu diesem von Anfang an exponierten Spannungsverhältnis zweier Tendenzen pointierter:

»Auf der einen Seite objektiver Urkundenwert durch die photographische Wiedergabe, auf der anderen spielerische Wirklichkeitsform, zwei Stränge, die es als Grundprinzipien festzuhalten gilt«.38

Wie schon in seiner Philosophie des Films sieht er dessen Suggestionskraft auch hier in dem begründet, was er neuerlich den »Urkundenwert« nennt: in der »Verwischung des Bewußtseins vom Scheincharakter der Darstellung«,39 und worin – mit einer neuen Prägung, die an Nietzsches mutwillig-genüßliche Kennzeichnung des ästhetisch suggestiven Scheins als Lüge erinnert,40 die »Lüge der Aktualität« beruht.41 Diese findet sich jedoch konstitutiv konterkariert in jener »Möglichkeit zur erhöhten Wirklichkeitsferne«,42 die gleichursprünglich mit der photographischen Wiedergabe in verschiedenen technisch-ästhetischen Eigenarten des Mediums entspringt:

»Dadurch, daß der Film eine der Wirklichkeit zwar ähnliche, aber doch von ihr grundverschiedene Welt erzeugt, eine Welt der bewegten Lichtflecke in einem zur Fläche zusammengepreßten Dunkel, die durch jeden fremden Lichtstrahl zerstört wird, der ihre Fläche in der Aufsicht trifft, drängt er zur Wirklichkeitsferne und damit zu einem geistesfreien Spielen mit einer Wirklichkeit, die in Wahrheit nie besteht und im Grunde nichts als die absolute Bewegung darstellt.«43

Harms betont außer der hier angeführten Entwirklichung des Dargestellten durch die Lichtprojektion als grundlegend die freie Disposition über die Zeit, die in der performativen Zeitlichkeit des Films angelegt ist; doch er ist entsprechend dem zeitgenössischen Entwicklungstand ebenso beeindruckt von solchen technischen Verfahren wie dem Einkopieren und dem Kolorieren. Und nicht zuletzt hebt er die Reinheit der Anschauung hervor, die den filmischen Bildern durch die Wortlosigkeit des Mediums zuwächst.

Noch in Kulturbedeutung und Kulturgefahren des Films wird es heißen: »Es läßt sich schlechterdings kein künstlerischer Vorteil erkennen, der aus einer Erweiterung zum Farbenfilm oder gar sprechenden Film mit plastischer Wirkung entspränge. Das Los des Spielfilms dürfte sich in das eines einfachen Kopierungsmittel ohne individuelle und charakteristische, persönliche Note verwandeln.«44 Hier wird, wie schon bemerkt, die historische Distanz eines Ansatzes deutlich, der sich ausschließlich auf den Stummfilm und sein emphatisch bewertetes Schweigen bezieht.45

Folgt man umgekehrt Harms Intuition, in der Wortlosigkeit des Films ein Moment seiner antirealistischen Tendenz zu sehen, so liegt es auf der Hand, daß die Entwicklung der Tonspur die realistische Grundtendenz des Films verstärken sollte. Daß freilich auch noch aus einer anderen Richtung die Realistik des Films aus den inneren Möglichkeiten des Mediums eine Verstärkung erfährt, hätte er wissen oder besser: bemerken können. Denn er selber hat dieses Moment in seiner Untersuchung stark gemacht. Die Rede ist von der Phänomenologie der Bewegung, deren Ansatz seine Theorie enthält und in der eine ihrer Stärken liegt. Insofern die leibliche Wahrnehmung von Bewegung selber eine Signatur unserer Wirklichkeit ist, unserer realen Involviertheit und Partizipation an Raum und Zeit, liegt in der Betonung des Bewegungseffektes das, was man in terminologischer Variation von Harms eigenem Ansatz eine Bekräftigung des intrinsischen Realismus des Films nennen kann.

5. Waldboden aus Plüsch oder der ästhetische Imperativ: Der Film soll, was er kann

Der photographische Realismus ist seither von den Theoretikern des Films immer wieder betont, im Gegenzuge immer wieder für völlig irrelevant erklärt worden. Einer der großen Realisten, Siegfried Kracauer, erklärt die antirealistischen Tendenzen zum Beispiel des tragischen wie des phantastischen Films kurzerhand für unfilmisch und will den Film unter Berufung auf seine photographische Grundlage auf den Realismus und explizit: den Materialismus der Wiedergabe der Oberfläche der Dinge, verpflichten.46 Die Unangemessenheit dieser Konsequenz muss nicht erst umständlich dargetan werden.

