Impressum


überarbeitete Ausgabe
Originaltitel: THE ORACLE
Copyright Gesamtausgabe © 2020 LUZIFER-Verlag
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

        

Cover: Michael Schubert
Übersetzung: Madeleine Seither

                                                                                                                                

Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2020) lektoriert.

                                                                                                                                

ISBN E-Book: 978-3-95835-205-6

                                                                                                                                

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Kapitel 1


Livadia, Mittelgriechenland, 393 n. Chr.

  

Wie ein Tier auf der Flucht hetzte die Priesterin durch den Wald. Die Männer, die nach ihr suchten, waren Feinde der schlimmsten Art: Sie würden sie bei lebendigem Leib häuten und dabei die Loblieder der Rechtschaffenen singen.

Die abgefallenen Blätter der Muttereichen lagen in Schichten auf dem Waldboden, zerfielen unter ihren flinken Schritten und verrieten ihre Position, während sie auf die Rettung zurannte. Sie spürte das wütende Schlagen ihres Herzens. Die Schatten, die ihr folgten, kamen näher.

Sie flehte Apollon um einen silbernen Faden Mondlichts an. Als sie nach Luft für ihre eingeschnürte Lunge rang, teilten sich die blaugrauen Wolken. Ein Lichtstrahl blitzte zwischen den Zweigen der Bäume hindurch und beschien vereinzelte Erdflecken. Dort, entlang des Berghangs, jenseits der kahlen Eichen, standen die immergrünen Pflanzen, die den Pfad zum Fluss Herkyna säumten. Obwohl sie es über ihren eigenen, hastigen Atem nicht hören konnte, stellte sie sich das Flüstern der heiligen Wasser vor, und das verlieh ihr Stärke.

Nur noch ein paar Schritte bis zur Höhle.

Würden ihre Brüder dort warten? Oder hatten sie sie aufgegeben? Es war so lange her, dass sie entführt und in das Lager der Barbaren verschleppt worden war, die das Banner eines neuen Gottes schwangen. War ihr Volk ihr treu geblieben, ihren gemeinsamen Prinzipien? Oder hatten sie ein ähnliches Schicksal erlitten und sich in alle vier Winde zerstreut?

Bald würde sie die Antwort wissen. Sie ignorierte den Protest ihres Körpers und befahl ihren Beinen, schneller zu laufen.

Nur noch ein paar Schritte  …

«Aristea von Delphi.» Das Flüstern einer Männerstimme verspottete sie. War er Freund oder Feind? Ohne ihr Tempo zu drosseln, blickte sie über ihre Schulter. Dort war niemand.

Er wiederholte ihren Namen, diesmal mit einem Zischen, das ihr die feinen Härchen auf den Armen zu Berge stehen ließ. Sie spürte eine durchdringende Präsenz und sah vor ihrem geistigen Auge das rotglühende Eisen, mit dem sie gebrandmarkt worden war, als sei sie das Eigentum jenes verabscheuenswürdigen Tempels. Der Gedanke entmutigte sie.

Die kühle Luft mit gierigen Zügen einatmend rannte Aristea weiter auf die Pinien zu. Ihre Kapuze verfing sich in einem tief hängenden Ast, und entblößte ihr kurz geschorenes Haar, als sie ihr vom Kopf gerissen wurde. Die Mönchskutte, die sie zur Tarnung trug, war schweißgetränkt und der Leinenflor der Tunika darunter klebte an ihrer Haut.

Nichts davon spielte eine Rolle. Sie trachtete einzig danach, den Wahnsinnigen zu entkommen, die sie jagten, denjenigen, die ihre Gräueltaten damit rechtfertigten, dass sie sich einer höheren Macht beugten. Sie wusste, dass sie zu allem fähig waren. Sie war der Adressat ihrer Abscheulichkeit gewesen.

«Aristea.» Stimmen verhöhnten sie jetzt aus mehreren Richtungen, als hätten sie sie umzingelt. «Du kannst dich nicht verstecken.»

Abermals warf sie einen Blick über ihre Schulter und abermals sah sie nichts. Sie drehte sich gerade rechtzeitig wieder nach vorn, um zu sehen, wie sie auf die abblätternde Rinde eines Nadelbaums zulief. Der Aufprall ließ sie rückwärts umfallen und sie landete mit dem Steißbein auf einem gezackten Stück Kalkstein. Der Schmerz durchzuckte sie wie Zeus' Blitzschlag.

Aus den Schatten erklang grausames Gelächter. Keuchend stand Aristea wieder auf. Ihre Knie zitterten vor Erschöpfung so sehr, dass sie fürchtete, sie würden ihr den Dienst verweigern. Sie biss die Zähne zusammen und sagte sich, dass sie unbezwingbar war, die Tochter der Götter.

Sie war das Orakel von Delphi.

Der Gedanke erfrischte ihren Geist. Humpelnd zwang sie sich vorwärts, auf den Eingang der Höhle zu. Sie konnte die Messingpfähle der Einfriedung im Mondlicht funkeln sehen.

Nur  …  noch  …  ein paar  …  Schritte  …

Die Stimmen verstummten. Hatte Aristea sie sich nur eingebildet? Nein, das war keine gewöhnliche Stille. Es war das Zähnefletschen vor dem Angriff. Der Windstoß vor dem sintflutartigen Regenfall.

Den Schmerz ignorierend hüpfte Aristea über ein Gewirr herabgefallener Äste hinweg und landete auf allen vieren vor dem Messingobelisken, der das Tor öffnete. Sie wusste, was sie zu tun hatte. Sie drehte den Pfahl zweimal rechts herum, einmal nach links, und halb wieder zurück.

Die Erde tat sich auf.

Mit zitternden Händen tastete Aristea nach der Strickleiter. Ihr Herz machte einen Satz, als ihre Finger über die raue Jute strichen. Sie entrollte die Leiter und ließ sie in der lichtlosen Leere baumeln. Bevor sie in den Schoß des Trophonios hinabstieg, entfernte sie den Obelisken, sodass ihre Verfolger keinen Zugang fänden.

Mit dem Pfahl unter dem Arm betrat sie die erste Sprosse und versuchte, auf der instabilen Vorrichtung ihr Gleichgewicht zu finden. Ihr rasender Herzschlag war keine Hilfe. Sie holte tief Luft und hielt den Atem für ein paar Sekunden an; eine Technik, die sie während ihrer Gefangenschaft angewandt hatte, um ihre Angst zu bewältigen und sich zu fokussieren.

Ihre Atmung war jetzt gleichmäßiger und Aristea betrat die zweite Sprosse, dann die dritte. Bevor sie die vierte und letzte Sprosse betrat, wischte sie sich den Schweiß von der Stirn und musterte den Bereich unter sich. Es war zu dunkel, um die Tiefe einschätzen zu können. Sie warf den Obelisken hinab und wartete. Innerhalb von Sekunden ertönte ein Klirren, als der Pfahl auf dem Boden aufschlug.

Es war ein Sprung ins Ungewisse, aber ihr blieb nichts anderes übrig. Sie trat auf das letzte Juteband, ließ los und stürzte in den dunklen Abgrund.

