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VERLAGSTEXT

«Seit einiger Zeit habe ich beschloßen, mein Leben mehr zu genießen und ich eße niemahls mehr zu Hause sondern allezeit bey Cardinälen und guten Freunden.»

Johann Joachim Winckelmann (1757 an Berendis)

Winckelmanns Aufstieg vom Schustersohn zum international gefeierten Archäologen war Mitte des 18. Jahrhunderts ohne Beispiel. Goethe, Schiller und Herder fanden in seinen Schriften maßgebliche Impulse für eine philosophische und ästhetische Rückbesinnung auf die griechische Antike. Auch breite Teile des Bürgertums konnten sich für den Mann und seine Forschungen begeistern. Winckelmann war, was seit Martin Luther kaum ein deutscher Intellektueller von sich hatte behaupten können: populär. Die Verehrung seiner Anhängerschaft ging so weit, dass seine recht offen gelebte Homosexualität nicht nur in Kauf genommen, sondern als unverzichtbarer Teil seiner Persönlichkeit angesehen wurde. Winckelmann starb vor Vollendung seines 51. Lebensjahres. Er war kein erfolgreicher Feldherr, kein Fürst und kein Künstler – er war ein Star.

Dieser Band enthält drei Briefe Winckelmanns aus Rom, seine Abhandlung über den Schönheitsbegriff der Griechen und die Beschreibung des Apollo im Belvedere.

Außerdem Alexander von Ungern-Sternberg über den jungen Winckelmann, Gerhart Hauptmann und Giacomo Casanova über Winckelmann in Rom, Viktor Meyer-Eckhardts Erzählung «Die Gemme», Herders Nachruf, Goethes «Skizzen zu Winckelmann», Walter Pater über kunsthistorische Perspektiven.

WINCKELMANN: BIOGRAFISCHE DATEN

9.12.1717: in Stendal geboren

1738-43: Student und Hauslehrer

1743-48: Konrektor in Seehausen

1748-54: Bibliothekar auf Schloss Nöthnitz

1754-55: bei Oeser in Dresden

1755: «Gedanken über Nachahmung der griechischen Werke …»

1755: Aufbruch nach Rom

1757: Bibliothekar bei Kardinal Archinto

1758: Beginn der Patronage durch Kardinal Albani

1758-59: bei Stosch in Florenz

1763: «Abhandlung von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen in der Kunst ...»

1763: Präsident der römischen Altertümer

1764: «Geschichte der Kunst des Alterthums»

1768: Reise nach Deutschland

8.6.1768: Ermordung in Triest

DAS WUNDER WINCKELMANN

EIN POPSTAR IM 18. JAHRHUNDERT

Ein Lesebuch

Herausgegeben von Joachim Bartholomae

Männerschwarm Verlag

Hamburg 2016

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet die Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.ddb.de abrufbar.

Das Wunder Winckelmann. Ein Popstar im 18. Jahrhundert Ein Lesebuch

Herausgegeben von Joachim Bartholomae

© Männerschwarm Verlag, Hamburg 2016

Umschlaggestaltung: Carsten Kudlik, Bremen, unter Verwendung des Gemäldes von Anton Maron (1768)

Druck: Interpress, Ungarn

1. Auflage 2016

ISBN Printausgabe: 978-3-86300-220-6

ISBN Ebook: 978-3-86300-229-9

Männerschwarm Verlag

Frankenstraße 29 – 20097 Hamburg

www.maennerschwarm.de

Inhalt

Verlagstext

Winckelmann: Biografische Daten

Johann Joachim Winckelmann – Ein Popstar im 18. Jahrhundert

Joachim Bartholomae

«Ich kann etwas keck tun …»

In seinen Briefen an Berendis beschreibt Winckelmann seine Ankunft in Rom

«Die Stille ist derjenige Zustand, welcher der Schönheit der eigentlichste ist»

Winckelmann über den Schönheitsbegriff der Griechen

«Hier ist nichts Sterbliches»

Winckelmanns Beschreibung des Apollo im Belvedere

«Non arrivo»

Eine fragwürdige Anekdote Giacomo Casanovas

«Mit brennendem Durst und mattem Fuße»

Herders «Denkmal für Winkelmann»

«Im Vordergrund Goethe»

Walter Pater schlägt die Brücke von Winckelmann zur modernen Kunst

«Jeder hatte stets Winkelmann vor Augen»

Goethe erinnert sich in «Dichtung und Wahrheit» an die Winckelmann-Begeisterung unter Leipziger Studenten

«Lebendiges für Lebendige, ein Leben selbst»

Goethes Skizzen zu einer Schilderung Winckelmanns

«Also fort! Hinein ins Heidenthum!»

Alexander von Ungern-Sternbergs frivole Fantasie über die Geburt einer Idee

«Prickelnde, funkelnde, belebende Vergangenheit»

Gerhart Hauptmann über das letzte Jahr im Leben Winckelmanns

«Mein süßer Herr!»

«Die Gemme» – Viktor Meyer-Eckhardts Märchen vom Liebestod in Triest

Nachweise & Literatur

JOHANN JOACHIM WINCKELMANN – EIN POPSTAR IM 18. JAHRHUNDERT

Joachim Bartholomae

I

Johann Joachim Winckelmann (oder Winkelmann, man nahm das nicht so genau) wird am 9. Dezember 1717 in Stendal als Sohn eines Schusters geboren. Schon früh erkennt man seine Intelligenz, und verschiedene Gönner ermöglichen ihm eine höhere Schulbildung. Nach dem Besuch des Gymnasiums in Berlin und Salzwedel studiert Winckelmann einige Semester Theologie in Halle (1738-1740) und Medizin und Mathematik in Jena (1741-1742). Seine weitere Laufbahn gleicht der vieler Akademiker jener Zeit: Er arbeitet als Hauslehrer, ein Jahr in Osterburg und anderthalb Jahre in Hadmersleben, danach fünf Jahre als Konrektor der Lateinschule in Seehausen; 1748 bis 1756 lebt er als Bibliothekar des Privatgelehrten Graf Bünau auf Schloss Nöthnitz bei Dresden, wo er den Grafen bei der Abfassung einer «Kaiser- und Reichsgeschichte» unterstützt. Auf Schloss Nöthnitz lernt er den päpstlichen Nuntius und späteren Kardinal Archinto kennen, der ihn auffordert, als «Grieche» in Rom zu arbeiten. Die oft missverstandene Bezeichnung Winckelmanns als «deutscher Grieche» ist nicht etwa ein nationaler Ehrentitel, sondern bezieht sich einerseits auf dessen solide Kenntnis der griechischen Sprache und Literatur, und seine schöne griechische Handschrift andererseits – zwei zu jener Zeit in Deutschland wie in Rom eher selten anzutreffende Qualifikationen. Winckelmann lehnt zunächst ab, da ihm die Bezahlung zu gering erscheint, und zieht nach Dresden, wo er Zeichenunterricht nimmt und sowohl die kurfürstliche Antiquitätensammlung, als auch die dortige Künstlerschaft kennenlernt.

