Kapitel 4


In der Einsatzzentrale war es ruhig und so leise, dass man die sprichwörtliche Nadel hätte fallen hören können.

Samantha ging in die Hocke und fuhr mit den Fingern über den glatten Linoleumboden, weil sie die Haarspange suchte, mit der sie nervös in dem schwach beleuchteten Raum gespielt hatte. Bis gerade eben hatte sie noch dagestanden und auf die großen Monitore geschaut, die an der Wand vor ihr hingen.

Das Zimmer war ein langes Oval, vollgestopft mit aufwendigen Kommunikations- und Überwachungsgeräten, die sie dazu befähigten, in Echtzeit zu beobachten, was auch immer gerade im Rahmen ihrer Operationen und mit den Männern geschah, die sich überall auf der Welt im Einsatz befanden.

Von diesem einen Raum aus ließen sich Topinformationen über jedermann einholen, egal wo auf dem Planeten. Überwachungskameras in allen erdenklichen Ländern, Polizeifunk und Computerdaten sowie andere vertrauliche Unterlagen konnten ohne jemandes Wissen jederzeit angezapft werden.

Aufgezeichnete Telefonate standen abrufbereit, genauso wie der Zugang zur Einsicht in diverse Bankkonten. Persönliche Rechner und Onlinedaten hatten selbst hinter aktuellsten Firewalls und anderen Programmen zum Blocken von Spyware keine Chance gegen die bewanderten Fachleute, die hier im Halbdunkeln saßen, ihr Körpergewicht an Kaffee tranken und unter akutem Vitamin D Mangel litten.

»Wie läuft es, Sam?«

Sie hatte gar nicht mitbekommen, wie er an ihre Seite getreten war und seine tiefe, heisere Stimme brachte sie fast zum Zusammenzucken.

»Ich glaube, eine Antwort darauf erhalten wir bald, Sir«, erwiderte sie und erhob sich, nun da sie ihre Spange wiedergefunden hatte. Sie verwies nickend auf die Monitore. »Ich habe mir offenbar die falsche Zeit ausgesucht, um mit dem Rauchen aufzuhören, das kann ich Ihnen sagen.«

Der General lächelte verhalten, um ihr zu verstehen zu geben, dass er begriffen hatte und ihre Angespanntheit durchaus nachempfinden konnte.

»Wie schlagen sich unsere Jungs denn?«, fragte er nun und kniff seine starrenden Augen zusammen, während er die Bildschirme betrachtete.

Der Wichtigste in der Mitte zeigte ein Farbbild in HD, das einer der vielen Satelliten in der Erdumlaufbahn geschickt hatte. Die beiden kleineren Monitore an den Seiten gaben die gleichen Standorte wieder, bloß aus unterschiedlichen Quellen.

Auf dem Linken sah man eine grobkörnig flackernde Aufnahme, die sich ununterbrochen veränderte. Es handelte sich dabei um die unmittelbare Übertragung einer unbemannten Spionagedrohne, die schon längere Zeit hoch am Himmel kreiste. Das Gelände zeichnete sich in unterschiedlichen Grautönen und Schwarz ab, wohingegen alles Lebendige, was Körperwärme abstrahlte, dank des thermischen Sensors weiß hervortat.

Auf dem rechten Schirm, auf den sich der General konzentrierte, wurde eine digitale Karte gelegt, die Hauptverkehrswege, Flüsse und besiedelte Teile des Einzugsgebiets der Mission sichtbar machte. In der Mitte des Bildes leuchteten paarweise zusammengedrängt acht rote Punkte auf, die ungefähr ein Dreieck bildeten.

»Vergewissern Sie sich selbst, Sir«, meinte Samantha. »Sie verharren schon die ganze Nacht an ihren Positionen. Soweit wir der Auslesung ihrer Vitalparameter entnehmen können …« Sie zeigte auf einen Stoß Papiere, die auf einem Tisch zu ihrer Rechten gestapelt waren. »… standen zwei von ihnen bis vor wenigen Stunden kurz vor dem Frühstadium einer Hypothermie. Die Temperatur fiel im Laufe der Nacht nämlich bis auf null Grad.«

Der General bemüßigte sich nicht, die Messwerte zu überfliegen. Er kannte die Männer und wusste, was sie alles verkraften konnten. Momentan interessierte er sich eher brennend dafür, was bald geschehen würde. Er grunzte allerdings kurz zum Zeichen dafür, dass er die Leiden der Truppe zur Kenntnis genommen hatte.

»Was ist mit der Videoübertragung? Kommt sie immer noch ohne Verzögerung vom Boden an?«

Samantha schüttelte den Kopf. »Nein, Sir. Die Männer haben ihre Kameras vergangene Nacht abgebaut. Wir haben aber eine Menge Material von den letzten fünf Tagen, falls sie das gern durchgehen wollen.«

Sie nahm die Hände von ihrer Brust, wo sie diese gefaltet hatte, und zeigte dann auf die Festplatten mit allen Bildern, die ihre Kameras gesammelt hatten.

»Ich muss hinterher noch mit Ihnen sprechen, Sam«, erwiderte er, ohne die Augen von den Monitoren an der Wand abzuwenden.

»Worüber denn?« Samantha wartete ebenso gespannt auf die Entwicklung der Ereignisse und behielt die Digitaluhr im Auge, welche in der oberen rechten Ecke des Satellitenbildes tickte.

»Wegen der Sache in Afrika.«

Jetzt wandte sich Samantha von der Liveübertragung ab und starrte mit brennenden Augen auf den großen, blassen Mann, der neben ihr stand.

»Was ist dort passiert?«

Der General erwiderte ihren Blick achselzuckend, während ein leises Lächeln seine schmalen Lippen umspielte.

»Das wissen wir nicht. Das Verteidigungsministerium war nur insoweit zuvorkommend, als dass es uns mitgeteilt hat, dass man den Kontakt zu der Belegschaft verloren habe, die dort hingeschickt wurde.«

»Und der Doktor?«

Jetzt schüttelte er den Kopf.

»Wie lange ist es schon her, dass sie zuletzt von ihm gehört haben?«, fragte sie und bemühte sich, etwas in seinem Gesicht zu erkennen, das darauf hingedeutet hätte, dass er ihr etwas vorenthielt. Im dürftigen Licht war allerdings schwerlich abzuschätzen, was ihm gerade durch den Kopf ging.

»Neun Tage.«

»Unsinn«, erwiderte sie gereizt. »Weiß die Weltgesundheitsorganisation schon davon?«

Er nickte.

»Sie wird sich bestimmt bald melden, um uns auf den neuesten Stand zu bringen. Da der Doktor vermisst wird, rechnet man allerdings mit dem Schlimmsten.«

»Werden Sie bald an die Öffentlichkeit treten?«

Er schüttelte erneut den Kopf und zog seine Schultern hoch.

»Damit? Ohne die Forschungsergebnisse des Doktors bleiben doch nur Gerüchte und graue Theorie«, entgegnete er abfällig.

»Da wären doch noch die Berichte und Aufnahmen aus Belize und von Haiti, was ist damit? Sie haben sie doch alle selbst gesehen, Sir.«

Zum dritten Mal schüttelte er den Kopf.