Aristea landete hart auf ihrer Seite. Sie war verletzt, aber sie war in Sicherheit. Sie blickte zur runden Öffnung etwa zehn Ellen über ihr hinauf. Laut den Hütern der Höhle des Trophonios war der Eingang so manipuliert, dass er sich schloss, wenn kein Druck auf der Leiter war, und sich wieder öffnete, wenn jemand im Inneren am Seil zog.

In dieser Nacht tat er es nicht.

War sie zu leicht, um den für Männer geschaffenen Mechanismus auszulösen? War sie falsch unterrichtet worden? Was auch immer zutraf, sie befand sich am Grund eines Erdenschoßes, ungeschützt und angreifbar.

Dann hörte Aristea sie.

«Sie existiert tatsächlich», flüsterte einer. «Die Höhle der Dämonen.»

Ein zweiter Mann lachte schallend. «Zwei auf einen Streich. Dafür werden wir gut bezahlt werden.»

Kopfgeldjäger. Jemand hatte sie angeheuert, um Aristea zu fangen – und zweifelsohne zu töten. Nicht genug, dass sie sie über die Dauer so vieler Monde, dass sie aufgehört hatte, diese zu zählen, gefoltert und erniedrigt hatten: Sie trachteten nach ihrem Blut.

Eher würde sie ihr eigenes Leben beenden, als ihnen diesen Sieg zu überlassen.

«Eine Leiter. Lass uns nachsehen, wohin sie führt.»

«Du zuerst. Ich werde nach wilden Tieren Ausschau halten.»

Aristea kroch zur Seite und kauerte sich gegen eine Wand, die wie ein Ofen mit Steinen ausgekleidet war. Irgendwo dort befand sich ein Hohlraum, der zum inneren Allerheiligsten führte. Trophonios selbst, der große Architekt, der den Tempel des Apollon in Delphi baute, hatte den Durchgang auf äußerst raffinierte Weise angelegt, und nur die Gläubigen wussten, wie man hinein gelangte.

Auf Händen und Knien schob sie sich an der Höhlenwand entlang und tastete dabei nach der Öffnung, deren Breite zwei Spannen betragen sollte – sie war so klein, dass die Unwissenden sie übersehen würden.

«Die Leiter führt nicht bis ganz nach unten.»

«Spring, du Einfaltspinsel.»

Dort. Aristeas Hand sank in die Einkerbung. Sie legte sich auf den Rücken und schob ihre nackten Füße in die Vertiefung. Die vorgeschriebene Zugangsmethode. Sie bedauerte es, keine Honigkuchen bei sich zu haben, die sie dem Geist des Trophonios darreichen konnte. Auch hatte sie die rituellen Waschungen am Fluss nicht begangen. Sie betete, dass die Götter ihr dieses eine Mal vergeben würden und in ihrer Notlage das ungeheure Verderben wiedererkannten, das Griechenland überkommen hatte.

Die flüchtige Priesterin war Beweis dafür, dass es den Griechen nicht länger freistand, die Religion ihrer Wahl auszuüben. Ihre Götter waren nichts als Geflüster im Wind, leise in dieses und jenes Ohr gewispert wie Geheimnisse aus dem Grab, von der fruchtbaren Erde entfernt und in eine trostlose Hölle verbannt.

Mit einiger Anstrengung schob Aristea ihre Beine tiefer in die enge Öffnung. Sie hörte einen dumpfen Aufprall. Ihr Henker war angekommen.

Ein Stöhnen unterdrückend zwang sie ihre Knie in das Loch. Nimm mich zu dir, Trophonios. Hole mich in deine glückselige Dunkelheit.

Eine unsichtbare Gewalt zog an ihren Beinen. Es funktionierte. Die Kraft, ähnlich den Strudeln, die in der Ägäis Schiffe verschlangen, ergriff sie ganz und sog sie in die Öffnung. Der Ärmel ihrer Kutte verfing sich irgendwo und wurde mit einem lauten Geräusch fortgerissen, das in Aristeas Ohren nachhallte.

Die Kraft zog sie ruckartig nach unten. Kalte, feuchte Erde strich über ihren nackten Arm, während sie in einer Rinne auf das Unbekannte zurutschte. Sie hätte Angst haben sollen, doch sie fühlte sich sicher. Sie vertraute darauf, dass was immer dort unten im Grab, das Trophonios ausgehoben hatte, um einem jeden die entsetzliche Reise in seine wahre Natur zu ermöglichen, besser war, als das Schicksal, das sie überirdisch erwartete.

Die Rinne stieß sie ins Nichts hinaus, und während sie in vollkommene Dunkelheit stürzte, ruderte sie mit Armen und Beinen, um irgendwo Halt zu finden. Vergeblich. Sie schloss die Augen und gab sich dem Gefühl des Fallens hin.

Vertraue. Apollon wird sich nicht von seiner Auserwählten abwenden.

Aristea landete auf ihren Beinen und überschlug sich dreimal, bevor ihr Körper gegen die Höhlenwand prallte. Eine Flüssigkeit tröpfelte in ihren Mund. Ihre Zunge verzeichnete einen scharfen, metallischen Geschmack; den ihres eigenen Blutes. Sie bemühte sich darum, sich aufzusetzen. Ihr linkes Bein war unter ihr verdreht und ließ sich nicht bewegen. Als sie sich in eine aufrechte Position zwang, schoss ihr ein stechender Schmerz durch Knie und Rumpf, bis das Gefühl durch jede Zelle ihres Körpers pulsierte.

Sie biss sich auf die Lippe, um einen Aufschrei zu unterdrücken, und fasste hinab, um ihr unbewegliches Bein zu untersuchen. Durch aufgerissene Haut hindurch spürte sie die scharfen Kanten eines zersplitterten Knochens. Sie keuchte.

«Sieh dir das an.» Die Stimmen der Männer waren gedämpft, kaum wahrnehmbar. Aristea lauschte aufmerksam.

«Ihre Kutte. Sie muss durch eine andere Öffnung entkommen sein.»

«Wir müssen nach dem Ausgang suchen.»

Stille.

Ihr Herz hämmerte, als sie sich vorstellte, wie die Männer nach dem geheimen Eingang zum inneren Heiligtum der Höhle suchten. Sie flehte ihren Schutzgott um Erlösung von diesem Albtraum an, nicht um ihres eigenen, belanglosen Lebens willen, sondern zur Bewahrung des Geheimnisses.

«Ich sehe keinen Durchgang.»

«Wahrscheinlich ist sie unter der Erde eingeschlossen wie eine Ratte.» Er lachte leise. «Und dort wird sie bleiben. Wir beeilen uns besser. Wir müssen diesen Eingang versiegeln, damit das Werk des Teufels nicht vollbracht werden kann.»

«Was ist damit?» Eine Pause entstand. «Es ist schwer.»

Der Obelisk. Aristeas Augen weiteten sich.

«Nimm es mit. Wir werden es in den Fluss werfen, damit niemand je wieder diese Höhle des Bösen betritt.»

Die Stimmen verklangen zu einem Gemurmel und erstarben dann ganz. Aristea war allein in der Dunkelheit, schweißgebadet und zitternd. Ihr eigener schneller, angestrengter Atem durchbrach die Stille. In ihrem Verstand verstärkte sich das Geräusch, bis es sie verrückt machte.