Die Überlegenheit über solchen Dogmatismus, durch die sich der – wenngleich im Status des systematischen Entwurfs verbleibende – Ansatz von Rudolf Harms auszeichnet, dürfte kaum von der Hand zu weisen sein. Zwar zeigt auch er seine cineastische Faszination von dem, was er die »latente Physiognomie der Dinge« nennt: »Es gibt keine Kunst, die so berufen wäre, dieses ›Gesicht der Dinge‹ darzustellen wie der Film.«47 Wie Balázs findet auch er, daß es »zu den tiefsten metaphysischen Sehnsüchten des Menschen« gehöre, »zu sehen, wie Dinge sind, wenn man nicht zugegen ist«.48 Doch kommt er deswegen nicht auf die Idee, aus dem Projekt der visuellen Bewußtseinserweiterung, das der Film verfolgt, Träume aller Art – Schlafträume, Gedankenträume, Wunschträume – auszuschließen:49 Der Film kann »die tiefsten Träume der Menschheit« darstellen50 – und »er kann auch latente Zustände, gedachte Inhalte unserer Vorstellung in Zeit und Raum nach außen projizieren und zur Darstellung bringen«.51

Es gibt bei Harms in schöner Komplementarität zum Kantischen Du kannst, denn du sollst einen explizit formulierten ästhetischen Imperativ, in dem auf den ersten Blick das Gegenstück zu jener dogmatischen Festschreibung nach der Art von Kracauer zu liegen scheint: Der Film soll bestimmte Möglichkeiten der Darstellung entwickeln, »weil er es kann«.52 Zwar markiert dieser »Imperativ« nicht allein die antidogmatische Lizenz zur Entfaltung der mit seinen technischen Mitteln eröffneten Möglichkeiten; er birgt durchaus nicht-triviale normative Implikationen, die sich genauer aus der Bindung der photographischen Basaltechnik an ihre Gegenstände ergibt: »Ein Waldboden im Film besteht im allgemeinen nicht aus Plüsch«53 – mit dieser anschaulichen Ellipse markiert Harms gegenüber den bühnenillusionistischen Techniken des Theaters den Vorzug des Film, der seine Aufnahmen jederzeit am Originalschauplatz der Szene gewinnen kann – und macht dabei zugleich auf die Ansprüche aufmerksam, die sich von seiten eines informierten Publikums aus dem filmischen Realismus ergeben: Von einem Medium, dem der Blick auf die Realität konstitutiv ist, erwarten wir als Zuschauer mit Recht dann auch anderes und mehr als solche Waldböden aus Plüsch, auf welche die Theaterdramaturgie aus pragmatischer und ökonomischer Beschränkung der Mittel und unter Spekulation auf den realistischen Ausgleich unter Bedingungen der visuellen Distanz verfiele.

Daß ein Waldboden im allgemeinen nicht aus Plüsch bestehe, enthält jedoch den entscheidenden Hinweis auf die Abstinenz von ästhetischem Dogmatismus auch in dieser Richtung: Unter dieser auf Ausnahmen reflektierenden rhetorischen Vorgabe ist es immer schon akzeptiert, daß es im Interesse der ästhetischen Botschaft etwa eines radikalen ironischen Symbolismus auch sinnvoll sein kann, selbst im Film einen Waldboden aus Plüsch zu inszenieren. So kann der zeitgenössische Kinogänger es inmitten des gewohnten Photorealismus des Films durchaus verstehen und goutieren, wenn etwa als ironisches Zitat des barocken Illusionismus in Fellinis Casanova das Wasser in der Lagune von Venedig als schwarze Plastikplane dargestellt und damit zugleich ein Hinweis auf die artifizielle Natur des hier inszenierten erotischen Genius gegeben ist.54

Kurz und gut: Hier liegt das Gegenteil einer dogmatischen Bevormundung vor, ist doch die Bezugsbasis durch die reichere Bestimmung dessen, was es ist, das der Film kann, von vornherein unbegrenzt und der ästhetische Dogmatismus damit anders als bei Kracauer ausgeschlossen. Dieser ästhetische Imperativ, der vollständig als der Imperativ der ästhetischen Dynamis zu bezeichnen wäre, hat gerade die Pointe, daß der Film eben alle seine Möglichkeiten entfalten »soll«, die realistischen und die zur Wirklichkeitsferne tendierenden imaginären gleichermaßen. Die Bestimmung der Films als »Märchenbuch des modernen Erwachsenen«,55 in welche die ganze Phantastik der antirealistischen Stilrichtungen eingeschlossen ist, steht hier gleichursprünglich und gleichwertig neben der Würdigung seiner dokumentarischen Qualitäten.

