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Die großen Western
– 182 –

Das Gesetz war stärker

John Gray

Impressum:

Epub-Version © 2019 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74091-413-4

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Über den Fluß sank die Dämmerung. Leise schlugen die Wellen des Flusses an den Rumpf des flachen Fährkahns. Der leichte Abendwind wehte unvermittelt den Klang von Schüssen aus der Ferne heran. Die Detonationen verhallten in der Ebene. Der Fährmann am Bug des Kahns hob den Kopf und lauschte angespannt. Doch es war bereits wieder still. Fröstelnd zog der Fährmann die kräftigen Schultern hoch. Auf den Bohlen des Stegs waren Schritte zu hören. Der Fährmann blickte sich nicht um. Ein Mann trat neben das Boot.

»Es ist geschossen worden, Vater.«

»Ich habe es gehört.«

»Das heißt, daß du dich beeilen mußt, Vater, das Aufgebot ist dicht hinter ihnen«, sagte der andere.

»Wir haben es bis jetzt noch immer geschafft. Diesmal wird es nicht anders sein.« Der Fährmann richtete sich jetzt auf und wandte sich um. »Geh zum Haus«, sagte er.

Dann klang plötzlich Hufschlag durch die Dunkelheit, dumpf und monoton. Reiter näherten sich.

Auf einem Hügel, unweit der Fährstation, flackerte jetzt eine Fackel auf. Der Fährmann löste die Halteleine des Kahns. Als er wieder nach Süden blickte, sah er die Reiter wie dahinfliegende Schattenrisse aus der Nacht auftauchen.

Der Sohn des Fährmanns hastete mit großen Sätzen zum Haus. Der Alte blickte ihm nach, zog die Schultern hoch und fröstelte wieder.

Er war groß und breit, und auf seinem starken Rücken ruhte die Last von fast sechzig harten Jahren. Er hatte gelernt, daß in diesem Land der Stärkere recht hatte, auch wenn er im Unrecht war. Und weil er das gut gelernt hatte, lebte er noch. Sein Haar war grau wie erkaltete Asche, und hager war er wie ein Geier. Jetzt winkte er den herangaloppierenden schemenhaften Gestalten zu.

Die Reiter erreichten den Fluß. Sie sprengten über den Steg und lenkten ihre Pferde auf den flachen Kahn. Hohl und dröhnend klangen die Hufe auf den Planken.

»Vorwärts«, zischte einer der Schattenreiter, »beeil dich!«

Der Fährmann stemmte sich gegen das Ruder. Seine schwieligen Fäuste spannten sich wie Eisenklammern um das Holz. Seine Muskeln strafften sich. Langsam setzte sich das Boot in Bewegung.

Nervöses Schweigen herrschte unter den Männern. Rasch glitt der Kahn auf den Fluß hinaus und tauchte in der Nacht unter.

Die Fähre überquerte eine Grenze: Am Südufer des Red River lag Texas, am Nordufer lag Oklahoma, das Territorium der Indianer. Hier gab es kein Gesetz.

Der Kahn schleifte mit dem Kiel knirschend über den Sand des flachen Uferbetts. Er stieß an den Steg. Die Männer trieben augenblicklich ihre Pferde an Land und waren damit bereits in Oklahoma, dem Land der Gesetzlosen.

»Hier, nimm!« Einer drückte dem Alten im Kahn einen Ledersack in die schwielige Hand. Der Fährmann antwortete nicht. Er bückte sich und verstaute den Sack in dem Kasten am Heck unter der Ruderbank. Dann stieß er sich vom Ufer ab. Der große Stahlbügel, der den Kahn mit einem Drahtseil verband, das quer über den Fluß gespannt war, schepperte leise.

Am Oklahoma-Ufer, hinter dem Mann, verhallte der Hufschlag der Reiter, die wie ein Spuk in der Nacht verschwanden.

Der Alte ruderte schnell und kraftvoll. Für lange Minuten war er allein auf dem Fluß und sah kein Ufer, denn die Dunkelheit war zu dicht.

Dann tauchte das Texas-Ufer wieder vor ihm auf. Der Grauhaarige zog das Ruder ein. Der Kahn glitt auf den Anlegesteg zu und prallte mit dumpfem Geräusch dagegen. Der Fährmann bückte sich, hob die Halteleine und warf sie an Land.