»Die sind unzuverlässig, fürchte ich. Sie können der Welt diese Angelegenheit nicht einfach so unter die Nase reiben, wenn noch nicht alles ganz genau belegt wurde.«

»Nun ja, sie müssen …«

»Bewegung im Zielbereich, Ma'am«, unterbrach sie jemand von der anderen Seite des Zimmers.

Sie schaute hinüber. Es war der Sergeant, der hinter seinem Computer saß und sich zu ihr herum gedreht hatte, wobei der Monitor ein schummeriges Licht auf seine Züge warf.

Auf dem großen Schirm sah sie anhand von leuchtend weißen Umrissen, wie sich die Männer von dem Bauernhof entfernten.

»Genau richtig«, brummte sie und wandte sich wieder zu dem Mann neben ihr. »Zeit, die man zur Aufklärung opfert, ist nur selten vergeudet, General Thompson.«

»Stan hat das Ziel bestätigt, Captain Tyler«, berichtete der Nachrichtentechniker vom Tisch hinter Samantha.

Sie wollte sich nun vom General abwenden und sich wieder den dringenden Angelegenheiten der Operation widmen.

Er legte ihr eine Hand auf den Unterarm, sodass sie kurz stockte, und beugte sich dann zur Seite, um ihr etwas ins Ohr zu flüstern: »Sobald sie das Gebiet sicher verlassen haben, holen Sie sie da raus. Warten Sie nicht, bis sie den vereinbarten Sammelpunkt erreichen, sondern tun Sie es umgehend.«

Dann trat er zurück und bedachte sie mit einem argwöhnischen Blick.

»Sie wissen, dass gerade alles aus den Fugen gerät, Sam, nicht wahr? Wir müssen sie so schnell wie möglich zurückholen und wieder bereit machen. Ich glaube, wir werden sie erneut brauchen, bevor diese Woche vorbei ist.«

 

Kapitel 6


Er lag da, immer noch schwer atmend mit rhythmisch auf und nieder gehender Brust, während sein Herz weiter hastig klopfte und in seinen Ohren dröhnte wie eine Trommel. Sein nackter Körper – entkräftet und erschöpft – war mit einer leichten Schicht Schweiß überzogen, der auch die Laken unter ihm bereits tränkte.

Er hatte die Augen geschlossen, weil er einfach keine Energie mehr aufbrachte, um die unverhältnismäßig schweren Lider aufzuschlagen, und nahm seine Umgebung nur noch vage wahr, als der Schlaf an ihm zerrte und drohte, ihn über die Schwelle in den tiefen, schwarzen Abgrund zu ziehen, der sich im Zuge der Euphorie des Orgasmus aufgetan hatte.

Sie fuhr mit den Händen über die feuchte Haut an seiner Brust und streichelte ihn, während er anfing, langsam wegzudämmern. Als sie die schwarzen Haare an seinem Torso zwischen ihren langen, dünnen Fingern zwirbelte, zupfte sie gerade so fest daran, dass es ihn davon abhielt, sein Bewusstsein zu verlieren. Sie betrachtete die glänzende Brustbehaarung, wickelte sie weiter um ihre Finger und hob sie an, aber nur so weit, dass sich die Haut ein wenig spannte und er nicht einschlief.

Mit ihrem Gesicht lag sie dicht an seiner Halsbeuge, weshalb er ihren Atem die ganze Zeit auf seinem warmen Fleisch spüren konnte. Sie kicherte, als er zusammenzuckte, weil sie ihm ein leicht unangenehmes Gefühl bereitete, doch er gab sich nicht die Mühe, ihr mit einem Klaps auf die Hand Einhalt zu gebieten. Schließlich mochte er diesen Reiz an der Grenze zwischen Lustempfinden und Schmerz.

»Matthew«, wisperte sie.

»Hmm …?« Er hatte gerade weder die Kraft noch die Lust zum Sprechen.

»Da ruft jemand auf deinem Handy an.«

In seinem verträumten Zustand hatte er alles um sich herum vergessen und war ganz hypnotisiert vom Schlag seines Herzens und den Endorphinen, die durch sein betäubtes Hirn rasten. Der Verkehrslärm von der Straße unten vor dem Hotel kam ihm eine Million Meilen weit weg vor; den Fernseher, dessen Lautstärke sie auf kaum mehr als ein Wispern eingestellt hatten, registrierte sein dahintreibender Verstand überhaupt nicht.

Er war so weit weg, davongetragen auf bauschigen Kissen sexueller Zufriedenheit.

Sein Mobiltelefon, das auf stumm geschaltet war, vibrierte in seiner Hosentasche. Er hatte sich hastig ausgezogen und seine Kleider einfach auf dem Boden liegen lassen. Die schnelle Bewegung des Geräts verursachte ein leises Brummen, das er kaum hören konnte, selbst als er sich gezielt darauf konzentrierte.

»Verflucht«, meckerte er und weigerte sich, den Aufwand zu betreiben, sich zu bewegen und es zu holen. »Kann nur meine Frau sein.«

Michelle, neben ihm, war ebenfalls nackt und schweißgebadet, aber nicht mit ihm verheiratet. Die beiden hatten sich zehn Jahre zuvor kennengelernt, als er Leiter eines Büros gewesen war und sie eine Bewerberin für den Posten der Empfangsdame.

Aufgrund ihres Aussehens und ihrer neckischen Art hatte er sie sofort als seine persönliche Assistentin angestellt und es für sich mit dem Argument gerechtfertigt, ein bisschen was fürs Auge, während der Arbeit könne ja schließlich nicht schaden.

Bald hatte sich allerdings, weil Michelle mit ihren Ambitionen – sie machten einen Teil der Versuchung aus –, beruflich weiterzukommen, alles zu tun bereit war, was sie musste, um dort anzukommen, wohin sie wollte, für Matthew eine Gelegenheit aufgetan, die einfach zu gut gewesen war, um sie auszuschlagen. Ihm war natürlich klar gewesen, dass er ihr Erfolgsstreben ausnutzte, aber auch, dass dies genau ihrer Vorgehensweise entsprochen hatte, nämlich ihr gutes Aussehen und ihren Charme spielen zu lassen und so leichter voranzukommen, statt ganz unten anfangen zu müssen, und sich dann erbittert und um jede kleine Gunst kämpfend hochzuarbeiten.

Als ihre provokanten Kleider und Andeutungen immer verlockender geworden waren, hatte er sich schließlich dazu hinreißen lassen, ihr Verhalten zu fördern und sogar aktiv darauf einzugehen.

Sicher, sie war eine Karrierefrau und tat, was ihr auf ihrem Weg half, doch das hatte ihm nichts ausgemacht. Was ihm da untergekommen war, hatte ihm gefallen, und da die Beziehung zu seiner Ehefrau sowieso gerade im Begriff gewesen war, langweilig und eintönig zu werden, vor allem im Schlafzimmer, hatten Michelles Annäherungen, ein neues Feuer in ihm geschürt.