Wieder versuchte sie, ihr Bein zu bewegen. Es hatte keinen Zweck. Die Verletzung war zu schwerwiegend, als dass Aristea zu einer heroischen Flucht hätte ansetzen können. Sie lehnte sich gegen die Erdwand. Der kalte Lehm an ihrem nackten Hals jagte ihr einen Schauder über den Rücken.

Sie dachte an ihre Brüder, die Priester, die das Heiligtum in ihrem geliebten Delphi hüteten, und die eine Frau dazu erzogen hatten, sie in der Anbetung dessen, der Dunkelheit mit Licht erfüllt, zu führen. Zum ersten Mal ließ sie den Gedanken zu, dass diese guten Männer getötet worden waren, wie so viele andere auch.

Zum ersten Mal hatte die Hoffnung sie verlassen.

Heiße Tränen strömten über ihre Wangen. Sie erlaubte sich, in leises Schluchzen auszubrechen, und erlag der eisigen Umarmung der Verzweiflung.

Kapitel 2


Theben, Griechenland, Gegenwart

 

Das Mobiltelefon vibrierte auf der Glasplatte des Nachttisches. Sarah Weston erwachte blinzelnd. Das Fenster ihrer Einzimmer-Unterkunft war mit Regentropfen geschmückt, die im blaugrauen Mondlicht schimmerten.

Sie tastete nach dem Telefon. «Weston am Apparat.»

«Habe ich Sie aufgeweckt?» Die Stimme am anderen Ende der Verbindung klang, als gehöre sie einem Kettenraucher, der die ganze Nacht nicht geschlafen hatte.

Sie setzte sich auf. «Evan? Was ist passiert?»

«Ich kann nicht ins Detail gehen. Treffen Sie mich so schnell Sie können beim Museum.» Er legte auf.

In den zwei Monaten ihrer Zusammenarbeit mit Evangelos «Evan» Rigas hatte sie seine knappe Art zu schätzen gelernt. Der Direktor der Ephorie für Prähistorische und Klassische Antiquitäten in Theben war ein Mann weniger Worte. In Griechenland war er als der «einsame Wolf» bekannt: Er war ein knallharter Wissenschaftler, der eine gewisse Geringschätzung für Zusammenarbeit und ein besonderes Misstrauen gegen seine Kollegen aus dem Westen hegte. Seine passiv-aggressive Haltung machte deutlich, dass ihn die Anwesenheit von Sarah und ihrem Partner, dem Anthropologen Daniel Madigan, störte, die den von der Ephorie beaufsichtigten Ausgrabungen als Fachberater zugewiesen worden waren. Aber da er sich in einer trostlosen finanziellen Lage befand, brauchte Evan die von der britischen A.E.-Thurlow-Stiftung bewilligte Förderung und hatte daher keine andere Wahl, als die von der Einrichtung angeheuerten Experten zu ertragen.

Sarah schob ihre Zweifel beiseite und zog sich schmutzige Kakihosen und ein abgetragenes Chambray-T-Shirt an. Das unordentliche Gewirr ihrer blonden Locken band sie zu einem Pferdeschwanz. Während sie zur Tür hinauseilte, griff sie nach ihrem Barbourmantel.

Um vier Uhr morgens im frühen Februar war das Tageslicht noch einige Stunden entfernt. Sarah stieß den Atem aus und beobachtete, wie er eine Wärmewolke bildete, die rasch vom Winterfrost vereinnahmt wurde. Es erinnerte sie an die langen Winter auf dem Familiensitz im ländlichen England und an glücklichere Zeiten. Sie schloss den Reißverschluss ihres Mantels und zog ihre Kapuze über, bevor sie in den Nieselregen trat.

Normalerweise würde sie zum oberen Teil der Kadmeia, der Akropolis des antiken Thebens, hinauf fahren, aber beide Jeeps der Ausgrabung waren verschwunden. Es ärgerte sie, dass weder Evan noch Daniel auf sie gewartet hatten. Zwar machte es ihr nichts aus, zu laufen, nicht einmal im Regen, aber der Achthundert-Meter-Gewaltmarsch bergauf durch schlammiges Gelände würde länger dauern als nötig.

Wenigstens kannte sie den Weg gut. Sie machte diese Wanderung täglich, drehte aber normalerweise nach Südosten ab, zu einem Hügel, auf dem die wenig erforschte Kultstätte des Apollon Ismenios stand, deren zerstörte Marmorsäulen wie eine neolithische Henge zwischen den überwucherten Gräsern angelegt war.

Zuerst hatte Sarah Bedenken gehabt, einen Posten an einem so unbedeutenden Ort anzunehmen. Doch Daniel, vom Ruf des Ismenions als eine von Griechenlands wichtigen, wenn auch einer längst vergessenen, Orakelstätte begeistert, hatte sie davon überzeugt, dem Ganzen eine Chance zu geben. Auch wenn sie zugestimmt hatte, ihn zu unterstützen, teilte sie seine Überzeugung nicht. Sie glaubte, ihre jeweiligen Talente wären woanders besser eingesetzt.

Wenn sie es positiv betrachtete, musste sie zugestehen, dass der Ort ruhig war, vorhersehbar und ohne jede Kontroverse. Nach ihren letzten beiden Aufträgen, wo alles etwas heikel geworden war, freute sie sich darauf, zur Abwechslung einmal völlig unbemerkt zu bleiben.

Als sie um die Ecke zu dem Gipfel bog, auf dem das Museum niedergelassen war, musste sie in Betracht ziehen, sich dabei gewaltig getäuscht zu haben.

Im flackernden Licht einer halb aus dem Scharnier hängenden Wandlaterne bemerkte sie, dass rot-weißes Absperrband der griechischen Polizei den Museumsvorplatz umgab. Außerhalb der Absperrung standen zwei Polizisten plaudernd und Zigaretten rauchend unter einem Überhang.

Sie rief ihnen zu: «Ich bin Sarah Weston und arbeite mit Professor Rigas zusammen. Er hat mich hergebeten.»

Einer der Männer musterte sie von Kopf bis Fuß. Ohne sich die Mühe zu machen, sie sich ausweisen zu lassen, winkte er Sarah hinein.

Sie duckte sich unter dem Absperrband hindurch und überquerte den Vorplatz auf dem Weg zum Haupteingang. Die Vordertür stand offen und alle Lichter im Haus waren eingeschaltet. Sarah blickte auf ihre Timex: 4:49 Uhr.

Aus einem Flur hörte sie Stimmen und ging darauf zu. Ein Ermittler nahm gerade Evans Aussage auf. Da sie auf keinen Fall stören wollte, zog sie sich zurück und warf einen Blick in die Korridore. Alles war still. Wo war Daniel? Hatte er nicht denselben Anruf erhalten?

Unter ihren abgetragenen, ledernen Wanderstiefeln knirschte etwas: das unverwechselbare, dumpfe Knacken zerbrochenen Glases.

Ein Diebstahl?

Mit den Augen folgte sie der Spur aus Glasscherben zu einem flachen Schaukasten in Raum B, in dem Töpfereien und kleine Objekte ausgestellt wurden. Sie blickte über beide Schultern, um sich zu vergewissern, dass sie allein war, und ging darauf zu.

