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Gerhart Hauptmann

Der Ketzer von Soana

Eine Novelle

Gerhart Hauptmann

Der Ketzer von Soana

Eine Novelle

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
1. Auflage, ISBN 978-3-954188-78-9

null-papier.de/417

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Inhaltsverzeichnis

Der Ket­zer von So­a­na

Die Er­zäh­lung des Berg­hir­ten

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1922

Der Ketzer von Soana

Rei­sen­de kön­nen den Weg zum Gip­fel des Mon­te Ge­ne­ro­so in Men­dri­sio an­tre­ten oder in Ca­po­la­go mit der Zahn­rad­bahn, oder von Me­li­de aus über So­a­na, wo er am be­schwer­lichs­ten ist. Das gan­ze Ge­biet ge­hört zum Tes­sin, ei­nem Kan­ton der Schweiz, des­sen Be­völ­ke­rung ita­lie­nisch ist.

In großer Höhe tra­fen Berg­stei­ger nicht sel­ten auf die Ge­stalt ei­nes bril­le­tra­gen­den Zie­gen­hir­ten, des­sen Äu­ße­res auch sonst auf­fäl­lig war. Das Ge­sicht ließ den Mann von Bil­dung er­ken­nen, trotz sei­ner ge­bräun­ten Haut. Er sah dem Bron­ze­bild­nis Jo­han­nes des Täu­fers, dem Wer­ke Do­na­tel­los im Dome zu Sie­na, nicht un­ähn­lich. Sein Haar war dun­kel und rin­gel­te über die brau­nen Schul­tern. Sein Kleid be­stand aus Zie­gen­fell.

Wenn ein Trupp Frem­der die­sem Men­schen nahe kam, so lach­ten be­reits die Berg­füh­rer. Oft wenn dann die Tou­ris­ten ihn sa­hen, bra­chen sie in ein un­ge­zo­ge­nes Ge­brüll oder in lau­te Her­aus­for­de­run­gen aus: Sie glaub­ten sich durch die Selt­sam­keit des An­blicks be­rech­tigt. Der Hir­te ach­te­te ih­rer nicht. Er pfleg­te nicht ein­mal den Kopf zu wen­den.

Alle Berg­füh­rer schie­nen im Grun­de mit ihm auf gu­tem Fuße zu stehn. Oft klet­ter­ten sie zu ihm hin­über und lie­ßen sich in ver­trau­li­che Un­ter­re­dun­gen ein. Wenn sie zu­rück­ka­men und von den Frem­den ge­fragt wur­den, was da für ein selt­sa­mer Hei­li­ger sei, ta­ten sie meist so lan­ge heim­lich, bis er aus Ge­sichts­wei­te war. Die­je­ni­gen Rei­sen­den aber, de­ren Neu­gier dann noch rege war, er­fuh­ren nun, daß die­ser Mensch eine dunkle Ge­schich­te habe und, als »der Ket­zer von So­a­na« vom Volks­mund be­zeich­net, ei­ner mit aber­gläu­bi­scher Furcht ge­misch­ten zwei­fel­haf­ten Ach­tung ge­nie­ße.

*

Als der Her­aus­ge­ber die­ser Blät­ter noch jung an Jah­ren war und das Glück hat­te, öf­ters herr­li­che Wo­chen in dem schö­nen So­a­na zu­zu­brin­gen, konn­te es nicht aus­blei­ben, daß er hin und wie­der den Ge­ne­ro­so be­stieg und auch ei­nes Ta­ges den so­ge­nann­ten »Ket­zer von So­a­na« zu se­hen be­kam. Den An­blick des Man­nes aber ver­gaß er nicht. Und nach­dem er al­ler­lei Wi­der­spre­chen­des über ihn er­kun­det hat­te, reif­te in ihm der Ent­schluß, ihn wie­der­zu­se­hen, ja, ihn ein­fach zu be­su­chen.