Auf dem Steg stand plötzlich ein Mann mit einer Laterne. Er trug einen langen schattengrauen Staubmantel. »Komm, Vater, schnell!«

Der Alte nickte. Der Mann auf dem Steg vertäute die Halteleine und half dem Vater an Land. Dann rannten beide zum Haus. Der Jüngere löschte die Laterne. Er stieß die Tür auf, die Männer traten ein.

Ein paar Sekunden später tauchten auf den Hügeln in kaum hundert Yard Entfernung erneut Reiter auf. Sie sprengten durch die Nacht. Sie waren müde, aber sie ritten schnell und waren von Zorn erfüllt. Denn sie wußten schon jetzt, daß sie zu spät kamen. Trotzdem hielten sie nicht an, sondern lenkten ihre Pferde auf die Fährstation am Fluß zu.

Krachend fiel dort die Tür des Hauses ins Schloß. Alles blieb still, bis das donnernde Hufgetrappel der Reiter die Ruhe durchbrach.

Sie ritten über den Hof der Station. Sie waren neun und bildeten eine breite Front. Der Staub des harten Ritts lag auf ihnen.

Ein Mann mit breiten Schultern glitt aus dem Sattel. Er maß sechs Fuß und zwei Zoll. Auf seiner braunen Cordjacke glitzerte matt ein sechszackiger Stern.

Breitbeinig stand er neben seinem Pferd, wuchtig und stark, erfüllt von geballter Entschlossenheit. Seine Blicke glitten über den Hof, dann wandte er den Kopf und schaute auf den Strom hinaus. Am Steg lag der Fährkahn vertäut. Seine Augen verengten sich.

Die Tür des Stationshauses flog auf. Das Licht einer Laterne flackerte trübe. Unvollständig angezogen trat ein Mann über die Schwelle. Abwartend blieb er stehen.

»Sheriff?« Gary Ryan hob die Laterne ein Stück an. Er war groß und kräftig und vielleicht Mitte Zwanzig. Er trug nichts außer seiner Jeans. Sein bloßer Oberkörper war muskulös und sehnig. Um die schmalen Hüften wand sich ein Patronengurt.

Der Mann mit dem Stern antwortete nicht. Er ging zwei Schritte auf den jüngeren Sohn des Fährmanns zu. Seine Haltung straffte sich. Die Züge seines Gesichts verhärteten sich, seine Augen glitzerten kalt.

»Wer ist noch hier? Wer ist noch im Haus?« fragte er.

Der andere antwortete: »Niemand außer uns. Wer sollte sonst hier sein? Suchen Sie schon wieder nach Banditen, Sheriff?« Gary Ryan lachte spöttisch. »Geben Sie nur acht, daß Sie sich nicht eines Tages selbst verhaften, Sheriff McClusky.«

»Es waren Männer hier, Gary. Und vielleicht sind sie noch hier. Wir haben sie verfolgt. Sie können sich nicht in Luft aufgelöst haben. Es hat keinen Sinn, daß du lügst.« Das Gesicht des Sheriffs war wie versteinert. »In Arthur City wurde die Wells-Fargo-Agentur überfallen«, preßte er hervor. »Ein Mann wurde getötet: Flint Matlock, der Agent. Er war verheiratet und hatte drei Kinder. Aber das wißt ihr wahrscheinlich besser als ich.«

Hinter dem jungen Burschen erschien jetzt die wuchtige Gestalt des Fährmanns. Abraham Ryan hatte eine Maiskolbenpfeife zwischen den blutleeren Lippen. Er blickte den Sheriff höhnisch an. Breitbeinig blieb er stehen.

»Was wollen Sie, Sheriff? Sie wecken uns mitten in der Nacht auf? Wir hatten schon geschlafen, und…«

»Schluß mit dem Gerede, Ryan! Sie sind hellwach, und ich werde jetzt in Ihrem Haus nachsehen, wo die Kerle stecken.«

»Was für Kerle, Sheriff McClusky?« fragte Gary Ryan abweisend. »Von wem sprechen Sie?«

Die Männer des Aufgebots wurden unruhig. Sie beugten sich drohend in den Sätteln vor.

»Es waren Männer hier, Gary«, wiederholte der Sheriff. »Ich werde am Tag die Spuren finden. Und jetzt werde ich alles durchsuchen. Ich hätte das schon früher tun sollen. Jetzt wimmelt mich niemand mehr ab.«

»Sicher waren Männer hier, Sheriff.« Der junge Mann grinste breit. »Den ganzen Tag über sind Männer gekommen, die über den Red River wollten. Sie werden viele Spuren finden, Sheriff, wenn es erst hell geworden ist.«

Jim McClusky antwortete nicht darauf. Er setzte sich in Bewegung und stampfte zornig auf die Haustür zu.