Was gemeint ist, wenn Rudolf Harms im Untertitel seines Werkes von den ästhetischen Grundlagen des Films spricht, dürfte damit im Hinblick auf die Elemente, auf denen seine genuine Suggestionskraft beruht, hinlänglich expliziert sein. Was aber haben wir unter dessen im gleichen Zuge behaupteten metaphysischen Grundlagen zu verstehen? Das letzte Kapitel, das mit seinen überlangen Zitaten und holzschnitthaften Überlegungen das bei weitem schwächste der Schrift ausmacht, verspricht unter dem Titel Ethik und Metaphysik des Films Antwort auf diese Frage. In den hier vorgetragenen Reflexionen gewinnt das, was sich Harms überhaupt als die ethische Dimension, womöglich als die ethische Wirkung des Films vorstellt, immerhin Prägnanz: Das Ethische am Film sieht Harms ausdrücklich in dessen Vermögen, durch die Darstellung der Vielfalt von Lebensmöglichkeiten zur Suspension des Urteilens zu gelangen, stattdessen Verständnis zu wecken, das Verstehen anzuleiten.56

Die Reflexion auf seine metaphysischen Grundlagen gleitet dagegen in der enthusiastischen Verselbständigung seines mystischen Lobes der Sprachlosigkeit in die diffuse Sentimentalität einer pneumatischen Utopie ab. Der Film führt, so Harms mit Carl Hauptmann und in der Tradition der Rousseauschen Sprachkritik, durch die Begünstigung des gemeinsamen Schweigens, ja des »schweigenden Atmens« zur »Urverständigung alles Naturhaften zurück«.57

6. Kleines rezeptionsgeschichtliches Postskriptum in kritischer Absicht

Lange Zeit bildete die soziologische Funktionstheorie des Films – im Grunde eine politökonomische Umfunktionierung seiner technischen und ästhetischen Möglichkeiten –, die Walter Benjamin in seinem Essay Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit 1936 vorgegeben hatte,58 das Paradigma des Zugangs zum Leitmedium des 20. Jahrhunderts. Wir erinnern uns: Mit der massenhaften Produktion und Reproduktion von Bildern wie mit der Schockrezeption, die der Film als Technik der automatisch bewegten Bilderfolge dem Rezipienten aufnötigt, tritt die Kunst in ein neues historisches Stadium. An die Stelle des Originals treten die massenhaften technischen Reproduktionen, der Wahrnehmungsmodus der kontemplativen Versenkung des Einzelnen wird abgelöst durch den der zerstreuten Schlagfertigkeit im Kollektiv. So hatte Benjamin argumentiert und den damit verbundenen Funktionswandel der Kunst in die Metapher gefaßt: In der technischen Reproduktion werde die Aura des Kunstwerks zertrümmert. Es überwiegen nach seinem Urteil an diesem gewaltsamen Verlust freilich die Vorteile. Hatte die traditionelle Kunst der Originale ein parasitäres Dasein am Ritual – zuletzt am säkularen Schönheitsdienst – geführt, so ist die technisch reproduzierte Kunst nicht allein produktiv freigesetzt für politische Funktionen. Sie qualifiziert sich darüber hinaus als Übungsfeld für die Herausforderungen an unsere Geistesgegenwart, die uns durch die Beschleunigung der Lebensprozesse – in der industriellen Produktion wie in den künftigen Bürgerkriegen – noch bevorstehen.59

Die »penetrante[] Beliebtheit« des Reproduktionsaufsatzes mit seinem metaphorischen Materialismus und seiner antifaschistisehen Emphase war dem von der Autonomie der Kunst überzeugten Adorno ein Dorn im Auge.60 Die Motive, die bei Adorno für dieses Verdikt erkennbar werden,61 lassen sich im Vergleich von Benjamins Beitrag mit demjenigen von Rudolf Harms, in der Vergegenwärtigung einer konkurrierenden Theorie, die 1936 bereits zu Gebote stand, gewiß qualifizieren und um weitere ergänzen.