Der Her­aus­ge­ber wur­de in sei­ner Ab­sicht durch einen deut­schen Schwei­zer, den Arzt von So­a­na, be­stärkt, der ihm ver­si­cher­te, wie der Son­der­ling Be­su­che ge­bil­de­ter Leu­te nicht un­gern sehe. Er sel­ber hat­te ihn ein­mal be­sucht. »Ei­gent­lich soll­te ich ihm zür­nen«, sag­te er, »weil mir der Bur­sche ins Hand­werk pfuscht. Aber er wohnt so hoch in der Höhe, so weit ent­fernt, und wird Gott sei Dank nur von den we­ni­gen heim­lich um Rat ge­fragt, de­nen es nicht dar­auf an­käme, sich vom Teu­fel ku­rie­ren zu las­sen.« Der Arzt fuhr fort: »Sie müs­sen wis­sen, man glaubt im Volk, er habe sich dem Teu­fel ver­schrie­ben. Eine An­sicht, die von der Geist­lich­keit dar­um nicht be­strit­ten wird, weil sie von ihr aus­ge­gan­gen ist. Ur­sprüng­lich, sagt man, sei der Mann ei­nem bö­sen Zau­ber un­ter­le­gen, bis er dann selbst ein ver­stock­ter Bö­se­wicht und höl­li­scher Zau­be­rer ge­wor­den sei. Was mich be­trifft, ich habe we­der Klau­en, noch Hör­ner an ihm be­mer­ken kön­nen.«

*

An die Be­su­che bei dem wun­der­li­chen Men­schen er­in­nert sich der Her­aus­ge­ber noch ge­nau. Die Art der ers­ten Be­geg­nung war merk­wür­dig. Ein be­son­de­rer Um­stand gab ihr den Cha­rak­ter ei­ner Zu­fäl­lig­keit. An ei­ner stei­len Weg­stel­le fand sich näm­lich der Be­su­cher ei­ner hilf­los da­ste­hen­den Zie­gen­mut­ter ge­gen­über, die eben ein Lamm ge­wor­fen hat­te, und da­bei war, ein zwei­tes zu ge­bä­ren. Das ver­ein­sam­te Mut­ter­tier in sei­ner Not, das ihn furcht­los an­blick­te, als ob es sei­ne Hil­fe er­war­tet habe, das tie­fe Mys­te­ri­um der Ge­burt über­haupt in­mit­ten der über­ge­wal­ti­gen Fel­sen­wild­nis, mach­ten auf ihn den tiefs­ten Ein­druck. Er be­schleu­nig­te aber sei­nen Lauf, denn er schloß, daß die­ses Tier zur Her­de des Son­der­lings ge­hö­ren müs­se, und woll­te die­sen zu Hil­fe ru­fen. Er traf ihn un­ter sei­nen Zie­gen und Rin­dern an, er­zähl­te ihm, was er be­ob­ach­tet hat­te, und führ­te ihn zu der Ge­bä­ren­den, hin­ter der be­reits das zwei­te Zie­gen­lämm­chen, feucht und blu­tig, im Gra­se lag.

Mit der Si­cher­heit ei­nes Arz­tes, mit der scho­nen­den Lie­be des barm­her­zi­gen Sa­ma­ri­ters, ward nun das Tier von sei­nem Be­sit­zer be­han­delt. Nach­dem er eine ge­wis­se Zeit ab­ge­war­tet hat­te, nahm er je­des der Neu­ge­bo­re­nen un­ter einen Arm und trat lang­sam, von der ihr schwe­res Eu­ter fast schlei­fen­den Mut­ter ge­folgt, den Weg zu sei­ner Be­hau­sung an. Der Be­su­cher wur­de nicht nur mit dem freund­lichs­ten Dank be­dacht, son­dern auf eine un­wi­der­steh­li­che Art zum Mit­ge­hen ein­ge­la­den.

Der Son­der­ling hat­te meh­re­re Bau­lich­kei­ten auf der Alpe, die ihm ge­hör­te, er­rich­tet. Eine da­von glich äu­ßer­lich ei­nem ro­hen Stein­hau­fen. In­nen ent­hielt sie trock­ne und war­me Stal­lun­gen. Dort wur­den Zie­ge und Zick­lein un­ter­ge­bracht, wäh­rend der Be­su­cher zu ei­nem wei­ter oben ge­le­ge­nen, weiß ge­tünch­ten Wür­fel ge­lei­tet wur­de, der, an die Wand des Ge­ne­ro­so ge­lehnt, auf ei­ner mit Wein über­zo­ge­nen Ter­ras­se lag. Un­weit des Pfört­chens schoß aus dem Ber­ge ein arm­di­cker Was­ser­strahl, der eine ge­wal­ti­ge Stein­wan­ne füll­te, die man aus dem Fel­sen ge­mei­ßelt hat­te. Ne­ben die­ser Wan­ne wur­de durch eine ei­sen­be­schla­ge­ne Tür eine Berg­höh­le, wie sich bald er­wies, ein Keller­ge­wöl­be, ab­ge­schlos­sen.