Als sie sich darüber beugte, runzelte sie die Stirn. Der Kasten war zerschmettert und ausgeräumt worden. Sie las den in griechisch verfassten Ausstellungstext: Messingpfahl, Herkunft unbekannt.

Das war merkwürdig. Üblicherweise wurden Objekte unbekannter Herkunft oder Chronologie nicht ausgestellt, bevor sie weiter untersucht werden konnten.

Sarah sah sich um. Auf der anderen Seite des Westflügels sperrte dasselbe zuckerstangengestreifte Band eine offene Tür ab. Sie erinnerte sich daran, dass dies der Eingang zu einem Lagerraum war, in welchem die Urkundensammlung des Museums aufbewahrt wurde. Sie ging darauf zu.

Die Papiere sah sie zuerst. Jeder Behälter war umgedreht worden, der Inhalt über den Boden verstreut, auf Regalen, einem Arbeitstisch. Der Raum war durchsucht worden.

Hinter einem Stapel leerer Kisten entdeckte sie ein Paar Füße. Sarahs Gesicht wurde heiß, als Adrenalin sie durchflutete. Sie übertrat das durchhängende Absperrband gerade so weit, dass sie einen besseren Blick bekam, ohne den Tatort zu verunreinigen.

Sie hielt sich eine Hand vor den Mund, um ein Keuchen zu unterdrücken. Der Nachtwächter lag reglos in einer Ecke. Seine Hände waren mit einem Computerkabel gefesselt und sein Mund mit schwarzem Klebeband verschlossen. Sein Gesicht war übel zugerichtet und blutbeschmiert. Ein langer, wunder Streifen verlief über seinen Hals, als ob jemand versucht hätte, ihn zu strangulieren.

Sie spürte eine Hand auf der Schulter und zuckte zusammen.

«Es tut mir leid, dass ich Sie erschreckt habe.»

Erleichtert, Evan zu sehen, stieß sie hörbar den Atem aus. «Ist schon in Ordnung. Möchten Sie mir erklären, was los ist?»

«Man hat mir gesagt, dass ich das tun muss.»

Sarah überging seine abfällige Bemerkung.

«Es gab einen Einbruch mitten in der Nacht.» Obwohl sein Englisch fehlerfrei war, kam sein griechischer Akzent im gerollten R zum Ausdruck.

«Wer ist der Wachmann? Ich kann mich nicht erinnern, ihn schon mal gesehen zu haben.»

«Er war neu. Nicht mal eine Woche im Dienst.» Evan betrachtete den Tatort. «Sieht aus, als hätte er sich ordentlich zur Wehr gesetzt.»

Sarah wurde übel. In ihren zwölf Jahren als Archäologin hatte sie viele Fälle von Antiquitätendiebstahl und Gewalt gesehen – und es wurde niemals einfacher, diese zu verarbeiten. «Das verstehe ich nicht. Ist der Alarm nicht losgegangen?»

«Ist er, aber niemand hat ihn gehört. Zumindest nicht rechtzeitig.» Er zuckte mit den Schultern. «Seit den Budgetkürzungen sind wir gezwungen, ohne Überwachung auszukommen.»

Sarah verzog das Gesicht zum äußerlichen Ausdruck ihrer Verachtung für die Kurzsichtigkeit der Regierung. Ihr war sehr wohl bewusst, dass das Kultusministerium unter der Wirtschaftskrise gelitten hatte, aber beim Schutz seiner Nationalschätze zu versagen war nichts anderes als kriminell – besonders im Hinblick auf all die Opportunisten, die wie die Geier ihre Kreise zogen und auf den richtigen Moment warteten, um zuzuschlagen.

«Wie konnte die Polizei dann wissen, dass sie herkommen musste?»

«Ich habe sie angerufen.» Er schob seine runde, schwarz umrandete Brille auf seinem Nasenrücken nach oben. «Ich war auf dem Weg zum Labor, um einen Bericht zu beenden, als ich den Alarm hörte. Ich bin sofort zum Museum gerast, aber es war schon zu spät.»

Sarah erinnerte sich an den zerbrochenen Schaukasten. «Was wurde gestohlen?»

«Tatsächlich nichts. Der Gegenstand war weggebracht worden.»

«Weggebracht … wohin?»

Evan war einen Moment lang still. Er wandte sich ihr zu. Seine tief liegenden Augen wurden von seinen dichten, schwarzen Brauen verdunkelt. «Hören Sie, ich muss gehen. Die Polizei hat noch weitere Fragen.»

«Evan, warten Sie.» Ihr Tonfall war schärfer, als sie es beabsichtigte. «Wo ist Daniel?»

«Er musste nach Athen gehen.»

«Athen?» Sie verspannte sich. «Wozu?»

«Ich kann jetzt nicht reden. Sie warten auf mich.»

Sarah beobachtete, wie Evan auf die Polizisten zuging, und fragte sich, was er ihr verschwieg. Sie dachte darüber nach, wie abenteuerlich es war, dass Daniel mitten in der Nacht nach Athen aufbrach. Was konnte so dringend sein? Und warum hatte er sie nicht informiert? Etwas stimmte nicht.

Aufgrund des Läutens ihrer inneren Alarmglocken fühlte sie sich leicht benommen. Abwesend blickte sie zum verwüsteten Lagerraum und der reglosen Gestalt eines Mannes, der ein paar Stunden zuvor noch äußerst lebendig gewesen war. Ihre Gedanken rasten durch Erinnerungen ihrer jüngsten Vergangenheit: Ein Mönch, erstochen, weil er ein uraltes Geheimnis bewahrte; ein Stammeskrieger, durchbohrt als Opfer eines Wahnsinnigen auf der Suche nach einem biblischen Schatz; ihr Vater, als Geisel gehalten und beinahe getötet. Sie rieb sich die Augen, um die ungebetenen Visionen der Gewalt abzuschütteln, die ihre Arbeitseinsätze heimzusuchen schienen und ihr die Freude an den archäologischen Entdeckungen verdarben.

Sie entschied sich, nicht zu bleiben. Als sie durch den Korridor auf den Ausgang zuging, bemerkte sie winzige rote Tröpfchen auf dem Boden zwischen den Glasscherben. Sie folgte der Spur durch den Flur und zur Haupteingangstür. Nahe der Schwelle zeigte ein schlammiger, blutgefärbter Fußabdruck in Richtung des Gebäudes. Obwohl der Abdruck schwach war, konnte sie das Fischgrätmuster der Sohle ausmachen.

Sarah drückte die Tür langsam auf und betrachtete den Vorhof, entdeckte aber nichts. Alle weiteren Spuren des Eindringlings mussten vom Regen davongespült worden sein. Sie ging an den Polizisten vorbei und verließ den Tatort. Am Rand des Museumskomplexes blieb sie für einen Moment stehen und blickte zum schieferfarbenen Himmel, der die Stunde vor Tagesanbruch verkündete.

Mit der Absicht, Daniel anzurufen, griff sie in ihrer Tasche nach ihrem Handy. Als sie nach unten blickte, bemerkte sie etwas Sonderbares. Ein kleiner, an einem schwarzen Lederband befestigter Gegenstand lag halb im Schlamm vergraben. Sie sah hinter sich zu den Wachen; sie rauchten und lachten noch immer.