Er war schon ganz zu Anfang von ihr hingerissen gewesen, verführt durch ihre ausgeprägt erotische Ausstrahlung, und hatte gewusst, dass es nur eine Frage der Zeit wäre, bis jemand versuchen würde, bei ihr zu landen. Letzten Endes war er mit sich übereingekommen, selbst derjenige zu sein.

Nach ihrem ersten Stelldichein im Alkoholrausch im Rahmen einer betrieblichen Weihnachtsfeier hatte sich ihr Verhältnis aus unausgesprochenem gegenseitigen Verständnis entwickelt – eine Partnerschaft, die er nur zu gern betrieb. Sie befriedigte seine sexuellen Wünsche und Bedürfnisse, wohingegen er dafür sorgte, dass bei ihrer Karriere nichts anbrannte.

Als er die schwindelerregend hohe Stelle des Unternehmensleiters erhalten hatte, war auch sie befördert worden. Doch während Matthew die Karriereleiter erklomm, trug er stets Sorge dafür, dass sie trotzdem ein paar Sprossen unter ihm blieb. Ihm war bewusst, dass er eines Tages vielleicht erkennen musste – sollte sich das Blatt jemals wenden, sodass die Verhältnisse von Macht und Abhängigkeit umgekehrt wurden –, dass er sich ausstoßen und vergessen, womöglich sogar ruinieren und blamieren lassen musste, um Michelle jegliche Konkurrenz vom Leib zu halten.

Sie hatte allerdings nie Anwandlungen an den Tag gelegt, die von einer dunkleren Seite zeugten, sondern eher das Gegenteil getan. Immerzu trat sie ihm gegenüber sorgend, liebevoll und bezaubernd auf, doch in ihren Augen sah er etwas, das hinter dieser entzückenden Fassade lauerte. Jedes Mal, wenn er in ihr hübsches Gesicht schaute, erhaschte er einen Eindruck von Skrupellosigkeit, die ihrem hohen Ehrgeiz erwachsen war, und sah deshalb kommen, dass sie diese eines Tages zum Tragen bringen würde, sollte die Situation es erfordern.

Dies ängstigte ihn, war aber andererseits auch erregend.

Während der letzten zehn Jahre hatten sie ein leises, subtiles Katz-und-Maus-Spiel im Eifern um Einfluss am Arbeitsplatz miteinander getrieben. Matthew war jedoch stets als Sieger daraus hervorgegangen und dank seiner Position als Druckmittel immer deutlich im Vorteil geblieben.

Er bildete sich nicht wenig auf sich selbst ein und freute sich über die herrschenden Umstände. Während er stets alles bekam, was er sich wünschte, schien sie sich damit zufriedenzugeben, dieses Spiel fortzusetzen.

Michelle ließ nun von seiner Brust ab und fuhr mit den Fingern nach unten, dort kratzte sie zart mit ihren manikürten Nägeln über seinen Bauch bis zu seiner Leiste. Unvermittelt nahm sie seine Genitalien in die Hand und drückte leicht zu, was genügte, um sofort seine Aufmerksamkeit einzufordern und ihn aus den Armen des Schlafs zu reißen, der ihn so sehr lockte.

»Also, mein lieber Matty«, hauchte sie ihm verführerisch ins Ohr und lockerte ihren Griff um seine Hoden ein klein wenig. »Du gehst wohl besser ans Handy, denn wir wollen doch nicht, dass deine holde Gattin je einen Grund erhält, um Verdacht zu schöpfen, oder?«

Er grunzte leise und setzte sich dann aufrecht hin. Anschließend schwang er seine Beine über die Bettkante und fuhr sich mit beiden Händen durch das schweißnasse Haar. Danach bückte er sich nach seiner Hose, zog das zitternde Handy hervor und schaute nach dem Namen auf dem Display.

»Klar, ist sie es«, krächzte er leise, ehe er sich einen Finger vor den Mund hielt, um Michelle zum Schweigen zu ermahnen, solange er telefonierte.

Sie verdrehte die Augen, weil sie sich leicht genervt und angegriffen fühlte, weil er ihr etwas so Offensichtliches überhaupt zeigen musste.

Er drückte die Taste mit dem grünen Hörer.

»Hallo, Schatz«, begrüßte er sie mit gespielter Begeisterung und Herzlichkeit, die aufzubringen ihm äußerst schwerfiel.

Daraufhin schwieg er vorübergehend, wohl um dem zu lauschen, was seine Frau gerade am anderen Ende der Leitung zu sagen hatte.

»Ja«, begann er wieder, während er die Lügen durchdachte, die er ihr gleich auftischen würde. »Ich bin gerade erst aus einer Besprechung mit den Gesellschaftern gekommen. Clive hat wieder wegen der Produktion herumgeschwafelt und hat uns die Hölle heißgemacht, als sei alles unsere Schuld.«

Er stand auf und begann, im Raum auf und ab zu gehen, wobei der Schweiß an seinem Körper im Licht glänzte, das durch die Lücken in den Vorhängen des vom Fußboden bis unter die Decke reichenden Fensters einfiel. Währenddessen nickte er, brummte wieder und streute gelegentlich ein »Ja« oder »Echt?« ein, um die Konversation nach Möglichkeit überzeugend fortzuführen.

Irgendwann blieb er stehen und schaute auf Michelle hinab, die noch immer nackt ausgestreckt im Bett lag und seinen Blick lächelnd erwiderte.

Während die Stimme seiner Frau abdriftete und kaum hörbar in seiner lüsternen Wahrnehmung wurde, begutachtete er den hüllenlosen Leib, der sich vor ihm offenbarte.

Seine Augen brannten vor Verlangen, und er fuhr sich gierig mit der Zunge über die Lippen, die nun wieder stark durchblutet waren.

Ihr langes braunes Haar fiel ihr wellig in den Nacken und auf die Brüste, wie ein dunkler Wasserfall, der mitten im Fluss gefroren war. Sie starrte ihn mit ihren betörend grünen Augen an, die wortlos von zahllosen sündigen Geheimnissen kündeten und ihn lockten, ebendiese am eigenen Leib zu erfahren.

Auch nach zehn Jahren, jetzt wo sie Ende dreißig war, hatte Michelle noch eine Figur, die ihn vor Begierde fast zum Platzen brachte und die meisten Zwanzigjährigen in den Schatten stellte. Ihre Haut war weich wie jene eines Säuglings und frei von jeglichen Makeln, ihre Beine in seiner Auffassung etwas aus einem Traum, wie es im Paradies aussehen mochte.

In Anbetracht ihrer optischen Vorzüge, ihrer Intelligenz und Handfertigkeit stand vollkommen außer Frage, dass er sich je langweilen oder ihr widerstehen wollen würde.

Endlich unter Aufwendung großer Mühen, in deren Folge er fast das Gefühl hatte, einer Ohnmacht nahe zu sein, konnte er sich von dem erotischen Tagtraum losreißen, in den er gerade geraten war, und schenkte erneut der aufdringlichen Stimme seiner Ehefrau aus dem Telefon Beachtung, wenn auch nur flüchtig.

»Pass auf, Liebling«, begann er entschuldigend. »Ich muss jetzt leider gehen. Clive winkt mir gerade, weil ich wegen irgendetwas noch in sein Büro kommen soll. Der Mistkerl ist einfach nicht zufrieden, es sei denn, er kann jemandem den Arsch aufreißen.«

Seine Frau entgegnete etwas und er fing an zu nicken.