*

Man hat­te von die­sem Platz, der, vom Tale aus ge­se­hen, in schein­bar un­zu­gäng­li­cher Höhe hing, einen herr­li­chen Blick, von dem der Ver­fas­ser in­des nicht re­den will. Da­mals frei­lich, als er ihn zu­erst ge­noß, fiel er von ei­nem sprach­lo­sen Stau­nen in lau­te Aus­ru­fe des Ent­zückens und wie­der in sprach­lo­ses Stau­nen zu­rück. Sein Wirt aber, der eben in die­sem Au­gen­blick aus der Be­hau­sung, wo er et­was ge­sucht hat­te, wie­der ins Freie trat, schi­en nun auf ein­mal mit lei­se­ren Soh­len zu ge­hen. Sol­ches Ver­hal­ten, so­wie über­haupt das gan­ze stil­le, ge­las­se­ne Be­tra­gen sei­nes Gast­freun­des ließ der Be­su­cher sich nicht ent­ge­hen. Es ward ihm zur Mah­nung, mit Wor­ten karg, mit Fra­gen gei­zig zu sein. Er lieb­te den wun­der­li­chen Sen­nen be­reits zu sehr, um Ge­fahr zu lau­fen, sich ihn durch einen blo­ßen Schein von Neu­gier oder Zu­dring­lich­keit zu ent­frem­den.

Noch sieht der Be­su­cher von da­mals den run­den Stein­tisch, der, von Bän­ken um­ge­ben, auf der Ter­ras­se stand. Er sieht ihn mit al­len gu­ten Din­gen, die der »Ket­zer von So­a­na« dar­auf aus­brei­te­te: dem herr­lichs­ten Strac­chi­no di Lec­co, köst­li­chem ita­lie­ni­schen Wei­zen­brot, Sala­mi, Oli­ven, Fei­gen und Mis­peln, dazu ei­nem Krug voll ro­ten Weins, den er frisch aus der Grot­te ge­holt hat­te. Als man sich setz­te, sah der zie­gen­fell­be­klei­de­te, lang­ge­lock­te, bär­ti­ge Wirt dem Be­su­cher herz­lich in die Au­gen, da­bei hat­te er sei­ne Rech­te ge­faßt, als woll­te er ihm eine Zu­nei­gung an­deu­ten.

Wer weiss, was al­les bei die­ser ers­ten Be­wir­tung ge­spro­chen wur­de. Nur ei­ni­ges blieb er­in­ner­lich. Der Berg­hirt wünsch­te Lu­do­vi­co ge­nannt zu sein. Er er­zähl­te man­ches von Ar­gen­ti­ni­en. Ein­mal, als das Ge­bim­mel der An­ge­lus­glo­cken aus den Tie­fen drang, mach­te er eine Be­mer­kung über die­ses »all­fäl­lig auf­rei­zen­de Ge­tön«. Ein­mal fiel der Name Sene­ca. Es wur­de auch et­was oben­hin von Schwei­zer Po­li­tik ge­spro­chen. End­lich wünsch­te der Son­der­ling man­ches von Deutsch­land zu wis­sen, weil es des Be­su­chen­den Hei­mat war. Er sag­te, als für die­sen, nach vor­ge­faß­tem Be­schluß, die Zeit des Ab­schieds kam: »Sie wer­den mir im­mer will­kom­men sein.«

*

Ob­gleich, wie er nicht ver­ber­gen will, der Her­aus­ge­ber die­ser Blät­ter nach der Ge­schich­te die­ses Men­schen lüs­tern war, ver­mied er es auch bei neu­en Be­su­chen, ir­gend­ein In­ter­es­se da­für zu ver­ra­ten. Man hat­te ihm ei­ni­ge äu­ße­re Tat­sa­chen mit­ge­teilt, bei ge­le­gent­li­chen Ge­sprä­chen, die er in So­a­na ge­führt hat­te, Tat­sa­chen, die dar­an schuld sein soll­ten, daß Lu­do­vi­co zum »Ket­zer von So­a­na« er­nannt wur­de: ihm da­ge­gen lag weit mehr dar­an, her­aus­zu­brin­gen, in wel­chem Sin­ne man mit die­ser Be­zeich­nung recht hat­te und in wel­chen ei­gen­tüm­li­chen in­ne­ren Schick­sa­len, wel­cher be­son­de­ren Phi­lo­so­phie die Le­bens­form Lu­do­vi­cos wur­ze­le. Er hielt je­doch mit Fra­gen zu­rück und ist da­für auch reich­lich be­lohnt wor­den.