Sie hockte sich hin, um den Gegenstand genauer zu betrachten. Mit der Hand schob sie die nasse Erde beiseite und ein Anhänger aus Marmor kam zum Vorschein, oder vielleicht ein Amulett. Der untere Rand war gezackt und scharfkantig, als fehlte ein Teil, und das Lederband war sauber durchgerissen. Sie hob den Gegenstand auf. Ein kurzer Blick auf Äderung und Kolorierung stellte den Stein in einen antiken Kontext, aber im Zwielicht konnte sie nicht sicher sein.

Sarah drehte ihn um. Ihre Kiefermuskeln verkrampften sich, als sie eine Inschrift auf der Rückseite entdeckte. Sie rieb den Schlamm fort und offenbarte ein Symbol, das sie nicht kannte. Auf dem Marmor befand sich eine Reihe aus vier in gleichmäßigen Abständen eingravierten Punkten.

Kapitel 3


Daniel Madigan stand am Rand der Rollbahn des Privatflugplatzes des internationalen Athener Flughafens. Sein Blick war auf die sich brechenden Lichter der Tragflächen gerichtet, während das Flugzeug auf ihn zurollte. Das schrille Heulen des Motors schmerzte seine Ohren und trug zu seinem Unbehagen bei.

Der Einweiser kreuzte ein Paar fluoreszierende, gelbe Lichtstäbe über seinem Kopf, um dem Flugzeug das Signal zum Anhalten zu geben. Die fünf Minuten, bis sich die Tür der Maschine öffnete, schienen wie Stunden. Um seine Erschöpfung zu vertreiben, rieb sich Daniel die Augen. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann er das letzte Mal durchgeschlafen hatte.

Der Mann, den er erwartete, tauchte am oberen Ende der Metalltreppe auf und schlug den Kragen seines Trenchcoats hoch. Er stieg die Stufen mit beschwingten Schritten hinunter, die seine korpulente Statur Lügen straften.

Daniel ging auf ihn zu, um ihm auf halben Weg zu begegnen. Er hatte genaue Anweisungen erhalten: Das Treffen musste auf der Rollbahn stattfinden, wo niemand mithören konnte.

«Madigan.» James Langham, der Vorsitzende der A.E.-Thurlow-Stiftung, streckte eine aufgedunsene, kurzfingerige Hand aus. «Danke, dass Sie mich so kurzfristig treffen.»

«Nicht der Rede wert, James.» Daniel überspitzte seinen Tennessee-Akzent, wie er es oft tat, wenn er mit hochrangigen Briten sprach. Er verzichtete auch auf Höflichkeitsformen, in diesem Fall Sir, weil er die Heuchelei nicht leiden konnte.

«Ich vertraue darauf, dass niemand weiß, dass Sie hier sind.»

«Niemand. Genau wie Sie wollten.»

«Nicht einmal …»

Daniel unterbrach ihn, bevor er Westons Tochter sagen konnte. Ihren Namen zu hören verstärkte nur seine Schuldgefühle darüber, Geheimnisse vor ihr zu haben. «Hören Sie, ich weiß, wie es läuft.» Er verschränkte die Arme. «Kommen wir einfach zur Sache, ja?»

Langham schob die Hände in seine Taschen und atmete einen Nebelhauch aus. «Es gab eine Komplikation. Sie müssen mehr tun als ursprünglich vereinbart.»

«Zum Beispiel?»

«Es sieht so aus, als sei der Messingobelisk wertvoller, als wir angenommen hatten. Er scheint ein Schlüssel zu etwas zu sein.»

Langham bezog sich auf einen Gegenstand mysteriösen Ursprungs, der ein Jahr zuvor am Grund eines Flusses in Mittelgriechenland gefunden und der Ephorie in Theben übergeben worden war. Ein Sammler, dessen Identität wohlgehütet war, hatte den Griechen eine große Summe im Austausch für das Artefakt geboten, aber die Stiftungsväter nutzten ihren politischen Einfluss, um die Transaktion zu verhindern. Seitdem wurde der Gegenstand im Museum ausgestellt.

Dafür gab es Gründe, und über diese war Daniel in Kenntnis gesetzt worden. Aber als Teil der Vereinbarung, die er getroffen hatte, musste er Stillschweigen bewahren. Jetzt, nach zwei Monaten im Einsatz, schien es ihm, als hätte er einen Fehler gemacht. «Ein Schlüssel. Woher wissen Sie das?»

«Sie sollten nicht so dumm sein, einen hochrangigen Beamten der britischen Regierung so etwas zu fragen. Gehen Sie einfach davon aus, dass unsere Information stimmt. Wir wissen zwei Dinge.» Er zählte sie an seinen feisten Fingern auf. «Erstens, der Sammler, der den Obelisken kaufen wollte, ist der Mann, nach dem wir gesucht haben, und zweitens, er will ihn verzweifelt in die Hände bekommen – oder vielmehr das, wozu er führt. Um ihn dingfest zu machen, müssen wir ein bisschen Katz und Maus spielen.» Er nickte Daniel zu. «Da kommen Sie ins Spiel.»

Daniel spürte das Beißen eines eisigen Windstoßes auf den Lippen. «Das war so nicht vereinbart. Beschaffen Sie die Information und verschwinden Sie. Erinnern Sie sich?»

«Es scheint, Sie sind derjenige, der sich nicht erinnert.» Langhams Stimme nahm einen scharfen Ton an. «Muss ich Ihnen ins Gedächtnis rufen, was wir vor ein paar Monaten für Sie getan haben?»

Daniel hasste es, in die Enge getrieben zu werden. Aber er hatte keine Wahl. Er hatte sein Wort gegeben. «Das wird nicht nötig sein. Ich werde meine Schuld gegenüber der britischen Regierung begleichen, wie ich es zugesichert habe.»

«Schön. Jetzt passen Sie gut auf. Die Sache spitzt sich zu. Es gab einen Einbruch im Museum.» Langham sah auf seine Uhr. «Etwa vor einer Stunde. Jemand hat versucht, den Obelisken zu stehlen.»

Daniel runzelte die Stirn, als er an Sarah dachte. «Wurde jemand verletzt?»

«Das Ganze lief ein wenig aus dem Ruder. Anscheinend hat sich der Wachmann unvernünftigerweise zur Wehr gesetzt. Er hat das Archiv verteidigt, als wäre es sein eigenes. Warum auch immer.» Langham schüttelte den Kopf. «Einfältiger Narr. Es hat ihn das Leben gekostet.»

Daniel atmete aus. Sein Atem schwebte in der kühlen Luft und löste sich in Zeitlupe auf.

Langham fuhr fort. «Es gibt eine gute und eine schlechte Nachricht. Die gute lautet: Der Obelisk war nicht in seinem Schaukasten. Wie es scheint, hat Rigas ihn nur Stunden zuvor in den Tresorraum gebracht.»

«Was? Wie konnte er das gewusst haben?»

«Er sagt, das hätte er nicht. Er behauptet, ihn zwecks weiterer Untersuchungen bewegt zu haben. Aber meiner Meinung nach stinkt die Geschichte zum Himmel.»