»Nein, hab's natürlich nicht vergessen. Ich bin rechtzeitig zu Hause.«

Wieder bewegte er den Kopf vehement auf und ab, um anzuerkennen, was seine Gesprächs- und Lebenspartnerin sagte, während er sich wünschte, dass die Unterhaltung endlich vorüber war.

»Mach ich, Darling, auf dem Nachhauseweg besorge ich welchen. Ich weiß ja, was du magst … den italienischen Rosé, den wir neulich am Wochenende hatten, richtig?«

Abermals erfolgte ein Nicken.

»Jepp, verstanden. Hab dich auch lieb.«

Endlich trennte er die Verbindung und schüttelte den Kopf.

»Was für eine Nervensäge«, stöhnte er, drehte sich zu Michelle um und spürte, wie seine fleischlichen Gelüste wiederaufflammten, als sie ihre Knie ein Stück weit auseinanderzog, um ihm absichtlich zu entblößen, was dazwischen verborgen lag.

»Sie hat eine Dinnerparty mit unseren Nachbarn organisiert und will, dass ich den Wein kaufe. Geht mir aber echt am Arsch vorbei.«

Michelle sagte dazu nichts.

»Lieber würde ich mir Nadeln in die Nagelbetten stechen als das«, fuhr er fort.

Sie saß auf der Matratze und betrachtete ihn mit einem unbeugsamen und animalischen Gesichtsausdruck, der den Verdacht in ihm erregte, sie spiele gerade mit dem Gedanken, ihn in der Luft zu zerreißen. Das hätte er zu gern mit sich machen lassen.

Sie schnaufte hörbar, und ihre Brust hob sich, jedes Mal, wenn sie Luft holte, sodass ihr formvollendeter Busen hervortrat, ehe sie ihn wieder einzog, und danach leicht wackelte, sobald er nach einem Atemzug wieder zur Ruhe kam. Sie legte ihre Hände langsam auf die Knie und begann dann, die Finger sanft an den zarten Innenseiten ihrer Oberschenkel hinuntergleiten zu lassen.

Die ganze Zeit über blieb ihr schmollender Blick auf den sichtlich erhitzten Mann gerichtet, der am Fußende des Betts stand und sie ungeniert anstarrte.

Er grinste reuig, nahm seinen Penis in die Hand und machte einen Schritt auf sie zu, wobei er sein Handy achtlos auf den Boden fallen ließ.

»Scheiß auf die Dinnerparty. Ich würde dich am liebsten auffressen … lässt du mich?«

Drei Stunden später bog Matthew in seine Auffahrt ein und brachte seinen teuren Sportwagen zum Halten. Als er den Schlüssel aus der Zündung zog, schaute er zu seinem Haus.

Ihm mangelte es an nichts.

Er hatte eine stattliche Bleibe, viele Freunde, fuhr dreimal im Jahr vom Feinsten in den Urlaub, hatte zwei prächtige Kinder – Paula und William – sowie eine treu sorgende Ehefrau.

Seine Tochter war zwölf, der Junge zehn, und Matthew wusste, er würde sie beide verlieren, falls seine Affäre je ans Tageslicht kommen würde.

Warum also setze ich das alles für die niederen Freuden aufs Spiel, mit denen mich meine Assistentin immer wieder traktiert?

Er stockte einen Moment, dann verwandelten sich seine Gewissensbisse plötzlich in flammende Abscheu, die tief aus seinem Inneren loderte.

»Würde sie die Beine mal öfter und mit etwas mehr Begeisterung breitmachen, hätte ich mich doch nie woanders umgeschaut«, knurrte er mit zusammengebissenen Zähnen, ehe er die Tür öffnete und in die eisige Kälte ausstieg.

»Blöde Schlampe.«

Zufrieden damit, dass er sein Schamgefühl so schnell abgehakt hatte, verriegelte er das Auto und fuhr ehrerbietig über die blaugraue Metallic-Lackierung.

Mit einem Lächeln, das Gefälligkeit und Genugtuung ausdrückte, wandte er sich ab und ging hinüber zu seinem Familienhaus, während er die Melodie des Beatles-Songs »Please Please Me« vor sich hin pfiff.

Sein Lächeln wurde breiter, als er den Text im Kopf sang. Wie passend, dachte er dabei.

Auf halbem Weg zur Tür, während er in seiner Tasche nach dem Schlüssel kramte, blieb er auf einmal stehen, und die Tonfolge auf seinen Lippen erstarb abrupt. Er drehte sich wieder um, blickte hinauf in den klaren Nachthimmel, an dem die Sterne funkelten, und knurrte vor Verärgerung: »Kacke, ich habe den verdammten Wein vergessen.«

 

Kapitel 8


Danny beobachtete durch die offene Tür, wie rasend schnell der Dschungel unter ihnen vorbeiflog. Zu seinen Füßen zog sich ein nicht enden wollendes Band aus Grüntönen dahin, das aussah wie eine Steppdecke aus üppigem Laub. Die Bäume standen derart dicht nebeneinander, dass man rein gar nichts vom Waldboden sehen konnte. Nur wenn das durchlaufende Dach aus hoch aufragenden Ästen mit nass glänzenden Blättern von reißenden Flüssen und steilen Felswänden unterbrochen wurde, ließen sich überhaupt Einzelheiten des Terrains ausmachen.

Dass er sich zuletzt wie ein normaler Soldat gekleidet hatte, war bereits Jahre her, doch jetzt, als er eine Dschungeluniform mit Stiefeln und ein M4 ArmaLite trug, fühlte er sich wieder so, als befinde er sich mit einem regulären Armeeverband im Einsatz.

Obwohl Danny als letztes neues Mitglied zum Team gestoßen war, kannte er den Krieg sehr gut. Er hatte nicht wenige Auslandsoperationen mit seiner Stammeinheit hinter sich gebracht und sogar dem Pathfinder Platoon der britischen Luftlandetruppen angehört. Er war stark, topfit und jeder körperlichen Herausforderung gewachsen, auch harten Kämpfen mit geringen Erfolgschancen. Mit seinem großen Wuchs und den langen Armen war der dunkelhaarige Mann seinerzeit ein aussichtsreicher Boxer gewesen und hatte die British Army sogar in Übersee vertreten.

Als Danny der Einheit beigetreten war, hatten sich sofort alle für ihn erwärmt und ihn zur Zielscheibe für ihre Scherze gemacht, um seinen Charakter zu prüfen und herauszufinden, inwieweit er Vergeltung übte. Bull hatte ihn auf die harte Tour kennengelernt; nach einer grässlichen Nacht voller Sticheleien und Streiche war er im Vollrausch eingeschlafen und hatte sich infolgedessen seine Augenbrauen von Danny abrasieren lassen müssen.

Der Helikopter beförderte das Team jetzt nach Osten, wobei er abhängig von der Beschaffenheit der Landschaft beidrehte und wieder ausscherte. Gelegentlich verfehlten seine Rotoren die Baumwipfel nur um wenige Zoll, was vom äußersten Geschick des Piloten zeugte.