»Halt, Sheriff!«

Die Worte peitschten über den Hof wie ein Karabinerschuß. Ein dritter Mann schob sich aus der Tür. Scheinbar locker lehnte er sich gegen den Türrahmen, aber seine Haltung war angespannt.

Die Männer des Aufgebots rissen die Gewehre aus den Sattelscabbards und richteten sie auf die Ryans. Für Sekunden sah es so aus, als würde ein Kampf losbrechen.

»Ich würde an eurer Stelle nicht schießen«, sagte Hank Ryan. Der ältere der Söhne stieß sich vom Türrahmen ab und trat neben seinen jüngeren Bruder. »Es wäre Mord, wenn ihr schießen würdet.«

»Und was war das, was die verfluchten Banditen in Arthur City mit Flint Matlock gemacht haben, he?« schrie einer der Männer des Aufgebots. »Hat Flint sich etwa totgelacht, wie? Erschossen haben sie ihn, ermordet, einfach erschossen, hört ihr?«

»Wir kennen die Männer nicht, die in Arthur City Flint Matlock ermordet haben«, erwiderte Hank Ryan kühl. »Wir kennen die Männer nicht, hinter denen ihr her seid. Wir wissen von gar nichts.«

»Ihr Ryans wißt ja nie etwas!« schrie ein anderer von den Pferden her. Es war ein vierschrötiger, stiernackiger Mann mit einem offenen Farmergesicht. Er warf jetzt den Repetierbügel seiner Winchester 73 herum. »Ihr seid die reinsten Engel, ihr Ryans! Unschuldslämmer und ehrliche Christenmenschen, wie? Ich sage Ihnen, Sheriff, wenn man dieses verdammte Banditennest am Fluß einmal gründlich ausräuchern würde, so daß von der ganzen Ryan-Brut nichts mehr übrigbliebe, würde es weniger Überfälle an der Grenze geben!«

Die anderen nickten zustimmend. Sie krampften die Fäuste um ihre Gewehre und starrten verbissen auf die Männer im Hof. Der Sheriff winkte ab und wandte sich wieder den Söhnen des Fährmanns zu.

»Du hörst, in welcher Stimmung die Leute sind, Hank«, Jim McCluskys Stimme klang leise und drohend. »Ich kann sie nicht halten, wenn sie die Nerven verlieren. Denn sie haben recht, seit Monaten kommt regelmäßig eine Bande von Halunken über den Red River und fällt über dieses County her. Jedesmal führen die Spuren zu euch, und hier scheinen die Kerle sich in Luft aufzulösen. Aber ihr wißt von nichts. Ich werde jetzt dieses Haus durchsuchen, Hank. Und niemand wird mich daran hindern.«

»Verschwinden Sie, Sheriff!« knurrte der Alte. Die Pfeife in seinem Mund war längst ausgegangen. Doch er zog noch immer heftig daran, und der Sheriff erkannte daran, daß Abe Ryan nervös war.

»Zur Seite!« befahl er barsch. Er wollte nicht länger warten. Die Ryan-Brüder rührten sich nicht. Jim McClusky wollte sie umgehen, aber Hank Ryan sprang ihm wieder in den Weg. Er stieß einen Fluch aus und knurrte unwillig. Seine Rechte fiel auf den Revolvergriff.

Jim McClusky schlug augenblicklich zu.

Seine Faust traf den älteren Sohn des Fährmanns, ehe dieser die Waffe aus dem Halfter reißen konnte. Die Unterlippe des Mannes platzte auf. Hank Ryan wurde aus dem Gleichgewicht gerissen. Er taumelte und warf haltsuchend die Arme in die Luft. Sein rechter Kinnwinkel schwoll an und färbte sich dunkel. Die Augen weiteten sich. Sein Bruder und der Alte standen wie gelähmt. Die Männer des Aufgebots hielten den Atem an.

Mit schwingenden Fäusten sprang der Sheriff Hank Ryan entgegen. Er sagte kein Wort, sondern holte nur aus und schlug abermals zu. Und hinter den Hieben lag die wilde Kraft des Zorns.

Hank Ryan wurde von den Beinen gerissen.