«Wie lautet die schlechte Nachricht?»

«Die Papiere, in denen der Obelisk katalogisiert ist, sind verschwunden. Sie besitzen jetzt alle bekannten Informationen über den Gegenstand, inklusive des unerfreulichen Details über seine Verwahrung im Tresor.» Er schnaubte. «Sie werden wiederkommen.»

«Lassen Sie mich raten. Sie haben einen Plan.»

Langham lächelte schief. «Allerdings. Aber wir müssen schnell handeln. Sie müssen Folgendes für mich tun …»

Kapitel 4


Am Morgen nach dem Raub waren die Steine auf dem Ismenion-Berg besonders still. Unter einem wetterwendischen Himmel arbeitete Sarah alleine an der Ausgrabung eines mykenischen Grabs aus dem zweiten Jahrhundert vor Christus.

Auf der Suche nach Aufmunterung bei der anspruchsvollen Arbeit entfernte sie den Schmutz vom Rand eines Grabgefäßes. Sie konnte sich nicht konzentrieren. In ihrem Kopf spielte sie die frühmorgendlichen Ereignisse noch einmal durch und versuchte, eine Erklärung zu finden.

Es war nicht der Einbruch selbst, der sie stutzig machte. Im krisengeplagten Griechenland waren Museumsdiebstähle und Plünderungen historischer Ausgrabungsstellen weitverbreitet. Es war immer dieselbe Leier: Die Diebe stahlen lediglich einige wenige Gegenstände, und selten die reizvollsten. Statt eines großen, identifizierbaren Bestandes drängten sie konsequent kleine Mengen gestohlener Antiquitäten auf einen gewaltigen Schwarzmarkt, wo sie sich wie Tropfen in einem Eimer voll Wasser verloren. Es war wie das stückweise Öffnen einer Wunde. Der Schmerz war nicht stark genug, als dass die Menschen sich darum kümmerten, und niemand bemerkte den Gesamtschaden.

Doch dies war anders. Die Plünderer waren hinter Informationen her, nicht hinter Artefakten. Obwohl die örtliche Polizei den Vorfall wie einen gescheiterten Diebstahl behandelte, sagte Sarahs Instinkt ihr, dass unter der Oberfläche etwas Größeres vor sich ging.

Sie griff in die kleine Tasche, die in die Naht ihrer Hose eingelassen war, und zog das Marmoramulett mit den vier Punkten heraus. Mit dem Finger strich sie über die gezackte Kante. Die scharfe Oberfläche deutete darauf hin, dass der Anhänger erst vor Kurzem zerbrochen war, möglicherweise während des Handgemenges. Früher an diesem Morgen, nachdem die Ermittler gegangen waren, war Sarah heimlich zum Tatort zurückgekehrt und hatte ihn nach einem weiteren Teil des Amuletts durchkämmt, aber nichts gefunden. Entweder war es verschwunden oder es war überhaupt nie dort gewesen. Sie schloss die Faust um den Anhänger. Hinter diesem Gegenstand steckte mehr.

Sarahs Gedanken wanderten zu Daniel. Seine Reise nach Athen mitten in der Nacht war ein weiteres, unerklärliches Verhalten in einer ganzen Reihe davon. In der kurzen Zeit, die sie in Theben verbracht hatten, war er still und gelegentlich distanziert gewesen. Seine gelassene Art und sein unverwechselbarer Esprit hatten sich praktisch in Luft aufgelöst.

Ihr Blick wanderte umher, während sie sich an einen Anruf erinnerte, den Daniel am Nachmittag zuvor erhalten hatte. Er hatte auf sein Telefon hinabgesehen und die Stirn gerunzelt. Zum Antworten hatte er sich abgewandt und nur gesagt: «Ich rufe zurück.» Einen Augenblick später entschuldigte er sich aus dem Labor und ließ Sarah und Evan mitten im Gespräch stehen. Als er fünf Minuten später zurückkam, wirkte er aufgewühlt.

«Stimmt was nicht?», hatte Sarah gefragt.

«Alles in Ordnung. Nur ein Anruf von der Stiftung. Lass uns weiterarbeiten.»

Jetzt fragte sich Sarah, ob das der Anruf gewesen war, der ihn nach Athen zitiert hatte. Aber warum die Heimlichtuerei? Sie wollte ihm den Vertrauensbonus gewähren, ihn nicht beschuldigen, Teile der Wahrheit zu verschweigen, aber die Erinnerung verspottete sie mit dem Gedanken an eine Entwicklung, die sie angestrengt zu ignorieren versucht hatte.

Sie legte den Pinsel beiseite und lehnte sich gegen die freigelegte Felssohle. Sie zog das Bandana von ihrem Kopf, sodass ihr die Haare über den Rücken hinab fielen, und wischte sich den Schmutz vom Gesicht. Im bleiernen Licht des bewölkten Morgens zeigten die Mittelmeer-Zypressen – schmale, aus der felsigen Erde sprossende Säulen – nichts von ihrer üblichen Erhabenheit. Die Olivenbäume mit ihren knorrigen, alten Stämmen und silbergrünen Blättern wirkten wie Bewohner eines versteinerten Waldes.

Jenseits des Hügels tauchten winzige graue Punkte wie Pinselstriche in einer pointillistischen Landschaft auf. Im Tal erstreckte sich die Stadt Theben, eine willkürliche Ansammlung winziger rotgedeckter Häuser und monolithischer weißer Gebäude, zwischen denen sich einzelne Flecken von Grün zeigten. Es fiel schwer, die unscheinbare moderne Stadt mit dem thebanischen Machtzentrum der Antike in Einklang zu bringen. In diesem Tal und der Zitadelle, die sich darüber erhob, waren die Todfeinde des antiken Thebens, die Athener, dem Erdboden gleichgemacht und die schicksalhafte Allianz mit Xerxes' Persern geschmiedet worden. Und hier hatte die Hybris zum Niedergang geführt, als die heilige Schar Thebens den mit Langspeeren bewaffneten Armeen Alexanders des Großen haushoch unterlag.

Sarah hatte immer Trost darin gefunden, auf den Spuren von antiken Weisen und Narren, Kriegern und Poeten, großen Anführern und niederträchtigen Verrätern zu wandeln: Den Männern, welche mit ihrem Blut oder ihrer Zunge die westliche Zivilisation geformt hatten. Doch in diesem Moment entzog sich ihr ein solcher Trost, wie Wasser durch ein Sieb rinnt.

Aus dem Zwielicht erschien eine gebeugte Gestalt. Sarah dachte, es sei Daniel und stand auf. Sie verspürte einen Anflug von Enttäuschung, als sie erkannte, dass Evan auf sie zukam. Die Hände hatte er in seine Taschen geschoben und sein Kopf war geneigt, als würde er sich vor einer stürmischen Bö schützen.

Sie steckte das Amulett in ihre Tasche zurück und kam ihm auf halbem Weg entgegen. «Gibt es etwas Neues?»

Evans angespannte Züge passten zu seiner schützenden Haltung. «Nicht viel. Da nichts gestohlen wurde, schließen sie diesen Teil des Falls ab. Den Mord untersuchen sie weiter, aber das könnte Jahre dauern. Die Polizei hier ist ein Witz.»