Ausdruck seines frühen Dresdner Wissensstands sind seine 1755 veröffentlichten «Gedanken über die Nachahmung der Griechischen Werke in der Malerey und Bildhauerkunst», die sofort nach Erscheinen vergriffen sind. Kaum sind die «Gedanken» erschienen, ärgern ihn diverse Lücken und Ungenauigkeiten der Gedankenführung, und er fasst den Entschluss, selbst eine anonyme Rezension seines Buchs zu schreiben, um diese Mängel zu benennen und zu beheben – das «Sendschreiben über die Gedanken Von der Nachahmung der griechischen Werke in der Malerey und Bildhauerkunst»; kurz darauf folgt – nun wieder unter seinem eigenen Namen, die «Erläuterung der Gedanken Von der Nachahmung der griechischen Werke in der Malerey und Bildhauerkunst; und Beantwortung des Sendschreibens über diese Gedanken». Diese Ungeduld ist typisch für ihn: Manuskripte werden bis zum letzten Moment korrigiert, bereits gedruckte Bücher vor dem Nachdruck überarbeitet. Und so schreibt Lessing 1766 in seiner Schrift «Laokoon oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie», die vielen Fehler in Winckelmanns Schriften seien reine Flüchtigkeitsfehler, die jedem unterlaufen könnten, deshalb verdienten sie keine ausführliche Kritik. Trotz seiner zwanzigjährigen «Fron» als Schulmeister und Bibliothekar ist Winckelmann kein Pedant geworden; sein Enthusiasmus, der von Anfang an den Stil seiner Schriften prägt, ist auf ein ganzheitliches Verständnis der griechischen Kunst gerichtet, das nicht allein durch Detailversessenheit, sondern in erster Linie durch eine umfassende Perspektive zu erlangen ist.

Die «Gedanken» verschaffen ihm eine erneute, nachdrücklichere Einladung Archintos nach Rom, und noch im selben Jahr macht er sich, mit Reisegeld und einer jährlichen Pension des sächsischen Kurfürsten ausgestattet, auf den Weg nach Italien. Die Atmosphäre der ersten Jahre in Rom beschreibt er sehr anschaulich in seinen Briefen an den Freund Berendis, von denen drei in diesem Band wiedergegeben werden. Die sächsische Pension ermöglicht es Winckelmann, die niederen Anstellungen, die ihm angeboten werden, zunächst auszuschlagen. Sein Verhältnis zu Kardinal Archinto, der inzwischen zu einem der mächtigsten Männer des Vatikans aufgestiegen ist, gestaltet sich schwierig; schließlich bietet Winckelmann an, kostenlos für ihn zu arbeiten, und akzeptiert lediglich die Unterbringung in einem Palast des Kardinals. Gleichzeitig lernt er den obersten Bibliothekar des Vatikans, Kardinal Passionei, kennen, der ihn einlädt, ihn jederzeit zu besuchen und bei ihm zu essen. Den Durchbruch bringt 1758 schließlich die Freundschaft zu Kardinal Albani, der Winckelmann bei sich aufnimmt und ihm einige mit wenig Arbeit verbundene Posten verschafft, die es ihm ermöglichen, frei von äußeren Zwängen seinen Forschungen nachzugehen. Sein erster freigewählter Arbeitsschwerpunkt ist die Erstellung eines Verzeichnisses der in Rom befindlichen griechischen Skulpturen, ein Projekt, das schließlich in seine «Geschichte der griechischen Kunst» einfließt.

Schon in Dresden war der gebürtige Protestant Winckelmann zum römisch-katholischen Glauben übergetreten. Als er 1757 die ihm von Archinto angebotene Stelle als Bibliothekar akzeptiert, entschließt er sich, die Kleidung eines Abbate, also eines Weltgeistlichen, anzulegen, das heißt Perücke, Beffchen und schwarzseidenen Gehrock. All seine Porträts zeigen ihn jedoch ohne Perücke und in legerer und farbenfroher Kleidung.

1763 ernennt der Papst Winckelmann zum Scrittore und Commissario delle Antichità della Camera Apostolica, was Winckelmann mit «Antiquar» und schließlich «Präsident der römischen Altertümer» übersetzt. Die Arbeit des Antiquars ist die eines Fremdenführers, in seinem Fall des päpstlichen Fremdenführers für Adelige aus allen Teilen Europas, die auf ihren Vergnügungsreisen Rom besuchten. Mitte des 18. Jhdts. ist auch ein berühmter Forscher, der nicht von Adel ist, eben in erster Linie Dienstbote. Die hohen Herrschaften suchen im freizügigen Rom oft vor allem das sinnliche Vergnügen, wie Winckelmann in mehreren Briefen beklagt; so nennt er den Herzog von Yorck «das größte fürstliche Vieh, welches ich kenne». Das Betreuen der hochwohlgeborenen Touristen hat jedoch auch sein Gutes: Zurück in der Heimat erzählen die Reisenden vom Herrn Winckelmann, der schnell zum international wohl bekanntesten bürgerlichen Deutschen avanciert. Auch seine Schriften über antike Kunst werden ins Französische, Italienische und Englische übersetzt.