Bei diesem Lärm hätte man aber auch die Ohren anlegen können.

Wegen der offenen Türen an beiden Seiten des Rumpfs heulte ein regelrechter Sturm durch das Innere, der gänzlich ausschloss, dass man irgendetwas anderes hörte, als das markerschütternde Knattern der schwirrenden Blätter und die brummenden Triebwerke.

Danny wusste aber ohnehin nicht, was er sagen sollte.

Er sah sich nicht bemüßigt, Gespräche mit wem auch immer zu führen. Ein kurzer Blick auf die anderen in der Kabine, die ebenfalls in unterschiedlichen Grüntönen gekleidet waren, gaben ihm zu erkennen, dass sie genauso dachten wie er.

Deshalb lehnte er sich zurück, verdrängte den intensiven Gestank von Flugbenzin und stützte dann seinen Kopf gegen die Innenwand des Hubschraubers. Während er weiterhin hinaus in die wilde Tropenlandschaft starrte, versetzten ihn die Vibrationen des Motors, die sich im Gefüge des Fluggeräts fortpflanzten, in eine leichte Trance.

Sie hatten nun einen weiteren Auftrag zu erledigen und waren alle damit beschäftigt, sich der Umgebung anzupassen, verloren in ihren eigenen Gedanken und Vorbereitungen, jeder auf seine ganz individuelle Weise. Manch einer von ihnen versuchte, Schlaf zu finden, wohingegen sich andere wie Danny in ihre besondere kleine Welt zurückzogen.

Brian quälte sich vergeblich durch ein Kapitel eines Buchs, das er gerade las, und führte einen aussichtslosen Kampf gegen den Luftstrom, der seine Seiten ständig flattern ließ. Letzten Endes gab er es auf und steckte den Roman verärgert in eine Nische unter seinem Sitz, wo er zwischen zwei schweren Munitionskisten aus Stahl eingeklemmt wurde.

Stan war in eine Karte und mehrere Fotografien vertieft, wenn er nicht gerade auf dieser oder jener Seite hinausschaute, um sich am Boden zurechtzufinden, während er sich per Headset mit dem Piloten kurzschloss.

Als sein Blick dem von Danny begegnete, nickte er ihm kurz zu und hielt anschließend alle fünf Finger einer Hand hoch, um ihm zu signalisieren, dass sie die Landezone bald erreichen würden.

Bei der Einsatzbesprechung war nichts Neues zutage getreten, zunächst zumindest. Wie immer hatte man als Erstes die globale Lage für sie zusammengefasst.

Niederlagen des Militärs in den Kriegen gegen Korea und Iran nötigten die westlichen Streitmächte dazu, ihre Strategie zu überdenken. China hatte es geschafft, den Flugzeugträger USS George Washington zu versenken und die Staaten damit empfindlich in ihrer Fähigkeit geschwächt, Luftunternehmungen zu starten und die Bodeneinheiten auf Gefechtsstation in Südkorea zu unterstützen, die schon im Zuge der massiven Gegenoffensive aus dem Norden zurückgedrängt worden waren.

An der iranischen Front hatte sich währenddessen eine Pattsituation entwickelt. Die Kriegshandlungen waren zum Erliegen gekommen, was immer stärker an Umstände aus dem Ersten Weltkrieg erinnerte, da sich beide Seiten verschanzten und schwer befestigte Positionen besetzten, um von dort aus überschaubare Angriffe zu lancieren, die auf strategischer Ebene wenig brachten, sodass letztendlich keine Partei die Oberhand gewann.

Der technologisch fortgeschrittene Westen besaß keinerlei Ressourcen, um einen andauernden Krieg im Mittleren Osten zu führen. Zu Anfang war es gut gelaufen und es hatte so ausgesehen, als könnten die amerikanischen und britischen Armeen gemeinsam mit beschränkter Hilfe französischer und deutscher Truppen einen weiteren leichten schnellen Sieg gegen die konventionellen Einheiten des Iran erringen. Danach hätte man wie im Irak mit vorausgesehenen Aufständen fertig werden müssen, doch Großbritannien und die USA waren zu glauben geneigt gewesen, angemessen für diese Eventualität gewappnet zu sein.

Dass sich der iranische Widerstand allerdings deutlich stärker gezeigt hatte als das, was zuvor vom Nachbarn Irak aufgebracht worden war, hatte den Armeen des Westens deshalb umgehend Schwierigkeiten bereitet. Der Feind war mit ähnlichen Waffen auf dem neuesten Stand der Technik zur Gegenwehr geschritten, die Osteuropa sowie China zur Verfügung gestellt hatten, und setzten sie so geschickt und strategisch wirksam ein, wie die Invasoren.

Die Eroberung des Iraks war relativ leicht vonstattengegangen, da die Kommandanten dort keine umfassende dreidimensionale Perspektive hatten einnehmen können, um ihren Mangel an hoch entwickelten Waffen zu kompensieren. Ihre Infrastruktur war infolge von Sanktionen im Laufe der Jahre in Mitleidenschaft gezogen worden und die Armee bereits demoralisiert gewesen.

Im Iran sah der Fall aber anders aus.

Die Soldaten des Landes erwiesen sich als deutlich schwerere Kaliber, während ihre Befehlshaber äußerst gut ausgebildet und erfahren in der Kunst der Kriegsführung waren. Sie verfügten über bessere Panzer und Waffen, ganz zu schweigen von ihren Piloten, die mehr auf dem Kasten hatten als jene im Irak. Nach Beginn der Invasion hatten sich die Luftschläge der Alliierten als ineffektiv herausgestellt. Wegen der zusammengezogenen und extrem wirksamen Luftabwehrsysteme des Gegners waren viele Fernlenkraketen und bemannte Flugzeuge einfach abgeschossen worden, bevor sie ihre Ziele überhaupt erreicht hatten.

Am Ende war der Westen gezwungen gewesen, weiter vorzustoßen, ohne die vollständige Lufthoheit zu erlangen.

Bald darauf waren die Bestände technisch überlegener Kampfmittel knapp geworden, auf welche die britischen und amerikanischen Streitkräfte so fest vertraut hatten, sodass sich die Bodentruppen nur noch auf ihre Fähigkeiten als Soldaten berufen konnten. So hatten sich ein Zermürbungskrieg und eine politische Katastrophe ergeben, in deren Rahmen immer mehr Leichensäcke in die Heimat gebracht worden waren, darin die Gebeine gefallener Söhne, Väter und Brüder, die in Kriegen gefochten hatten, mit welchen die Mehrheit der Bevölkerung gar nicht einverstanden gewesen war.

Die Alliierten trugen mehrere Kriege aus, verdingten sich an vielen Fronten, und die Lage entwickelte sich beileibe nicht so, wie es ihnen vorschwebte. In den Medien fiel häufig das Schlagwort »Atomangriff«, und nicht wenige Menschen befürchteten, dass die Welt am Rande der Apokalypse stand.