«Wie können Sie sicher sein, dass nichts aus den Archiven gestohlen wurde?»

Er zuckte mit den Schultern. «Selbst wenn, kümmert das die Polizei nicht. Antiquitäten fehlen keine; das ist das Wichtigste.»

«Die sind vielleicht nicht beunruhigt, aber wir sollten es sein. Sie haben doch sicher Inventur gemacht. Sie sollten wissen, ob Akten fehlen.»

Mit offensichtlichem Unbehagen wandte er den Blick ab.

«Evan.» Sie wartete, bis er sie wieder ansah. «Ich kann Ihnen nicht helfen, wenn ich es nicht weiß.»

Er zögerte. Etwas an der Art wie er ihr Gesicht studierte, sagte ihr, dass er sich seine Antwort zurechtlegte. «Na schön. Sie haben die Verzeichnisse über die derzeitig gelagerten Artefakte mitgenommen.»

«Glauben Sie, die sind hinter einem Objekt aus dem Tresor her?»

«Das bezweifle ich. Wahrscheinlich klopfen Sie nur auf den Busch, um zu sehen, was wir haben. Diese Kleinkriminellen tun das ständig.»

Sarah starrte Evan an. War er wirklich so naiv – oder spielte er ihr das nur vor? «Ist der Messingpfahl im Tresor?»

«Ja. Der und hundert andere Gegenstände, die wir untersuchen.»

«Kann ich einen Blick darauf werfen?»

Evan zuckte mit den Schultern. «Wie Sie wollen. Ich werde etwa in einer Stunde im Labor sein. Dann können Sie vorbeikommen.» Er spähte zum Himmel. Dunkle Wolken drängten sich am westlichen Horizont. «Sieht ohnehin nach Regen aus.»

Sarah nickte. «Ich werde da sein.»

Er ging weg, blieb dann aber stehen und drehte sich wieder zu ihr um. «Wegen Daniel … er verhält sich merkwürdig, oder?»

«Was meinen Sie?»

«Neulich habe ich zufällig mitangehört, wie er am Telefon mit jemandem darüber sprach, in den Mittleren Osten zurückzukehren.» Er zuckte mit den Schultern. «Na ja, Sie wissen wahrscheinlich davon.»

Sie verspürte ein vertrautes, brennendes Gefühl im Bauch. Ängste, die sie vergraben geglaubt hatte, kämpften sich an die Oberfläche zurück.

Eine kühle Brise, Vorbote des Sturms, pfiff durch die Olivenbaumblätter. Evan schlug seinen Kragen nach oben, schob seine Hände zurück in die Manteltaschen und verschwand im aufziehenden Nebel.

 

Die grünen LED-Ziffern des Weckers zeigten 02:20 Uhr. Sarah rollte sich auf den Rücken und starrte auf den abbröckelnden Putz an der Decke. Wie Najaden durch die Bäche der Antike schwammen, zogen Gedanken durch ihren Geist und hielten sie wach.

Den Nachmittag hatte sie im Labor damit verbracht, den Messingpfahl und andere im Tresorraum gelagerte Artefakte zu untersuchen. Von Evan hatte sie Informationen über alle Gegenstände gefordert, aber er konnte nur das ursprüngliche Protokoll vorlegen. Sämtliche anderen Unterlagen waren aus dem Archiv gestohlen worden.

Dem Protokoll nach war der obeliskförmige Pfahl ein Zufallsfund aus dem Quellgebiet des Flusses Herkyna in der Nähe der Stadt Livadia. Er war der Ephorie etwa vor einem Jahr übergeben worden und wurde noch immer untersucht.

Aber es gab noch einen anderen interessanten Gegenstand. Ein anthropomorphes Rhyton in der Form eines Wolfskopfes. Wie über den Obelisken, so besaßen sie auch über das zeremonielle Trinkgefäß, das nach dem späten fünften oder frühen vierten Jahrhundert vor Christus aussah, nur wenige Informationen. Anscheinend war es während des Baus einer Kirche in Chaironea, einer Siedlung außerhalb von Livadia, ausgegraben worden. Man hatte es zerbrochen vorgefunden, und es war teilweise rekonstruiert worden.

Eine Verbindung zwischen den beiden Gegenständen schien nicht wahrscheinlich, aber beide unterschieden sich erheblich von allem anderen, was im Museum oder im Lager ausgestellt war. Und sie waren sehr nah beieinander gefunden worden. Dieser Grund war so gut wie jeder andere, um dort mit ihren Nachforschungen zu beginnen.

Sarah zwang sich, nicht weiter darüber nachzudenken – zumindest für den Moment. Sie brauchte Schlaf. Sie stand aus dem Bett auf und ging durch den dunklen Raum, um sich eine Tasse Kamillentee aufzubrühen. Während der Wasserkessel heiß wurde, starrte sie aus dem Fenster. Das weiche, blaugraue Licht des zunehmenden Halbmonds konturierte das Kronendach des Wäldchens wie mit einem Heiligenschein. Eine starke Brise rüttelte an den Blättern eines Kastanienbaums vor ihrem Fenster. Dann war alles wieder still.

Der Kessel pfiff. Während sie heißes Wasser über eine Handvoll getrockneter Kamillenblüten goss, bemerkte sie einen Lichtblitz am Rand ihres Blickfelds. Sie stellte sich an die Fensterkante und betrachtete die verdunkelte Landschaft. Wieder sah sie es: Ein winziger Strahl weißen Lichts, der hin und her huschte, als ob jemand nach etwas suchte. Bald darauf verschwand er wieder.

Wer immer dort war, wollte nicht gesehen werden.

Sie beobachtete, wie das Licht stoßweise an und aus ging, während es ostwärts über den Hang wanderte. Als sie realisierte, wohin es steuerte, hielt sie den Atem an.

Sie warf sich den Mantel über und schlüpfte zur Tür hinaus. Barfuß schlich sie durch das Dickicht aus Oliven- und Kastanienbäumen und hielt sich hinter deren uralten Stämmen versteckt.

Das Labor war hundertachtzig Meter von der Wohnanlage der Mitarbeiter entfernt, ein einsames Gebäude inmitten eines Wäldchens. Es war mit einem Zahlenschloss und einer Alarmanlage gesichert, aber es war unbewacht. Angesichts der Vorkommnisse letzte Nacht hatte Sarah guten Grund zur Annahme, dass dieser kleine Ausflug vor Anbruch der Dämmerung keine Dienstsache war.

Außer ihrem eigenen an- und abschwellenden Atem hörte Sarah nichts, während sie sich dem Gebäude von Süden her näherte. Das Licht wurde größer und heller, eine profane Erscheinung in der Totenstille der Nacht. Die Eindringlinge waren fast angekommen.

Ihr Fuß sank in den kalten Schlamm des noch immer feuchten Bodens. Sie wollte schneller gehen, aber die freiliegenden Wurzeln, die sich wie knorrige Finger von den Bäumen erstreckten, forderten ihre gesamte Aufmerksamkeit. Ein Fehltritt könnte sie verlangsamen und, schlimmer, ihre Position verraten.