Kurz nach Winckelmanns Eintreffen in Rom besetzt Friedrich II. Sachsen; der Siebenjährige Krieg beginnt, und Reisen in die Heimat scheinen nun wenig geraten. Erst Mitte der 1760er Jahre taucht in Winckelmanns Briefen öfters der Gedanke auf, nach Deutschland zu reisen und seine Freunde wiederzusehen. Er bespricht das Vorhaben einer Deutschlandreise mit dem befreundeten Bildhauer Cavaceppi, der Antiquitätenhandel im großen Stil betreibt. Cavaceppi wünscht sich, von Winckelmann an deutschen Höfen eingeführt zu werden, wo er eine immense Nachfrage nach antiker Kunst vermutet. Im Frühjahr 1768 brechen die beiden auf dem Landweg nach Deutschland auf. Die Reise erweist sich bald als Fiasko: je mehr sie sich Deutschland nähern, desto mehr verschlimmert sich Winckelmanns Laune, und als sie München erreichen, befürchtet Cavaceppi, sein Gefährte habe den Verstand verloren. Er bedrängt ihn, zumindest bis Wien weiterzureisen, wo beide vom Kanzler Kaunitz und Maria Theresia persönlich empfangen und beschenkt werden. In Wien erleidet Winckelmann einen völligen Zusammenbruch und muss im Hospital versorgt werden. Nicht einmal die Fürsprache des Kanzlers kann ihn zur Weiterreise bewegen: Er verlässt Cavaceppi und tritt die Rückreise an. Mit der Kutsche reist er nach Triest, um sich von dort nach Ancona einzuschiffen. In Triest wird er zwei Tage nach seiner Ankunft von einem vorbestraften Verbrecher namens Francesco Arcangeli ermordet, den er im Hotel kennengelernt hat und der ihn auf seinen Wegen durch die Stadt begleitet. Als man in Wien von seinem Tod erfährt, wird von höchster Stelle eine gründliche Untersuchung angeordnet. Arcangeli gesteht die Tat und gibt als Motiv an, er habe die kostbaren Münzen stehlen wollen, die Winckelmann mit sich führte. Er wird aufs Rad geflochten und hingerichtet. Doch die näheren Umstände bleiben rätselhaft: Wie kann es sich ein vorbestrafter arbeitsloser Koch leisten, im besten Hotel der Stadt zu wohnen, und wieso befreundet sich Winckelmann mit diesem mittelalten, unattraktiven Mann? Dass zwischen beiden eine sexuelle Beziehung bestanden haben könnte, gilt als unwahrscheinlich; Arcangeli hätte etwaige «unsittliche» Avancen im Prozess sicherlich zu seiner Entlastung angeführt.

Winckelmann stirbt vor Vollendung des 51. Lebensjahres; sein Weg vom Schustersohn zum international gefeierten Archäologen und päpstlichen Fremdenführer war Anfang des 18. Jahrhunderts ohne Beispiel. Winckelmann prägte das europäische Geistesleben weit über seinen Tod hinaus; Goethe, Schiller und Herder fanden in seinen Schriften maßgebliche Impulse für eine philosophische und ästhetische Rückbesinnung auf die griechische Antike, die sie dem abgelebten Christentum entgegenstellten. Und nicht nur Wissenschaftler, sondern breite Teile des Bürgertums konnten sich für den Mann und seine Forschungen begeistern. Winckelmann war, was seit Martin Luther kaum ein deutscher Intellektueller von sich hatte behaupten können: populär. Die Verehrung seiner Anhängerschaft ging so weit, dass seine recht offen gelebte Homosexualität nicht nur schweigend in Kauf genommen, sondern als unverzichtbarer Teil seiner Persönlichkeit bereitwillig akzeptiert wurde. Jahrzehnte, bevor Goethe mit «Werther» und «Wilhelm Meister» den Bildungsanspruch des Bürgertums formulierte, erschuf Winckelmann den Typus des selbstbestimmt handelnden und empfindenden Individuums und wurde zur Lichtgestalt einer sich erst recht zaghaft entfaltenden bürgerlichen Öffentlichkeit. Er war kein erfolgreicher Feldherr, kein Fürst und kein Künstler – er war ein Star.

II

In seinem Aufsatz «Das Problem der Renaissance» (1991) beschreibt der niederländische Kunsthistoriker Johan Huizinga das kulturelle Klima jener Epoche so:

«Schon die Zeit, welche die Bezeichnung Renaissance als Namen trägt, im besonderen die erste Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts, lebte in dem Gefühl, sie sei wiedergeboren in ihrer Bildung, zurückgekehrt zu den reinen Quellen des Wissens und der Schönheit, sie sei im Besitz der ewig gültigen Normen der Weisheit und der Kunst. Die eigentliche Äußerung des Wiedergeburtsgefühls galt jedoch beinah ausschließlich der literarischen Bildung, dem weiten Feld von Studium und Poesie, das hinter dem Ausdruck bonae litterae lag.» (S. 19)

Dem Erwerb dieser literarischen Bildung hatte Winckelmann all die trostlosen Jahre gewidmet, während denen er als Schulmeister und Bibliothekar arbeitete. Deshalb trifft er in Rom lauter «alte Bekannte»: Sein philologisches Wissen ermöglicht ihm nicht nur die Identifizierung der mythologischen Gestalten, die die antiken Statuen darstellen, sondern auch die Beschreibung ihrer konkreten emotionalen Verfassung, denn er weiß, was ihnen soeben widerfahren ist oder zu welcher Tat sie sich rüsten. Als Fremdenführer wie als Buchautor quillt er über vor Geschichten, die dem kalten Marmor Leben einflößen. Und anstatt zu entscheiden, welcher Dimension der Vorrang gebührt: der Person oder ihrer ästhetisch vollkommenen Darstellung, setzt er beides in eins: die antike Darstellung gelingt durch idealisierende Herausarbeitung der Eigenschaften des Dargestellten. Winckelmann sieht in diesem historischen Zusammentreffen von Schönheitssinn und Charakter das weltgeschichtliche Nonplusultra künstlerischer Entwicklung, das allzeit gültige Maßstäbe hervorgebracht habe. Damit gerät er in Widerspruch zum künstlerischen Schaffen seiner Zeit, das Huizinga so beschreibt:

«Was denkt man sich als die Ursache des großen Wiederauflebens? Nicht die Nachahmung der Griechen und Römer als solcher. Das Wiedergeburtsgefühl des sechzehnten Jahrhunderts ist zu allgemein und von zu stark ethischem und ästhetischem Gehalt, als dass die Geister selbst sich die Erscheinung als ein philologisches Problem hätten vorstellen können. Rückkehr zu den Ursprüngen, sich laben an den reinen Quellen von Weisheit und Schönheit, das ist der Grundton des Wiedergeburtsgefühls.» (ebd. S. 20)