Dass alles war für die Mitglieder des Teams ein mehr oder weniger alter Hut, doch als sich die Experten in den Laborkitteln nach vorn begeben und angefangen hatten, die Situation aus der Sicht der Weltgesundheitsorganisation WHO zu schildern, waren Stan und seine Kollegen auf eine erheblich größere und eventuell verheerendere Bedrohung aufmerksam gemacht worden.

Eine, von der sie nicht einmal gedacht hätten, dass sie existieren könnte.

Sie alle kannten die Nachrichtenbilder aus Südamerika und Afrika von Hungersnöten und Seuchen, also stellte dies nichts Neues für sie dar. Die Dritte Welt litt immerzu, während man in der Ersten fett wurde und es sich weiterhin gut gehen ließ. Was die Männer allerdings wirklich frappierend fanden, waren die weitreichenden Verwicklungen des Ganzen sowie die Ähnlichkeit der Leiden und Konsequenzen für die Betroffenen, sei es gesellschaftlicher oder wirtschaftlicher Art. Obwohl ein Weltmeer zwischen beiden Kontinenten lag, glichen ihre Probleme einander und waren nahezu identisch.

Ganze Klein- und Großstädte waren von einem unergründlichen Virus verödet worden, und die Autoritäten hatten sich verbissen darum bemüht, dies nicht an die Öffentlichkeit sickern zu lassen.

Die »Fachtrottel in Weiß«, wie Bull sie nannte, beschrieben die Krankheit als eine äußerst tödliche Abart der Grippe, aber mehr Details waren ihnen nicht zugekommen.

Ein Arzt namens Joseph Warren hatte in den Dörfern von Sierra Leone östlich von Freetown nachgeforscht, woher das Virus seiner Meinung nach rührte, und gehofft, dabei auch den Indexpatienten zu finden, egal, ob tot oder lebendig, doch niemand konnte sich bisher erklären, wie die Krankheit über den Atlantik gewandert sein konnte, um schließlich Südamerika genauso fest in Beschlag zu nehmen.

Der Wissenschaftler war vor knapp zwei Wochen gemeinsam mit einer Gruppe britischer Soldaten, die ihn hatten beschützen sollen, verschollen und seitdem fehlte jedwede Spur von ihnen. Die Regierung von Sierra Leone hatte einen Bericht mit Bildern eines Massakers in einem Dorf gesendet, doch ob der Arzt wirklich zu den Toten zählte, blieb weiterhin unklar.

»Also, warum schickt ihr uns?«, hatte Stan wissen wollen. »Das ist doch wohl eine einfache Operation – suchen und retten –, die jede gewöhnliche Armee-Einheit und sogar der SAS selbst erledigen könnte, wenn ihr denen mal den roten Teppich ausrollen würdet.«

»Dr. Warren gilt momentan als die führende Kapazität in diesem speziellen Bereich, und ihn oder zumindest seine Aufzeichnungen zu bergen ist deshalb von wesentlicher Bedeutung«, hatte Gerry ihnen erklärt. »Außerdem gibt es sonst niemanden. Falls du es noch nicht bemerkt haben solltest, unsere Armee geht im Augenblick ziemlich auf dem Zahnfleisch.«

Daraufhin war einer der »Fachtrottel« vorgetreten.

»Wir gehen davon aus, dass der Doktor kurz vor einer Entdeckung gestanden hat, und benötigen deshalb dringend seine Erkenntnisse und seine Forschungsarbeiten direkt von der Quelle.«

»Hat das irgendetwas mit dem Dorf in Syrien zu tun?«, hatte Stan nachgefragt. »Hat sich das Virus von Afrika aus in den Mittleren Osten ausgebreitet?« Endlich kam er dazu, jemanden festzunageln, um vielleicht ein paar Antworten zu erhalten.

Er hatte gehofft, wenigstens ihre Reaktion sehen und sich selbst ein Urteil über die Angelegenheit bilden zu können, eigene Schlüsse über das Ausmaß des Problems ziehen zu können.

Die »Fachtrottel« hatten allerdings nur nervöse Blicke gewechselt und keiner von ihnen war offenbar willens, die Diskussion in die von Stan angestrebte Richtung fortzusetzen.

Folglich war die Gruppe auf Gerry zurückgekommen, um dort Beistand zu erhalten.

»Im Moment ist es dringend nötig, dass wir Einzelheiten herausfinden, Stan. Wenn ihr zurückkommt und falls ihr den Doc gefunden haben solltet, stehen hoffentlich mehr Infos bereit«, hatte Gerry entgegnet und somit den befangenen Wissenschaftlern noch in die Hände gespielt.

Stan hatte nur genickt; jene letzte Phrase war ihm schon unzählige Male zu Ohren gekommen.

»Du und die Jungs, ihr werdet in diesem Fall als herkömmliche Soldaten aufbrechen, Stan«, hatte Gerry verkündet, als sie am Ende der Besprechung angelangt waren. »Waffen und Ausrüstung bekommt ihr, sobald wir sie aufgetrieben haben. Dazu ziehen wir den Quartermaster von Hereford hinzu; die sind so nett und lassen uns quasi mit dem Einkaufswagen durch ihre Lager pflügen.«

An diesem Punkt hatten sie dann mit der detaillierten Planung ihrer Mission begonnen, alle Fakten abgeglichen, die ihnen in die Hände gefallen waren, Karten und Luftbilder durchgesehen und die politische Lage und die Rebellengruppen eruiert, die als potenzielle Verantwortliche für das Verschwinden des Doktors und der Soldaten infrage kamen.

Vier der Leichen in dem Dorf waren laut Bericht westlicher Herkunft, und man nahm an, dass sie der britischen Eskorte des Forschers angehört hatten. Die anderen Toten waren so weit verbrannt oder derart rapide verwest, dass man ihre DNS hätte analysieren müssen, bevor man sie in irgendeiner Weise identifizieren könnte.

Wenn das Team auch sonst nicht viel in den Händen hatte, hatte es zumindest einen Ausgangspunkt für seine Suche …

»Zwei Minuten«, brüllte Stan, so laut er konnte gegen den Lärm des Helikopters an. Er streckte eine Hand aus und zeigte ihnen allen zwei Finger, um sicherzugehen, dass auch jeder ihn verstanden hatte.

Sie nickten zur Bestätigung, dass die Information angekommen war, und begannen anschließend, ihren Aufbruch vorzubereiten. Dazu legten sie ihre Sicherheitsgurte ab, vergewisserten sich, dass nichts aus ihren Taschen fallen konnte, spannten ihre Gewehre oder Maschinenpistolen und luden sie durch, damit sie sofort wehrhaft waren, falls sich die Landezone als Brennpunkt erweisen sollte.

Danach stellten sich die Männer an den Türen zu beiden Seiten auf, um hinauszuspringen, sobald der Hubschrauber den Boden berührte, und dann auszuschwärmen.

Als der Black Hawk die Geschwindigkeit drosselte, drehte er nach links ab und fing an, das Areal in einer 360-Grad-Drehung zu sondieren.

Unter ihnen gerieten nun die Ruinen des Dorfes in Sicht.