Er traf Lu­do­vi­co meis­tens al­lein, ent­we­der un­ter den Tie­ren der Her­de oder in sei­ner Klau­se. Ei­ni­ge Male fand er ihn, als er, wie Ro­bin­son, ei­gen­hän­dig die Zie­gen molk. Oder er leg­te ei­ner wi­der­spens­ti­gen Mut­ter die Zick­lein an. Dann schi­en er ganz im Be­ru­fe ei­nes Senn­hir­ten auf­zu­ge­hen: er freu­te sich der Zie­ge, die das strot­zen­de Eu­ter am Bo­den schlepp­te, des Bockes, wenn er hit­zig und flei­ßig war. Von ei­nem sag­te er: »Sieht er nicht wie der Böse sel­ber aus? Se­hen Sie doch sei­ne Au­gen. Wel­che Kraft, wel­ches Fun­keln in Zorn, Wut, Bos­haf­tig­keit. Und da­bei wel­ches hei­li­ge Feu­er.« Dem Au­tor aber kam es vor, als ob in den Au­gen des Spre­chers die­sel­be Höl­len­flam­me vor­han­den wäre, die er ein »hei­li­ges Feu­er« ge­nannt hat­te. Sein Lä­cheln be­kam einen star­ren und grim­mi­gen Zug, er zeig­te die wei­ßen, präch­ti­gen Zäh­ne und ge­riet da­bei in einen Zu­stand von Ver­son­nen­heit, wenn er einen sei­ner dä­mo­ni­schen Ma­ta­do­re mit dem Bli­cke des Fach­manns bei sei­ner nütz­li­chen Ar­beit be­ob­ach­te­te.

Manch­mal spiel­te der »Ket­zer« die Pan­flö­te, und der Be­su­cher ver­nahm ihre ein­fa­chen Ton­rei­hen schon bei der An­nä­he­rung. Bei ei­ner sol­chen Ge­le­gen­heit kam na­tür­lich das Ge­spräch auf Mu­sik, und der Hirt ent­wi­ckel­te selt­sa­me An­sich­ten. Nie­mals, wenn er in­mit­ten der Her­de war, sprach Lu­do­vi­co von et­was an­de­rem, als von den Tie­ren und ih­ren Ge­wohn­hei­ten, vom Hir­ten­be­ruf und sei­nen Ge­pflo­gen­hei­ten. Nicht sel­ten ging er der Psy­cho­lo­gie der Tie­re, der Le­bens­wei­se der Hir­ten nach bis in tiefs­te Ver­gan­gen­heit, so ein ge­lehr­tes Wis­sen von nicht ge­wöhn­li­chem Um­fang ver­ra­tend. Er sprach von Apoll, wie die­ser bei Lao­me­don und Ad­me­tos die Her­den be­sorg­te, ein Knecht und ein Hir­te war. »Ich möch­te wohl wis­sen, mit wel­chem In­stru­ment er da­mals sei­nen Her­den Mu­sik mach­te.« Und als wenn er von et­was Wirk­li­chem sprä­che, schloß er: »Bei Gott, ich hät­te ihm ger­ne zu­ge­hört.« Das wa­ren die Au­gen­bli­cke, in de­nen der zot­ti­ge Anacho­ret viel­leicht den Ein­druck er­we­cken konn­te, als wä­ren sei­ne Ver­stan­des­kräf­te nicht eben ganz lücken­los. And­rer­seits er­fuhr der Ge­dan­ke eine ge­wis­se Recht­fer­ti­gung, als er be­wies, wie viel­fäl­tig eine Her­de durch Mu­sik zu be­ein­flus­sen und zu lei­ten sei. Mit ei­nem Ton jag­te er sie em­por, mit an­de­ren brach­te er sie zur Ruhe. Mit Tö­nen hol­te er sie aus der Fer­ne, mit Tö­nen be­wog er die Tie­re, sich zu zer­streu­en oder, an sei­ne Fer­sen ge­hef­tet, hin­ter ihm drein zu zie­hen.