Die Rückkehr zu den «Quellen» hat in den bildenden Künsten einen Realismus hervorgebracht, der mit der «edlen Einfalt» der Antike wenig gemein hatte: Die kunsthistorische Bezeichnung «Barock» hat ihre Wurzeln in mehreren romanischen Sprachen, und ob französisch «sonderbar», italienisch «schwülstig» oder portugiesisch «unregelmäßig» – sie ist nicht schmeichelhaft. Die neuen Versuche, nach der Natur zu arbeiten, haben für viele Betrachter etwas Befremdliches. Winckelmann geht deshalb einen Schritt weiter: Zwar soll die Kunst sich die Natur zum Vorbild nehmen, doch der Künstler soll seinen Blick auf die Natur durch das Studium der alten Griechen schulen. Indem sie vom Individuellen zum Idealen vordringen, öffnen die griechischen Künstler den Blick für die vollkommene Schönheit. So schreibt Winckelmann in seiner «Kunst des Altertums»:

«Die Natur aber und das Gebäude der schönsten Körper ist selten ohne Mängel, und hat Formen oder Theile, die sich in andern Körpern vollkommener finden oder denken lassen, und dieser Erfahrung gemäß verfuhren diese weise Künstler, wie ein geschickter Gärtner, welcher verschiedene Absenker von edlen Arten auf einen Stamm pfropfet; und wie eine Biene aus vielen Blumen sammlet, so blieben die Begriffe der Schönheit nicht auf das Individuelle einzelne Schöne eingeschränkt, wie es zuweilen die Begriffe der alten und neuern Dichter, und der mehresten heutigen Künstler sind, sondern sie suchten das Schöne aus vielen schönen Körpern zu vereinigen. Sie reinigten ihre Bilder von aller persönlichen Neigung, welche unsern Geist von dem wahren Schönen abziehet.» (s. u. S. 35)

Doch damit ist Winckelmann, wie bereits seine Zeitgenossen bemerkten, in eine Sackgasse geraten, die sich in absehbarer Zeit als Hemmnis jeder künstlerischen Entwicklung erweisen wird: Die Kunst wird sich niemals auf einen einzigen, idealen Gemütszustand, auf edle Einfalt und stille Größe, festlegen lassen. Man mag das begrüßen oder bedauern, aber man kann es nicht leugnen. Der englische Kunsthistoriker Walter Pater beschreibt dieses Problem so:

«Je länger wir dieses hellenistische Ideal betrachten, in dem der Mensch sich in Übereinstimmung mit sich selbst befindet, mit seiner physischen Natur und mit der äußeren Welt, umso mehr mögen wir ein Bedauern empfinden, dass er jemals darüber hinaus geschritten ist, um eine Perfektion anzustreben, die das Blut trübt, am Fleische nagt und die Welt um ihn herum verachtet. Doch um ihn vor dem Ennui zu bewahren, den die Verwirklichung unweigerlich nach sich zieht, selbst die Verwirklichung des perfekten Lebens, musste sich notwendigerweise ein Zwiespalt auftun und ein rauerer Ton die bestehende Harmonie stören, damit der Geist, daran wundgerieben, schließlich eine bedeutendere, tiefsinnigere Musik hervorbringt.» (s.u. S. 62)

Die Weimarer Klassiker haben große Teile ihres Werks der Aufgabe gewidmet, das von Winckelmann so euphorisch empfundene Ideal der griechischen Antike in die Moderne zu tragen. Doch nach seinem Tod fällt die Reaktion des «Fachpublikums» auf das Lebenswerk des Verstorbenen recht zurückhaltend aus: Der junge Herder schreibt 1777 einen Nachruf, der bei aller persönlichen Trauer vor Beckmesserei strotzt (s.u. S. 54), und Ende der 1780er Jahre unternimmt Karl Philipp Moritz nach einer Italienreise einen Frontalangriff auf Winckelmann. Seine Kritik gipfelt in der Behauptung, dessen Beschreibung des Apollo im Belvedere (s.u. S. 49) sei eine «Beleidigung des Kunstwerks». 1803 lenkt der Philologe Karl Morgenstern in einer akademischen Rede den Fokus des Winckelmann-Gedenkens auf dessen vorzügliche Menschlichkeit, und Goethe, als Student ein flammender Verehrer Winckelmanns, kommt als alter Mann zu der Einschätzung: «Man lernt nichts, wenn man ihn lieset, aber man wird etwas.» Das ist auch der Tenor seiner «Skizzen zu Winckelmann» (s.u. S. 72), die Goethe zusammen mit Winckelmanns Briefen an Berendis und zwei eher trockenen kunsthistorischen Abhandlungen der «Weimarer Kunstfreunde» Heinrich Meyer und Friedrich August Wolf in dem Sammelband «Winckelmann und sein Jahrhundert» veröffentlicht. Ihre Sprengkraft beziehen diese «Skizzen» aus der Glorifizierung des heidnischen Menschen, für den Winckelmann als leuchtendes Beispiel angeführt wird. Die Brüder Schlegel fallen deshalb über «den alten Fratz» Goethe her, der sich «öffentlich zum Heidenthum bekannt» habe (Friedrich Schlegel an seinen Bruder 15.7.1805), und der Naturwissenschaftler und Philosoph Franz von Baader nimmt sich in seinen «Bemerkungen über einige antireligiöse Philosopheme unserer Zeit» (1824) den Abschnitt «Heidnisches» in Goethes «Skizzen» systematisch vor: Er erstellt eine Liste der von Goethe positiv bewerteten Merkmale des Heidentums und schreibt in Klammern seine Kommentare dazu. Das liest sich dann so:

«[…] Verehrung der Götter als (längst verschiedener) Ahnherren

Bewunderung derselben gleichsam nur als Kunstwerke (die man beliebig, wie Töpfe, selbst machen und wieder zerschlagen kann)

Schicksal (als ob in ein Blindes, übermächtiges Schicksal ein freies Ergeben möglich wäre, und als ob die Ergebung an einen solchen übermächtigen und übermüthigen Tyrannen nicht den feigsten Sclavensinn ausspräche)

unverwüstliche Gesundheit gewahr werden. (Siehe dagegen Römer 1, 18-32) […]»

Die deutsche Romantik hat begonnen, dem Verstand wird die Seele, der Ratio das Irrationale gegenübergestellt, und die Religion gewinnt wieder an Boden. Weimar mit seinen «kalten Klassikern», wie Jean Paul die dortigen Kollegen enttäuscht bezeichnet, wird immer mehr zu einer kühlen Insel im großen Ozean des Gefühls. Goethe spottet im 3. Akt seines Faust II: «Lass der Sonne Glanz verschwinden,/ Wenn es in der Seele tagt:/ Wir im eignen Herzen finden,/ Was die ganze Welt versagt.» Gegen diese Mentalität verbarrikadierten sich die «Weimarer Kunstfreunde», und Winckelmann sollte noch einmal als Waffe herhalten. Einiges spricht dafür, dass Winckelmann 40 Jahre nach seinem gewaltsamen Tod durch Goethes «Skizzen» zu «Goethes Winckelmann» wurde, was ihm ein überaus robustes Nachleben sicherte.