Sein Bruder schüttelte die Erstarrung ab und griff mit einem Wutschrei zum Colt. Ein Schuß krachte im selben Augenblick. Das Echo der Detonation hallte über den Fluß hinüber ins Indianerland. Fußlang war der Mündungsblitz, der wie eine Feuerblume aus einem Gewehrlauf stach. Die Kugel bohrte sich vor den Stiefelspitzen Gary Ryans in den Hof und schleuderte eine Staubfontäne gegen seine Hosenbeine. Der Junge zuckte zusammen und wurde steif wie ein Brett.

»Nur mit der Ruhe, Junge!« rief einer der Männer des Aufgebots. »Wirf deine Kanone weg! Ehe du dem Sheriff in den Rücken schießt, mußt du an uns denken!«

Gary Ryan ließ seinen Revolver fallen und hob die Hände. Sein Gesicht wirkte jetzt verkniffen.

»Also ein Überfall!« stieß er hervor. »Ein hundsgemeiner Überfall, ausgeübt von einem County Sheriff und einem vereidigten Aufgebot!«

»Mach dich nicht lächerlich!« Jim McClusky ging an Abraham Ryan vorbei. Er sagte kein Wort mehr, als er das Haus betrat.

Im Gang hinter der Tür stand ein junges Mädchen. Als sie den Mann sah, zog sie ganz erschrocken ihr Nachthemd über der Brust fest zusammen. Sie lehnte sich an die Wand. Ihr Gesicht war nun blaß. Sie hatte Angst. Aber in ihren Zügen lag auch ein wenig Trotz. Es war Lilly Ryan, die Tochter des Fährmanns, und so hübsch sie auch war, sie war wie ihr Vater und ihre Brüder, und die waren schlecht. Jim McClusky musterte sie nur kurz.

»Sie haben natürlich auch keine Ahnung, nicht wahr, Miss Ryan? Sie haben tief und fest geschlafen.«

»So ist es, Sheriff McClusky«, gab sie spitz zurück.

»Ein so fester Schlaf ist an der Grenze nach Oklahoma lebensgefährlich, Miss Ryan. Wie leicht könnten Sie mal überfallen werden, und am Ende verschlafen Sie alles!« sagte er grimmig. Er ging an ihr vorbei durch den Aufenthaltsraum der Station. Er stieß alle Türen der Kammern auf, blickte unter Tische und Betten und stieg schließlich auch in den ersten Stock hinauf.

Er fand im ganzen Haus jedoch nicht, was er suchte. Und er fragte sich, wohin die Banditen wieder einmal so schnell verschwunden waren.

Fünf Überfälle hatte es in den letzten sechs Monaten im Denison County gegeben. Jim McClusky war der County Sheriff. Er hatte die Halunken gejagt… Jedesmal! Und immer hatte die Verfolgung der Banditen hier auf der Fährstation der Ryans geendet. Aber niemals hatte der Familie eine Verbindung zu den Halunken nachgewiesen werden können. Und so war es auch diesmal.

Jim McClusky wußte nicht, wie schnell ein geübter Fährmann den schweren Kahn über den Red River und wieder zurückbringen konnte. Er glaubte nicht, daß es so schnell ging, daß die Banditen immer schon verschwunden und ihre Helfer zurück im Haus sein konnten, wenn das Aufgebot erschien. Und weil er es nicht glaubte, dachte er nicht weiter darüber nach.

Schwerfällig stieg er die Treppe wieder hinunter. Im Aufenthaltsraum unten stand noch immer Lilly Ryan.

Ein schadenfrohes Lächeln umspielte ihre Lippen. In den kastanienbraunen Augen lag ein spöttisches Glitzern.

»Nun, haben Sie eine Banditenbande unter unseren Betten gefunden, Sheriff?« Sie warf den Kopf nach hinten. Eine Flut kastanienbrauner weicher Haare umrahmte ihr Gesicht und bedeckte ihre schmalen Schultern. Sie lachte höhnisch.

Er ballte die Hände.

»Ihnen wird das Lachen schon noch vergehen, Miss Ryan. Auch Frauen müssen ins Zuchthaus!«

»Warum sollte ich ins Zuchthaus müssen, Sheriff?«

Jim McClusky antwortete nicht. Er wirkte plötzlich müde. Schweigend trat er aus dem Haus.

»Nichts!« rief er seinen Leuten zu. »Durchsucht jetzt den Stall und die Scheune! Seht euch auch die Pferde an, ob sie vor kurzer Zeit geritten worden sind.«

Einige Männer glitten aus den Sätteln und eilten zu den beiden Gebäuden hinüber.