Nach Westen hin mäanderte der Fluss dicht an den bewaldeten Gebirgsausläufern entlang durch grasbewachsene Felder. Eine Straße, wenig mehr als eine Fahrbahn aus rotem Sand, führte aus dem Dschungel und teilte die kleine Gemeinde in zwei Hälften. Links und rechts davon standen nun die zerstörten, schwarzen Reste von Lehmziegelhütten – einst Häuser der Familien, die hier das Land bestellt hatten, jetzt aber verlassen und unbelebt, die Dächer entweder eingestürzt oder abgebrannt, die Besitzer niedergemetzelt.

Tierkadaver – aufgequollene, von Insekten umschwärmte Körper – lagen vereinzelt an den Rändern der Straße und wurden allmählich verzehrt, bis nur noch die Knochen übrig bleiben würden.

Danny fand sofort Belege dafür, dass hier ein Gefecht stattgefunden hatte und nicht nur ein Massaker. Mehrere zurückgelassene Lastwagen standen demoliert und bis auf die Fahrgestelle verbrannt im Außenbereich. Sie waren offenbar während des Vorstoßes der Rebellen zum Dorf auf der Straße unterwegs gewesen und dann zerstört worden. Der Boden rings um die Wracks herum war versengt, Metallsplitter und haufenweise Glasscherben lagen im weiten Umkreis verstreut.

Er wusste, das Einzige, was Trümmerteile so großflächig streuen konnte, war die Explosion von Sprengkörpern. Entflammte Treibstofftanks führten nämlich nicht dazu, dass sich Metallrahmen verbogen oder brachen und Fensterscheiben nach außen platzten. Vermutlich waren sie eher von den 40mm-Granatwerfern an den Waffen der britischen Soldaten getroffen worden.

Nachdem der Helikopter seinen Kreis gezogen hatte, näherte er sich noch weiter, sodass die Kampfspuren immer augenscheinlicher wurden: Eine Menge leerer Messinghülsen, die im Sand verteilt und zwischen den niedrigen Gebäuden lagen, ließen sich funkelnd im Sonnenlicht erkennen. Umgefallenes Mauerwerk und kleine Krater kennzeichneten die Stellen, an denen Granaten eingeschlagen waren. Löcher, wo Maschinenpistolen- und Gewehrkugeln Steine und Stahlblech durchbohrt hatten, zogen sich über die Wände entlang, die der vollständigen Zerstörung entgangen waren.

Der Pilot bremste nun weiter ab, bis der Black Hawk nur noch schwebte, und setzte anschließend zur Landung an. Sein Abwind drückte das lange Gras in einem weiten Bereich unter dem Helikopter platt, und als sie eine Höhe von nur noch zwei Metern über der Erde erreicht hatten, gab Stan den Sprungbefehl.

Sie hüpften alle gleichzeitig aus den beiden Türen und stürzten sofort vorwärts, um eine Verteidigungslinie rings um den Landeplatz zu bilden. Als der Pilot den Winkel der Rotoren angepasst hatte, erhob sich die Maschine wieder in die Luft, wobei der Motor laut aufheulte, weil er den Schub erhöhte und immer weiter aufstieg. Die acht Mann blieben am Boden zurück und waren nun auf sich allein gestellt.

Während der Lärm des Hubschraubers langsam abebbte, bewegten sich Stan und sein Team keinen Millimeter und schwiegen. Sie behielten ihre Defensivstellung bei, während sich ihre Sinne allmählich an die neue Umgebung gewöhnten. Wie immer warteten sie ein paar Minuten, bis sich ihr Gehör der Stille der freien Natur angepasst hatte, das Gegenteil zu dem lauten Maschinenlärm im Inneren des Helikopters.

Mit einem Nicken gab Stan ihnen zu verstehen, dass Danny die Führung in der Mitte des verwüsteten Dorfs übernehmen sollte.

Wohin sie auch schauten, konnten sie Einblicke in den Schrecken gewinnen, der die Bewohner heimgesucht hatte.

Die Gruppe trennte sich nun und streifte paarweise durch den Ort, um nach eventuellen Spuren des Arztes und der Soldaten zu suchen.

»Nichts«, meldete Marty Stan schließlich, nachdem sie das Gelände sorgfältig durchstreift hatten. »Nichts deutet darauf hin, dass sie hier waren. Es gibt literweise Blut und ein paar Stellen, an denen sich möglicherweise Bewaffnete gewehrt haben, aber es gibt keinerlei Belege dafür, wohin sie danach verschwunden sind.«

Danny blieb kurz stehen, hob eine goldfarbene Hülse von dem staubigen Boden auf und hielt sie ins Sonnenlicht, um sie genauer betrachten zu können. Er erkannte das Kaliber sofort.

»Ich glaube, das hier ist der richtige Ort, um damit zu beginnen, Stan«, sagte er, während er sich umdrehte. Anschließend gab er die verschossene Patrone seinem Anführer.

»Fünf-Komma-fünf-sechs«, sprach Stan leise, während er sie untersuchte.

Die Rebellen setzten, so wie viele andere Armeen und die meisten Milizen auf der Welt hauptsächlich Kalaschnikow-Sturmgewehre und andere Schusswaffen aus osteuropäischer Fertigung ein, die mit 7,62mm-Geschossen bestückt wurden. Nur westliche Heere griffen auf 5,56mm-Patronen zurück.

»Nach Osten führen viele Spuren vom Dorf weg, Fahrzeuge und Personen zu Fuß«, berichtete ihnen nun Taff, als er sich zum Rest des Teams gesellte. »Entweder haben die Rebellen die Einwohner als Gefangene abgeführt, oder sie sind den Lastwagen aus irgendeinem seltsamen Grund gefolgt, sobald diese losfuhren.«

Bull schüttelte den Kopf. »Das ergibt doch überhaupt keinen Sinn, Taff. Warum hätten die Dorfleute den Schweinen denn noch nachlaufen wollen, von denen sie kurz zuvor angegriffen worden sind.«

Taff zuckte mit den Achseln. »Frag mich nicht, Mann, ich mache hier nur meine Arbeit.«

Davon abgesehen, dass er der Stellvertreter des kommandierenden Offiziers war – 2ic abgekürzt –, galt Taff auch als versierter Fährtenleser des Teams. Er schöpfte erstaunliche Informationen aus allen möglichen Arten von Spuren und konnte Terrains auf eine Weise absuchen, die sonst niemand beherrschte. Dabei unterschied er Spuren abhängig davon, ob sie sich unter- oder oberhalb des menschlichen Fußgelenks befanden, und konnte eine Vielzahl von Schlüssen aus etwas Schlichtem wie einem einzigen Fußabdruck oder einem abgebrochenen Zweig ziehen.

Mit seinem kleinen Wuchs und dem breiten Körper war er ein idealer Rugby-Spieler für die Army gewesen, und als Waliser begeisterte es ihn, Lieder über die grünen Täler und hohen Berge seiner Heimat zu singen. Das einzig Dumme dabei? Er traf keinen Ton richtig.

Auf dem Weg nach Osten hielten sie sich immer parallel zur Straße und blieben zur Deckung die ganze Zeit zwischen den Bäumen. Ihr Streifzug zum Lager der Rebellen, das sie auf dem Satellitenbild gesehen hatten, dauerte den ganzen Tag.