III

Nur wenige Jahre nach seinem Tod, zwischen 1777 und 1780, erschien die zweibändige Ausgabe seiner «Briefe an seine Freunde» sowie die «Briefe an die Freunde in der Schweiz». (Nach Schillers Tod verstrichen 33 Jahre bis zur ersten Briefausgabe, nach Kleists Tod 37.) Das Interesse an der Person Winckelmanns war offenbar groß, und der Briefschreiber erfüllte die höchsten Erwartungen. Wer Winckelmanns hohe Empfänglichkeit für männliche Schönheit nicht bereits den theoretischen Schriften entnommen hatte, bekam nun einen deutlichen Eindruck davon, für welches Geschlecht er sich begeistern konnte: Zum Selfmademan Winckelmann und zum Heiden Winckelmann gesellte sich der männerliebende Winckelmann, und vor allem diese Facette seiner Persönlichkeit war es, die seinen Nachruhm prägen sollte.

In der gebildeten Oberschicht jener Zeit ist es kein Tabu, von Liebe unter Männern zu sprechen; die Gleichsetzung von Liebe mit sexueller Begierde, wie sie seit Mitte des 19. Jahrhunderts im Begriff der «Homosexualität» vorgenommen wurde, gilt im 18. Jahrhundert als abwegig. Dass Winckelmann für lange Zeit geradezu als ideale Verkörperung der Männerliebe gesehen wird, fügt seinem Ruf keinen Schaden zu. So schreibt von Rahmdohr in seiner mehrbändigen Liebeslehre «Venus Urania» (1798):

«Es ist schon oft gesagt, daß der verewigte Winckelmann bey seiner enthusiastischen Anhänglichkeit von zarten männlichen Schönheiten den Einfluß der körperlichen Geschlechtssympathie dunkel empfunden habe.» (Bd. II, S. 134).

«Dunkel empfunden» impliziert, er habe ihr nicht nachgegeben. Und Ramdohr weiß auch, warum: Der «unnennbare Trieb» schwieg, «weil seine Seele zu sehr mit dem Bilde seiner Schönheit beschäftigt war.» (ebd. S. 109) Der Sexualpraktiker Giacomo Casanova dagegen behandelt das heikle Thema in seinen Memoiren ganz pragmatisch: Winckelmanns sexuelle Annäherungen an junge Männer dienten nur dem Zweck, die Psychologie der Griechen besser zu verstehen (s.u. S. 53). Dass der «deutsche Grieche» für die «griechische Liebe» empfänglich war, erschien vielen Zeitgenossen ganz selbstverständlich.

Spätestens seit Friedrich Alfred Krupps Capri-Reisen wurde die Vorliebe für das schöne Italien als eine frühe Form von Sextourismus gedeutet. Wenn Winckelmann jedoch in seinen Briefen aus Rom das freie Leben preist, ist damit tatsächlich die Freiheit im Umgang mit hochgestellten Persönlichkeiten gemeint. Seine großen Liebesaffären erlebte Winckelmann schon als Student in Deutschland. Die erste Liebe ist sein Kommilitone Berendis in Halle. Als Winckelmann viele Jahre später die Bibliothekarsstelle auf Schloss Nöthnitz antritt, holt er Berendis als Hauslehrer des jungen Grafen nach, und noch von Rom aus fordert er ihn mehrmals auf, ihm ein weiteres Mal zu folgen. Sein zweiter Freund ist der 16jährige Peter Lamprecht, den Winckelmann als Hauslehrer auf das Studium vorbereitet. Als Winckelmann in Seehausen sein Schulamt antritt, folgt ihm Lamprecht, und die beiden leben bis 1746 gemeinsam in einer kleinen Wohnung mit nur einem Bett. Auch danach bleiben sie noch viele Jahre in Kontakt; Winckelmann besucht Lamprecht in der Garnison von Potsdam und verwendet sich für ihn bei der Suche nach einer Arbeitsstelle. Sein dritter deutscher Freund ist Arwed von Bülow, und auch von ihm, wie von Berendis und Lamprecht, wird er schon bald getrennt, und der Kontakt kann nur brieflich aufrechterhalten werden. 1747 bezeichnet er in Briefen zugleich Lamprecht, Bülow und einen dritten, Grenzmer, als seinen «einzigen Freund». Offensichtlich suchte Winckelmann nach einer festen, dauerhaften Bindung, konnte die erhoffte Nähe jedoch stets nur in kurzen Glücksmomente erreichen. In einem Brief vom 4. Juni 1748 erteilt er Bülow schriftlich die Erlaubnis, «un choix libre d’un beau jeune homme» zu treffen, mit anderen Worten, sich einen schönen jungen Mann zu suchen.

Direkt nach seiner Ankunft in Rom schreibt er an Berendis, «ich habe so gar jemand gefunden, mit dem ich von Liebe rede: ein junger schöner blonder Römer von 16 Jahren, einen halben Kopf größer als ich: aber ich kann ihn nur einmahl die Woche sprechen» (s. u. S. 23). Wie offen er seine Freude an schönen Männern in Rom tatsächlich zeigen kann, bleibt allerdings unklar, denn ein Jahr nach seinem ersten römischen Brief an Berendis berichtet er dem Freund: «Das einzige womit ich mir Schaden gethan habe, ist meine Aufrichtigkeit in Nachrichten von gewißen Dingen zu geben, und dieses hat mich um eine Gelegenheit gebracht, wodurch ich in der Welt erscheinen können.» (s.u. S. 30) Die Begeisterung der Römer für griechisch-antike Nuditäten wird offenbar durch eine neue Prüderie überlagert. Pikanterweise ist es jedoch nicht der Klerus, sondern die Maitresse des Kardinals Albani, die den Statuen Feigenblätter verordnet und Winckelmann nachspioniert.

Die große Liebe der römischen Jahre ist deshalb wiederum ein Nordeuropäer, der livländische Adelige Reinhold von Berg, dem Winckelmann 1763 begegnet. Als von Berg Rom verlässt, widmet ihm Winckelmann seine «Abhandlung von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen in der Kunst» als «Denkmaal unserer Freundschaft», und beginnt die Schrift mit den Worten: «Unser Umgang ist kurz, und zu kurz für Sie und für mich gewesen.» Walter Pater zitiert diese Schrift als Beleg für die Bedeutung, die dem Kontakt zu jungen Männern in der geistigen Entwicklung Winckelmanns zukommt (s.u. S. 58).