Es ka­men auch Be­su­che vor, bei de­nen fast nichts ge­re­det wur­de. Einst, als die drücken­de Hit­ze ei­nes Ju­ni­nach­mit­tags bis auf die Al­men des Ge­ne­ro­so ge­stie­gen war, be­fand sich Lu­do­vi­co, von sei­nen la­gern­den, wie­der­kau­en­den Her­den um­ge­ben, eben­falls lie­gend, in ei­nem Zu­stand se­li­ger Däm­me­rung. Er blin­zel­te nur den Be­su­cher an und ver­an­laß­te ihn durch einen Wink, sich eben­falls ins Gras zu stre­cken. Er sag­te dann un­ver­mit­telt, nach­dem dies ge­sche­hen war und bei­de eine Wei­le schwei­gend ge­la­gert hat­ten, in schlep­pen­dem Tone etwa dies:

»Sie wis­sen, daß Eros äl­ter als Kro­nos und auch mäch­ti­ger ist. — Füh­len Sie die­se schwei­gen­de Glut um uns? Eros! — Hö­ren Sie, wie die Gril­le feilt? Eros!« — In die­sem Au­gen­blick jag­ten ein­an­der zwei Ei­dech­sen und husch­ten blitz­schnell über den Lie­gen­den weg. Er wie­der­hol­te: »Eros! Eros!« — Und als ob er das Kom­man­do dazu ge­ge­ben hät­te, er­ho­ben sich jetzt zwei star­ke Bö­cke und grif­fen ein­an­der mit den ge­wun­de­nen Hör­nern an. Er ließ sie ge­wäh­ren, ob­gleich der Kampf im­mer hit­zi­ger wur­de. Das Klap­pern der Stö­ße er­klang im­mer lau­ter und ihre Zahl nahm im­mer zu. Und wie­der sag­te er: »Eros! Eros!«

Und nun dran­gen an das Ohr des Be­su­chers zum ers­ten­mal Wor­te, die ihn ganz be­son­ders auf­hor­chen lie­ßen, weil sie ei­ni­ger­ma­ßen über die Fra­ge Licht ver­brei­te­ten oder we­nigs­tens zu ver­brei­ten schie­nen, warum Lu­do­vi­co im Volks­mund »der Ket­zer« hieß. »Lie­ber«, sag­te er, »will ich einen le­ben­di­gen Bock oder einen le­ben­di­gen Stier, als einen Ge­häng­ten am Gal­gen an­be­ten. Ich lebe nicht in der Zeit, die das tut. Ich has­se, ich ver­ach­te sie. Ju­pi­ter Am­mon wur­de mit Wid­der­hör­nern dar­ge­stellt. Pan hat Bocks­bei­ne, Bac­chus hat Stier­hör­ner. Ich mei­ne den Bac­chus Tau­ri­for­mis oder Tau­ri­cor­nis der Rö­mer. Mi­thra, der Son­nen­gott, wird als Stier dar­ge­stellt. Alle Völ­ker ver­ehr­ten den Stier, den Bock, den Wid­der und ver­gos­sen im Op­fer sein hei­li­ges Blut. Dazu sage ich: ja! — denn die zeu­gen­de Macht ist die höchs­te Macht, die zeu­gen­de Macht ist die schaf­fen­de Macht, Zeu­gen und Schaf­fen ist das glei­che. Frei­lich, der Kul­tus die­ser Macht ist kein küh­les Ge­plärr von Mön­chen und Non­nen. Ich habe ein­mal von Sita, dem Wei­be Vich­nus, ge­träumt, die un­ter dem Na­men Rama ein Mensch wur­de. Die Pries­ter star­ben in ih­ren Umar­mun­gen. Ich habe da vor­über­ge­hend et­was von al­ler­lei Mys­te­ri­en ge­wußt: dem Mys­te­ri­um der schwar­zen Zeu­gung im grü­nen Gras, von dem der perl­mutt­far­be­nen Wol­lust, der Ent­zückun­gen und Be­täu­bun­gen, vom Ge­heim­nis der gel­ben Mais­kör­ner, al­ler Früch­te, al­ler Schwel­lun­gen, al­ler Far­ben über­haupt. Ich hät­te brül­len kön­nen im Wahn­sinn des Schmer­zes, als ich der un­barm­her­zi­gen, all­mäch­ti­gen Sita an­sich­tig wur­de. Ich glaub­te zu ster­ben vor Be­gier.«

Wäh­rend die­ser Er­öff­nung kam sich der Schrei­ber die­ser Zei­len wie ein un­frei­wil­li­ger Hor­cher vor. Er stand auf, mit ei­ni­gen Wor­ten, die glau­ben ma­chen soll­ten, daß er das Selbst­ge­spräch nicht ge­hört habe, son­dern mit sei­nen Ge­dan­ken bei an­de­ren Din­gen ge­we­sen sei. Da­nach woll­te er sich ver­ab­schie­den. Lu­do­vi­co ließ es nicht zu. Und so be­gann denn auf der Berg­ter­ras­se aber­mals eine Gas­te­rei, de­ren Ver­lauf aber dies­mal be­deut­sam und un­ver­geß­lich war.