Das Licht zeigte auf das Wäldchen. Mit hämmerndem Herzen duckte sich Sarah in einen Hohlraum im Stamm eines riesigen Olivenbaums. Sie war nah genug, um die Stimmen von zwei Männern hören zu können, die griechisch mit dem lokalen böotischen Akzent sprachen. Sie machten sich nicht die Mühe, leise zu sein; entweder waren sie übermäßig selbstsicher oder tollkühn.

«Hier ist es. Hier wird er aufbewahrt.»

«Bist du sicher, dass du weißt, wie man rein kommt?»

«Ja, du Idiot. Ich hab den Code. Mach mal Platz.»

Ein Schauder lief Sarah über den Rücken. Sie tastete in ihren Manteltaschen nach irgendetwas, mit dem sie eine Ablenkung erzeugen könnte.

Zettel … Kleingeld … ihr Zimmerschlüssel … ihr Handy. Sie könnte das Telefon benutzen, um die Polizei zu rufen, aber bevor irgendjemand ankäme, wären die Kerle längst verschwunden, möglicherweise mit einem archäologischen Schatz unter dem Arm.

Sie stand langsam auf und spähte am Baumstamm vorbei. Zehn Meter entfernt waren die beiden Männer über das Tastenfeld gebeugt und tippten die Folge aus sechs Zahlen hinein. Beide trugen dunkle Jacken und Skimützen. Einer war klein und stämmig. Sie konnte weder ihre Gesichter sehen noch weitere Details ausmachen.

Ich hab den Code. In wenigen Sekunden würden sie in das Gebäude eindringen. Selbst wenn es bedeutete, ihre eigene Sicherheit aufs Spiel zu setzen, konnte sie nicht die Hände in den Schoß legen, wenn das geschah.

Als sie sicher war, dass sie nicht hersahen, löste sie sich vom Baum und rannte zur Gebäudeseite. Sie presste sich gegen den Verputz und lauschte.

«Was zum Teufel?» Frustration schärfte die Stimme.

«Was ist los?»

«Es funktioniert nicht.»

«Du machst was falsch. Versuch's noch mal.»

Sarah konnte das Klicken hören, während die Finger des Eindringlings den Code eingaben. Sie biss sich auf die Unterlippe. Sollte sie es tun?

Der Mann stieß eine Reihe Schimpfwörter aus und trat dann gegen die Tür.

«Lass mich mal versuchen. Wie lautet der Code?»

«Vergiss es, Fettsack. Er hat ihn mir anvertraut, nicht dir.»

«Tja, ich werd dir aber nicht beim Versagen zusehen. Ich will meine Belohnung. Verstanden?»

«Halts Maul!» Die Stimme hallte durch den Wald. Als ob er seinen Wutausbruch bereute, reduzierte er sie auf ein Flüstern: «Ich versuch's noch mal.»

Sarah erkannte ihr Gezanke als eine Gelegenheit. Während sie sich auf Zehenspitzen zur Vorderseite des Gebäudes bewegte und sich innerlich darauf vorbereitete, die Täter zu konfrontierten, schlug ihr Herz so wild gegen die Rippen, wie sich ein wildes Tier gegen die Gitterstäbe seines Gefängnisses warf.

«Warte», sagte der Anführer. «Ich glaub, ich hab's.»

Sie spürte den Arm eines Mannes um ihren Brustkorb und eine Hand auf ihrem Mund, bevor sie die Chance hatte, auch nur zu keuchen. Eine Stimme flüsterte ihr ins Ohr: «Nicht bewegen.»

Kapitel 5


Delphi, 391 n. Chr.

 

Sonnenlicht schien zwischen den Mandelblütenbüscheln hindurch und verlieh ihnen eine transparente Rosafärbung, welche an die gesäumten Wolken in der Morgendämmerung erinnerte. Der Kuss der Sonne befreite den Duft der Blüten. Er war süß wie das Versprechen eines Geliebten, eine Beteuerung, dass der Winterfrost dem Frühling gewichen war, und dass bald neues Leben aus der jungen Erde sprießen würde.

Für Aristea bedeutete die Ankunft des Frühlings mehr als das. Sie markierte die Rückkehr Apollons aus dem Land der Hyperboreer, wohin sich der Sonnengott mit dem ersten Winteratem zurückzog. Apollons Ankunft in Delphi hieß, dass sein Orakel bald in den Dienst gerufen würde.

In den sechzehn Jahren, seit sie auserwählt worden war, das Wort des Gottes an seiner heiligsten Kultstätte auszusprechen, hatte Aristea diesen Moment immer mit einem gewissen Maß an freudiger Erregung betrachtet. Er verkündete die Ankunft einer neuen Schar von Supplikanten, die wie ihre Väter vor ihnen nach Delphi reisen würden, um ihr Schicksal vom Orakel verkündet zu hören. Diese Verantwortung nahm sie nicht leicht, denn die Prophezeiungen, die sie aussprach, konnten das Leben eines Mannes verändern.

Oder tatsächlich die Geschichte selbst.

Aristea ging zur Kastalischen Quelle und kniete sich an ihren Rand. Als sie ins glasklare Wasser sah, blickte ihr Abbild ihr mit leuchtend braunen Augen entgegen. Sie hob eine Hand an die Wange. Aristea hatte dieselbe olivfarbene Haut wie ihre Vorfahren. Das hatte man ihr zumindest erzählt. Sie stammte aus einer langen Linie von Priesterinnen, die auf Themistokleia zurückging, Lehrerin des weisen Mathematikers Pythagoras.

Wie sie hatte Aristea unzähligen Seelen den Weg gewiesen und das Unvermeidliche vorhergesagt. Ihre Prophezeiungen waren immer genau und wahr, wie es der Natur des Gottes entsprach, der in ihr Ohr flüsterte. Die Wahrheit jedoch war eine Zauberin, die unterschiedliche Formen für unterschiedliche Betrachter annahm. Da Menschen waren, was sie waren, deuteten sie die Worte des Orakels so, wie sie ihnen gerade zusagten, manchmal mit verheerenden Folgen.

Aristea zog eine Hand durchs Wasser und verwischte ihr Spiegelbild.

Es war im vorletzten Sommer geschehen. Ein Gesandter aus Alexandrien hatte die zweimonatige Reise nach Delphi angetreten, zu Wasser und zu Land, um den Rat des Orakels zu suchen.

In der Nacht, in der er für würdig befunden wurde, Apollons Wort zu empfangen, stieg der Ägypter hinter zwei delphischen Priestern zum Adyton hinab und wurde angewiesen, hinter der falschen Wand zu stehen.

Aristea saß auf dem Dreifuß der Wahrheit und starrte in eine Schüssel, die mit heiligem Wasser aus der Quelle der Kassotis gefüllt war. Am Rand ihres Blickfelds konnte sie den Supplikanten durch ein quadratisches Fenster sehen, das in die Wand eingelassen war. Seine Hände hatte er vor sich verschränkt und sein Kopf war zur Erde geneigt.

Sie atmete tief ein und roch die vertraute Süße, die an Nektar von Honigbienen erinnerte, die sich an Orangenblüten gütlich getan hatten. Apollons heiliges Pneuma hatte das Adyton durchdrungen. Sie schloss die Augen, gab sich seinem Geist hin.