Es drängt sich der Vergleich Winckelmanns mit August von Platen auf. Platens Begeisterung für persische und altgriechische Dichtung kollidiert in den 1820er Jahren mit einer dezidiert deutsch-nationalen Literatur, in erster Linie vertreten vom jungen Heinrich Heine, der sich nicht scheut, den undeutschen Schönheitsfreund als warmen Bruder dem Gelächter preiszugeben – einem Gelächter, das zu Heines großem Verdruss jedoch ausbleibt. Winckelmann ruft eine fremde Kultur ins Gedächtnis, die – anders als der Orient Platens – moralisch über jeden Zweifel erhaben ist; deshalb muss seine erotische Vorliebe nicht für dümmliche Schmähungen herhalten, sondern wird als liebenswerte Eigenschaft akzeptiert. Goethe kommt deshalb nicht umhin, in seinen «Skizzen zu Winckelmann» diesen Aspekt seiner Persönlichkeit anzusprechen:

«Waren jedoch die Alten, so wie wir von ihnen rühmen, wahrhaft ganze Menschen, so mussten sie, indem sie sich selbst und die Welt behaglich empfanden, die Verbindungen menschlicher Wesen in ihrem ganzen Umfange kennen lernen […] Statt aller Empfindungen aber galt ihnen die Freundschaft unter Personen männlichen Geschlechtes […] Zu einer Freundschaft dieser Art fühlte Winckelmann sich geboren, derselben nicht allein sich fähig, sondern auch im höchsten Grade bedürftig.»

Das ist schön gesagt und setzt den großen Mann nicht herab. Doch um ganz sicher zu gehen, beschließt Goethe seinen biografischen Kommentar mit den Worten: «Er hat als Mann gelebt und ist als ein vollständiger Mann von hinnen gegangen.» (s.u. S. 76 und 96) Nun hat es auch der Dümmste verstanden: Goethe lässt sich seinen Winckelmann nicht kaputt machen!

Knapp einhundert Jahre nach Winckelmanns Tod eröffnet der Unterhaltungsschriftsteller Alexander von Ungern-Sternberg ein weiteres Kapitel seines Nachruhms: Der Verstorbene muss nun als literarische Figur herhalten. 1808, im Jahr, als auch Goethes «Skizzen zu Winckelmann» erschienen waren, hatte der Triestiner Jurist und Kunstliebhaber Domenico Rossetti anhand der Akten die Gerichtsverhandlung gegen Winckelmanns Mörder rekonstruiert, ein Buch, das 1861 schon wieder vergessen war. So konnte sich Ungern-Sternberg nur auf wenige verbürgte Daten stützen, die er mit Hilfe der Fantasie anreicherte. In der erstern Hälfte des 19. Jahrhunderts folgen fünf weitere Novellen und Romane, die Winckelmann ganz selbstverständlich ein erfülltes Sexualleben gönnen. So erfindet Gerhart Hauptmann, der in seinem Winckelmann-Fragment ansonsten geradezu journalistisch-forschend schreibt, einen römischen Straßenjungen als Hausdiener und schickt den Gelehrten überdies zu mitternächtlicher Stunde in finstere Spelunken, in denen Stricher lauern.

In der Fantasie der Schriftsteller steht fest, dass der grausigen Bluttat in Triest eine erotische Begegnung zugrunde lag, und dementsprechend muss der Mörder ein schöner Mann gewesen sein. Alexander von Ungern-Sternberg blieb noch recht zurückhaltend: Winckelmann «sah sich den fremden jungen Mann an und schien an seinem Äußern Wohlgefallen zu haben.» Beim «Wohlgefallen» lässt Viktor Meyer-Eckhardt es nicht bewenden: «Hatte er je ein Kunstbild gesehen schöner als dieses Geschöpf?» Ernst Penzoldt macht aus Arcangeli den jungen, braunen Hirten Arcangelo, «ahnungslos und so schön», und Richard Friedenthal denkt sich Arcangeli so: «Es war ein Kopf von höchster klassischer Schönheit, und irgendwie erinnerte er den fassungslosen Beschauer an die Züge einer geliebten Antoniusstatue.» Vor allem Meyer-Eckhardt und Penzoldt verwenden die Fakten nur als Szenario für ihre frei erfundenen Geschichten; so tötet Penzoldts «Arcangelo» aus Furcht vor der kalten, marmornen Schönheit der Statuen, die Winckelmann ihm gezeigt hat – ein Mord als Tribut an die Schönheit des Lebendigen:

«es dünkte ihn schön, wenn auch Winckelmann so unter seinen Händen stürbe. Und an die schwindende Wärme des Toten gelehnt, erschien ihm schön, einsam zu trauern, schön erschien ihm das Sterbliche. Denn er fürchtete sich vor dem ewigen, endlosen Lächeln der weißen Götter.» (S. 144)

In der DDR erscheinen 1965 Jutta Heckers weitgehend realistischer Roman «Traum der ewigen Schönheit» über einen platonisch liebenden Winckelmann und die von Alexander Stoll herausgegebenen originalen Prozessakten in deutscher Übersetzung. Stoll schreibt anschließend mit «Tod in Triest» (1968) eine der letzten literarischen Würdigungen des «Wunders Winckelmann» Darin beschreibt er das Äußere des Mörders so:

«Neben Winckelmann saß ein untersetzter, etwa vierzigjähriger Mann mit Pockennarben, niedriger Stirn, aufgestülpter Nase und speckigen schwarzen Haaren, die er seitlich in Papilloten gedreht und hinten mit einem Band gebunden hatte.» (S. 586)

Manchmal entspricht die Wirklichkeit nicht ganz der Wahrheit, die sich in den Köpfen der Menschen gebildet hat. Umso schlimmer für die Fakten. 1978 folgt, ebenfalls in der DDR, ein Winckelmann-Krimi von Joachim Lindner.