Für eine erste Abgrenzung und Würdigung der Philosophie des Films dürfte ein Blick auf Benjamins Methode hilfreich sein. Wo er den fortschrittlichen Charakter seiner eigenen Fragestellung und Methode gegen den reaktionären der zeitgenössisch vorherrschenden herausstellt, da heißt es:

»Hatte man vordem vielen vergeblichen Scharfsinn an die Entscheidung der Frage gewandt, ob die Photographie eine Kunst sei – ohne die Vorfrage sich gestellt zu haben: ob nicht durch die Erfindung der Photographie der Gesamtcharakter der Kunst sich verändert habe – so übernahmen die Filmtheoretiker bald die entsprechende voreilige Fragestellung.«62

Die Frage, ob und wodurch der Film eine Kunst sei, der die an der bildenden Kunst der Tradition wie der klassischen Moderne orientierten Zeitgenossen bewegte, soll mit Benjamins gleichermaßen gesellschaftskritischem wie kunstkritischem Programm im Sinne jener petitio principii, deren er sich mit leichter Hand bedient, immer schon verkehrt und Ausdruck einer geschichtsphilosophischen Befangenheit sein: Sie könne nur aufkommen, wenn nicht gesehen wird, daß sich im Film ein Funktionswandel der Kunst vollziehe, durch welchen die bildende Kunst aufgehört hätte, den Maßstab der Beurteilung abzugeben. Wo Benjamin sich in grundsätzlicher Perspektive auf die frühen theoretischen Bemühungen um den Kunstcharakter, die Schönheit und die neuen Möglichkeiten des Films bezieht, da nennt er auf der einen Seite neben Abel Gance auch Séverin-Mars, Alexandre Arnoux und Franz Werfel, auf der anderen Bertolt Brecht und Rudolf Arnheim. Der Beitrag von Rudolf Harms, wiewohl seit einem Jahrzehnt in der Welt, gehört zu denen, die keine Erwähnung finden. Es dürfte – wenn nicht allein, so doch in prominentem Maße – dieses Übergehen sein, das dazu geführt hat, daß Rudolf Harms mehreren Generationen von intellektuellen Cineasten unbekannt geblieben ist – galt doch Benjamins kleiner Essay als ein Schlüsseltext zum Verständnis des Films als Kunst. Mit der Weichenstellung, die hier vorgenommen ist, war der Zugang zu einer ästhetischen Theorie des Kinos auf mehrere Jahrzehnte verstellt.

Ebenso wie die theoretische Skizze, die der ungleich berühmtere Malraux nur wenige Jahre nach Benjamins Reproduktionsaufsatz veröffentlichte und die anders als dieser den Ansatz zu einer Ästhetik des Films enthält, harrt auch die umfangreichere Arbeit Harms’, deren sachhaltige Analyse sich der Polarisierung von fortschrittlicher und reaktionärer Methode entzieht, der gleichermaßen nachholenden wie aktualisierenden Rezeption.63 Wenn ein Klassiker ein Autor ist, den wir aus guten Gründen wiederlesen und ein Zeitgenosse einer, der uns mit seinem Problembewußtsein für unsere Auseinandersetzungen noch etwas mitzuteilen hat, dann gilt es, Rudolf Harms, den Pionier des Stummfilms, als Klassiker wie als Zeitgenossen zu entdecken.

Die editorischen Arbeiten am Text umfassen neben der stillschweigenden Fehlerkorrektur die Ergänzung mangelhafter bibliographischer Angaben: Autorennamen, Buch- und Aufsatztitel wurden so weit als möglich recherchiert und vervollständigt; Zitate wurden, soweit auffindbar, verifiziert und korrigiert. Wo der Wortlaut des Zitats signifikant vom Original abweicht, wurde die Lesart eindeutig kommentiert und durch eckige Klammern »[…]« kenntlich gemacht. Editorenrede steht generell in eckigen Klammern »[…]«.

Für den Hinweis auf den vergessenen Pionier der Filmästhetik Rudolf Harms danke ich sehr herzlich Ludger Schwarte (Zürich), der mich 2005 im Rahmen der von Gerald Hartung veranstalteten Konferenz Moderne im Widerstreit in Hannover auf die Philosophie des Films