Es lag versteckt in einer weitläufigen Bodensenke, umgeben von dichtem Urwald, der es vor neugierigen Blicken schützte. Von der Luft aus betrachtet blieb jedoch nichts verborgen, und umso weniger, wenn man gezielt danach suchte.

Sie hatten die Stärke der Gruppe auf vierzig bis sechzig Mann geschätzt. Auf dem Foto war eine Reihe von Wachtürmen erkennbar gewesen, doch was weitere Abwehranlagen betraf, konnten sie sich nicht hundertprozentig sicher sein. Das Team musste also Zielaufklärung aus der Nähe betreiben, CTR für Close Target Reconnaissance, um die Zahl seiner Gegner und Verteidigungsmaßnahmen zu bestätigen, Abläufe zu beobachten und herauszufinden, ob der Doktor dort festgehalten wurde; erst dann kam eine genaue Planung infrage. Bis sie damit fertig waren, konnten locker mehrere Tage vergehen, und das Team musste sich deshalb einen Unterschlupf einrichten, eine Lying up Position oder LUP, um von dort aus operieren zu können.

Sie eilten weiter, schweißgebadet und geplagt von unzähligen Moskitos, die pausenlos herumschwirrten und es auf ihr Fleisch abgesehen hatten. Die Luftfeuchtigkeit betrug mittlerweile fünfundsiebzig Prozent, was sich für die Männer so anfühlte, als würden sie durch eine begehbare Sauna streifen.

Dass sie aus der Kälte in Syrien ohne vorherige Akklimatisierung in der intensiven Hitze des Dschungels gelandet waren, rächte sich nun.

In der Regel blieben sie alle paar hundert Meter stehen und überprüften, ob sie noch dem richtigen Weg folgten, wobei sie die Gelegenheit nutzten, um kurz durchzuatmen und dringend notwendige Flüssigkeit zu tanken, die ihre Körper bei den hohen Temperaturen in Afrika rapide verbrauchten.

Während eines solchen Halts kehrte auch Taff zurück, nachdem er den Pfad begutachtet hatte, und schüttelte mit unverständigem Blick den Kopf.

»Das ist total unlogisch«, begann er verwirrt. »Die Spuren sehen wirklich merkwürdig aus, Stan. Es müssen Dutzende sein, und sie ziehen sich alle die Straße entlang, und zwar gemeinsam.«

»Und was ist daran so merkwürdig?«

Taff zuckte wieder mit den Achseln.

»Na ja, entweder muss ich meine Kenntnisse als Fährtenleser dringend auffrischen, oder … die Leute, denen wir folgen, sind alle sturzbetrunken.« Er kratzte sich am Kopf. »Anhand ihrer Fußabdrücke könnte man meinen, sie hätten sich mit Wodka volllaufen lassen.«

Drei Stunden vor Einbruch der Dunkelheit suchten sie sich schließlich ein Areal aus, das nur einen Kilometer weit von der vermutlichen Position des Rebellenverstecks lag. Stan führte sie in den vorgesehenen Unterschlupf und vergewisserte sich danach, dass man den Bereich, für den Fall, dass ein Angriff erfolgte, auch gut verteidigen konnte. Während er ihre exakte Position bestätigte, führten die anderen Kontrollgänge durch, auf denen sie hundert Meter vorstießen, um sicherzugehen, dass sie nicht beobachtet wurden oder einen Platz in der Nähe eines Fahr- oder natürlichen Fußwegs gewählt hatten, auf dem jederzeit Personen vorbeikommen konnten.

Als Nächstes war es wichtig, visuelle Eindrücke vom Lager des Gegners zu sammeln. Danach sollten sie beim ersten Tageslicht in der Lage sein, mit ihrer Erkundung zu beginnen.

Sich nachts im Dschungel fortzubewegen stand nämlich nicht zur Debatte. Die Dunkelheit war so schwarz wie die Lunge eines Kettenrauchers, und während der Stunden ohne Licht bestand vor allem die Gefahr, sich zu verirren oder zu verletzen.

Taff und Brian erhielten die Anweisung zum Vorstoß, um das Gebiet vorab auszukundschaften.

In der Zwischenzeit ging der Rest von ihnen dazu über, sich zu organisieren, indem sie ihre Betriebsmittel checkten, und etwas zu Essen zu sich nahmen.

»Teufel auch«, meinte Bull, bevor er sich einen Bissen Lancashire Hotpot in den Mund schob. »Da fühlt man sich doch direkt wieder wie damals in der Army.«

Nick, der auf einem Wachposten hinter seinem MG hockte, grinste ihn an.

»Nö, ist eher so wie Camping; alles ziemlich spaßig, Kumpel.«

 

Kapitel 11


Er sah nichts. Geistlos starrte er nach vorn, sein Blick war verschwommen, und er achtete weder auf sich noch auf seine Umgebung. Ein nicht ganz durchsichtiger, milchiger Film zog sich über seine einst strahlend blauen Regenbogenhäute, sodass sie nur noch an glanzlose matte, schwarze Punkte erinnerten. Ein dicker Faden aus geronnenem Blut und Speichel hing von seinen bleichen runzligen Lippen und pendelte hin und her, während er durch den geschlossenen Raum taumelte.

Plötzlich hielt sein Körper inne, und sein eingefallenes Gesicht blickte langsam auf, als er eine Bewegung ganz in der Nähe wahrnahm. Er wurde wieder aktiver und zog die Lippen von seinen Zähnen zurück, als er eine andere Person im Raum wahrnahm.

Gedehnt stöhnend streckte er sich nach dem Mann vor ihm aus und stürzte sich dann auf ihn. Der andere näherte sich ebenfalls schnellen Schrittes.

Als die beiden gegeneinanderstießen, hallte es dumpf von den Wänden wider, wobei er zurückgeworfen wurde und rücklings auf den Boden fiel.

Rasch raffte er sich wieder auf und setzte erneut zum Sturm auf sein Spiegelbild an. Abermals knallte er fest mit dem Kopf gegen den Widerstand, woraufhin ein deutlicher Fleck aus Blut und Fett zurückblieb, wo sein Schädel auf das drei Zentimeter dicke Panzerglas getroffen war.

Voller Frust knurrte er, mahlte mit den Zähnen und trommelte mit seinen Fäusten gegen den einseitigen Spiegel und fuhr mit seinen abgebrochenen Fingernägeln darüber; ein sinnloser Versuch, ihn zu durchdringen. Endlich, als habe ihm sein schwindender Verstand etwas eingeflüstert, beruhigte er sich wieder und strengte sich nicht weiter an, den Mann zu ergreifen, der von der Scheibe auf ihn schaute. Stattdessen blieb er stehen, starrte ihn schwankend an und grunzte dabei, bis er schließlich das Interesse verlor.

Bobby blieb dicht hinter dem Glas stehen und beobachtete die Erscheinung auf der anderen Seite. Sie sah zwar aus wie Nick, doch er war trotzdem außerstande, die Gestalt vor ihm wiederzuerkennen. Der graue Teint und die abgehärmten Züge ähnelten in keiner Weise dem immerzu grinsenden und rundlichen Gesicht des lauten, charismatischen Mannes aus Newcastle.