IV

Als im 18. Jahrhundert die Grundlagen unserer heutigen Welt gelegt wurden, trat der «Prozess der Zivilisation» (Norbert Elias) in eine neue Phase. Über den engen Kreis höfischen Lebens hinaus entwickelten die Menschen selbstbewusste und eigenständig handelnde Persönlichkeiten, die den geistigen und praktischen Anforderungen der Zeit gewachsen waren. Das Christentum konnte diese Explosion der praktischen Vernunft nicht mehr konstruktiv begleiten; im Gegenteil, viele religiöse Glaubenssätze stellten sich der Ausweitung einer rationalen Weltanschauung entgegen. Und doch fiel es den Menschen schwer, auf eine transzendentale Orientierung zu verzichten. Dieses Vakuum konnte vorübergehend mit einem Rückgriff auf die griechische Mythologie gefüllt werden – eine Welt frei denkender und handelnder Menschen und Götter von edler Einfalt und stiller Größe. Gerhart Hauptmann legt Winckelmann die Worte in den Mund: «Wer also hat mir den Trank des Lebens gereicht und vermag mich noch heute damit zu berauschen und selber fast zum Gotte zu machen? Die Vergangenheit!» Und Ungern-Sternberg lässt ihn eine flammende Rede gegen das Christentum führen:

«Können wir etwa Weiseres erfinden, als die Staatsgesetze des Perikles? Und ist in den Lehren eines Sokrates und Plato nicht alles enthalten, was nötig ist, unser Leben gerecht und weise zu machen? Was hat das Christentum hinzugefügt? Nichts als eine unendliche Barbarei unnötiger und blutiger Kriege, als eine wilde, ungezähmte Herrschaft der Kirche, wie die Inquisition lehrt; zahlreiche alberne Mönchsorden, absurde Rittergesetze und kleinliche Haus- und Ehestandsregeln.» (s. u. S. 108)

Winckelmann ließ sich von der griechischen Antike im wahrsten Sinn des Wortes begeistern, und angesichts der Eloquenz, mit der er seine Euphorie in die Welt hinaustrug, kann man ihn durchaus als Prophet dieser neuen, alten Heilslehre bezeichnen. Zweihundert Jahre nach Martin Luther gab er den Menschen einen «Text», an dem sie sich orientieren konnten, und wie Martin Luther beglaubigte er diesen Text mit seinem eigenen Leben.

V

Am Anfang der Idee, ein Lesebuch über Leben und Werk Winckelmanns zusammenzustellen, stand das Staunen über die Vielzahl literarischer Spuren, die sein Leben hinterlassen hat. Was für ein Mensch musste Winckelmann gewesen sein, dass gut einhundertfünfzig Jahre nach seinem Tod Autoren wie Friedenthal, Penzoldt, Hauptmann und Bergengruen, um nur die heute bekanntesten zu nennen, das Bedürfnis verspürten, sich ihm mit literarischen Mitteln zu nähern? Und vor allem: ihn ohne Gehässigkeit als schwulen Mann darzustellen, ja, ihm ein schwules Leben anzudichten, das er sicher gern geführt hätte, das sehr wahrscheinlich aber nur höchst selten gelang. Bei der Lektüre zeitgenössischer und späterer Texte zeigte sich immer wieder eine besondere Sympathie für den Menschen Winckelmann, obwohl ihn, vor der Erfindung der Massenmedien, kaum jemand persönlich gekannt haben wird. Goethe erinnert sich in «Dichtung und Wahrheit», dass er, als sich 1768 das Gerücht der Rückkehr Winckelmanns nach Deutschland verbreitete, mit anderen Leipziger Studenten eigens nach Dresden gefahren ist, ohne die Hoffnung, Winckelmann zu begegnen, sondern nur, um am selben Ort zu sein wie dieser Mann.

Dieses Lesebuch versucht, ein Bild Winckelmanns zu projizieren anhand der Reaktionen, die er in anderen hervorrief: Sei es Casanovas augenzwinkernde Kumpanei, Herders tiefe Dankbarkeit, Goethes Unvermögen, seine Skizzen zu einem Ganzen zusammenzufügen, oder Paters stilistisch kongeniale Einordnung, die Winckelmann zwar ins zweite Glied hinter Goethe verweist, aber immerhin ihm, und nicht Goethe einen eigenen Essay in «The Renaissance» widmet – neben Leonardo da Vinci, Botticelli und Michelangelo. Und ich hoffe, die wenigen Auszüge aus Winckelmanns Briefen und Abhandlungen können eine Ahnung der charismatischen Ausstrahlung vermitteln, die solche Reaktionen bewirkte.

«ICH KANN ETWAS KECK TUN …»

In seinen Briefen an Berendis beschreibt Winckelmann seine Ankunft in Rom

Rom, den 29tenJenner 1757.

Liebster Bruder und Freund

(…)

Wiße, liebster Freund! daß es mir wohl gehet mitten in den Nöthen die über Sachsen kommen sind. Mein Freund und Vater hält mir sein theures Wort und ich habe vor 3 Wochen den dritten Wechsel von 100 Rthlr., aber nach einen großen Abzug erhalten. Ich hatte schon alle Hoffnung aufgegeben, und ließ deswegen dem Card. Secretario di Stato, Archinto meine Dienste antragen durch einen würdigen Prälaten und großen Gelehrten, sonderlich in der Griechischen Sprache. Jener war voller Freude, daß ich mich endlich bequemen wollte oder müßte, und both mir eine Wohnung in seinem Pallast der Cancellerie an, welchen er nach des Pabsts Tode, da er itzo in dem Päbstl. Pallast als der erste Minister wohnet, beziehen wird, und wohin er itzo seine Bibliothec geschaffet hat. Unterdeßen wartete ich immer auf andere Erbiethungen, weil ich seit dem Junio sehr bequem und umsonst bey einem jungen Dänischen Bildhauer und Pensionair des Königs gewohnet, da mir also die bloße Wohnung dazu an einem entlegenen Ort in der Stadt kein Vortheil war, allein deswegen zu ändern. Da ich aber sahe daß nichts weiter erfolgete, und nichts als Caressen empfieng, und gleichwohl erfuhr, dass sich der Card. mit dem Deutschen Gelehrten, einem Großen Griechen, der sein Bibliothecarius werden würde, groß machte, so blieb die Sache wie sie war einige Monate. So bald ich Geld erhielt ohne es den Card. wißen zu laßen, erklärte ich mich mit einmahl ohne das geringste zu verlangen, in seinen Pallast zu ziehen und seine Bücher zu besorgen, um ihm zu zeigen wie ich dencke, und eher mir jemand zu verpflichten als verpflichtet zu seyn. Unterdeßen hätte er als Erster Minister, der einen allgemeinen Credit bey allen Menschen hat und ohnfehlbar einmal Pabst werden kann, Gelegenheit genug mir viel gutes zu thun. Unterdeßen bin ich glücklich daß ich nichts verlangen darf. Ich bleibe bey meiner Weise: denn da ich ein Bette für mich aufgeschlagen fand, welches nicht nach meinem Sinne war, so ließ ich ein anderes und beßeres daneben setzen, um zu zeigen wie ich wünschte gehalten zu seyn. Das seinige soll er wieder wegnehmen laßen. Ich kann etwas keck thun: denn es fehlet an Gelehrten meiner Art. Diese Probe mein Wort das ich gegeben, zu halten, kommt mir aber theuer zu stehen: denn da ich sonst einige Monate nach einander Mittags und Abends beym Mr. Mengs gegeßen, und prächtig gegeßen, so muß ich itzo selbst für meine Küche sorgen. Habe ich aber Lust mich auszulaßen und tapfer in Gesellschaft zu trinken, so gehe ich zu jenen. Eine von meinen Curen ist, mich mit guten Bekannten einmahl des Monats über den Durst einzuladen. Es war eine Zeit wo ich nicht gut schlief und mehrentheils ziemlich beladen zu Bette ging. Der Wein ist nicht theuer, und ich sorge selbst für einen guten Vorrath. Itzo bewohne ich also die Zimmer, die der Card. Ottoboni, als Cantzler dem berühmten Trivisano eingeräumet hatte. Ich habe 5 Stuben, eben so viel Cammern und eine Küche: und mein Wohn-Zimmer hat einen großen Balcon nach dem Platz vorne heraus.

Ich kann also vergnügt seyn und es macht mir nichts Sorge als meine Schriften; ich habe so gar jemand gefunden, mit dem ich von Liebe rede: ein junger schöner blonder Römer von 16 Jahren, einen halben Kopf größer als ich: aber ich kann ihn nur einmahl die Woche sprechen: des Sonntags Abends speiset er bey mir. Itzo wünschte ich nichts mehr als Dich hier zu sehen mit Deinem jungen Grafen: ich wollte euch die Schönheiten des Alterthums und der Neuern beßer zeigen, als alle Antiquarii in Rom, welches Ignoranten sind, und der Auffenthalt sollte außer einer Mieth-Kutsche, welche man wegen der Größe des Orts nöthig hat, weniger kosten als auf einer Academie in Deutschland. Suche Mittel und Wege dazu. Alles ist nichts gegen Rom: Du weißt nicht das hundertste theil. Bis hieher sind wir einander gefolget: ich bin immer vorausgegangen, folge Du nach. Ich glaubte, ich hätte alles vorher ausstudiret, und siehe! da ich hier kam, sahe ich daß ich nichts wußte, und daß alle Scribenten Ochsen und Esel sind. Hier bin ich kleiner geworden, als da ich aus der Schule in die Bünauische Bibliothec kam. Willstu Menschen kennen lernen, hier ist der Ort. Köpfe von unendlichen Talent, Menschen von hohen Gaben, Schönheiten von dem hohen Charakter wie sie die Griechen gebildet haben, und wer endlich die rechten Wege findet, siehet Leute von Wahrheit, Redlichkeit und Großheit zusammengesetzt, und da die Freyheit in andern Staaten und Republiken nur ein Schatten ist gegen der in Rom, welches Dir vielleicht paradox scheinet, so ist hier auch eine andere Art zu dencken. Aber Leute von der letztern Art machen sich freilich mit Fremden, die insgemein Rom durchlaufen, nichts zu schaffen: alle Franzosen sind hier lächerlich als eine elende Nation, und ich kann mich rühmen, daß ich mit keinem von der verachtungswürdigsten Art zweyfüßiger Creaturen eine Gemeinschaft habe. Ihre Academie ist eine Gesellschaft der Narren und ein junger Römer machte ein Wappen für dieselbe, nämlich 2 Esel welche sich kratzen, weil den Esels alles gefällt. Solltest Du nach Paris gehen, so schreibe ich keine Zeile an Dich. Ich muss aber auch gestehen, daß fast alle Deutschen die hier kommen Französische Meerkätzgen seyn wollen, und es gelinget ihnen nicht einmahl: denn man muss von Mutterleibe ein Narre seyn. Ein einziger Französischer Architect ist mein guter Bekannter; aber er hat sich von seiner Nation abgesondert, um nicht lächerlich zu werden. Ich schreibe dieses deswegen, weil ich weiß, daß Du mit der Französischen Seuche ein wenig angesteckt bist, welches Übel an Deutschen Höfen, wo ein Französischer Harlequin mehr als ein wahrer Deutscher gilt, nicht leicht zu heilen ist. Ein Franzose, so wie die Nation itzo ist, ist ungeschickt ein großer Künstler, ein gründlicher Gelehrte zu werden, ja kein Franzose kann eine andere Sprache ohne Lachen zu erwecken, reden lernen. Keiner kann ein ehrlicher Mann seyn. Haec in transitu: sumatur dosis pro medicina. Dieses was ich schreibe, werde ich künftig einmahl, wenn meine Achtung in der Welt beßer gegründet seyn wird, in einer besondern Schrift beweisen.

Meine erste Schrift von der Ergäntzung der alten Statuen und der übrigen Wercke des Alterthums war schon zum Drucke fertig; aber ich fange sie an von neuen umzuschmelzen und ich weiß nicht, ob sie künftige Leipziger Meße wird erscheinen können: denn nunmehro muß ich mir vorstellen, nach der guten Aufnahme des ersten, daß ich vor den Augen aller Welt, und von einer unberührten Sache schreibe, wozu meine Einsicht allein nicht hinlänglich ist. Die Vorrede wird viel besondere Dinge enthalten für den der sie verstehet, die noch nicht gesagt sind. Die andere Schrift, nemlich die Beschreibung der Statuen im Belvedere erfordert Zeit, weil es lauter Original-Gedanken seyn müßen, und zur Geschichte der Kunst fange ich an die Materialien zu sammlen, und es ist nöthig, daß ich alle alten Griechen von neuem gantz durchlese. Diese Arbeit könnte vielleicht unterbrochen werden durch die Ausgabe eines alten Griechischen Redners aus einem Ms. inedito Vaticanae et Bibliothecae Barberinae, an welcher ich gegen das Frühjahr in Gemeinschaft mit gedachten Prälaten, einem Florentiner Michel Angelo Giacomelli, Canonico di S. Pietro e Capellano secreto di N. S. einem Mann von 56 Jahren zu arbeiten anfangen werde, das heißt er will einen kleinen Theil für sich nehmen und das übrige wird unter meinem Namen erscheinen.