Der Be­su­cher wur­de gleich bei der An­kunft in die Woh­nung, den In­nen­raum des schon ge­schil­der­ten Wür­fels, ein­ge­führt. Er war qua­dra­tisch, sau­ber, hat­te einen Ka­min und glich dem schlich­ten Ar­beits­zim­mer ei­nes Ge­lehr­ten. Vor­han­den war Tin­te, Fe­der, Pa­pier und eine klei­ne Bü­che­rei, haupt­säch­lich grie­chi­scher und la­tei­ni­scher Schrift­stel­ler. »Wa­rum soll ich es Ih­nen ver­heh­len«, sag­te der Hirt, »daß ich aus gu­ter Fa­mi­lie bin, eine miß­lei­te­te Ju­gend und ge­lehr­te Bil­dung ge­nos­sen habe. Sie wer­den na­tür­lich wis­sen wol­len, wie ich aus ei­nem un­na­tür­li­chen Men­schen ein na­tür­li­cher, aus ei­nem ge­fan­ge­nen ein frei­er, aus ei­nem zer­stör­ten und ver­dros­se­nen ein glück­li­cher und zu­frie­de­ner ge­wor­den bin? Oder wie ich mich selbst aus der bür­ger­li­chen Ge­sell­schaft und der Chris­ten­heit aus­ge­schlos­sen habe?« Er lach­te laut. »Vi­el­leicht schrei­be ich ein­mal die Ge­schich­te mei­ner Um­wand­lung«. Der Be­su­cher, des­sen Span­nung aufs höchs­te ge­stie­gen war, fand sich plötz­lich wie­der­um weit vom Zie­le ver­schla­gen. Es konn­te ihm da­bei we­nig hel­fen, daß der Gast­freund zum Schluß er­klär­te, die Ur­sa­che sei­ner Er­neue­rung sei: er bete na­tür­li­che Sym­bo­le an. Im Schat­ten des Fel­sens, auf der Ter­ras­se, am Ran­de der über­flie­ßen­den Wan­ne war, in köst­li­cher Küh­le, reich­li­cher als das ers­te­mal ge­ta­felt wor­den: Räu­cher­schin­ken, Käse und Wei­zen­brot, Fei­gen, fri­sche Mis­peln und Wein. Vie­ler­lei war, nicht über­mü­tig, aber mit stil­ler Hei­ter­keit ge­plau­dert wor­den. End­lich wur­de der Stein­tisch ab­ge­räumt. Nun aber kam ein Au­gen­blick, der dem Her­aus­ge­ber wie et­was eben Ge­sche­he­nes ge­gen­wär­tig ist.

Der bron­ze­far­be­ne Hirt mach­te, wie man weiß, mit sei­nem un­ge­pfleg­ten, lan­gen Ge­lock des Haupt- und Bart­haa­res, so­wie durch sei­ne Klei­dung aus Fell den Ein­druck der Ver­wil­de­rung. Er ist mit ei­nem Jo­han­nes des Do­na­tel­lo ver­gli­chen wor­den. In der Tat hat­ten auch sein Ge­sicht und das Ant­litz je­nes Jo­han­nes in der Fein­heit der Li­ni­en viel Ähn­lich­keit. Lu­do­vi­co war ei­gent­lich, nä­her be­trach­tet, schön, so­fern man von dem Ent­stel­len­den der Bril­le ab­se­hen konn­te. Frei­lich er­hielt die gan­ze Ge­stalt durch sie wie­der­um, ne­ben dem lei­se ko­mi­schen Zug, das rät­sel­haft Son­der­ba­re und Fes­seln­de. In dem Au­gen­blick, von dem die Rede ist, un­ter­lag der gan­ze Mensch ei­ner Ver­än­de­rung. Hat­te das Bron­ze­ar­ti­ge sei­nes Kör­pers sich auch durch eine ge­wis­se Un­be­weg­lich­keit sei­ner Züge aus­ge­drückt, so wich es in­so­fern, als sie be­weg­lich wur­den und sich ver­jüng­ten. Er lä­chel­te, man könn­te sa­gen, in ei­nem An­flug kna­ben­haf­ter Scham­haf­tig­keit. »Was ich Ih­nen jetzt zu­mu­te«, sag­te er, »habe ich noch kei­nem an­de­ren Men­schen vor­ge­schla­gen. Wo­her ich den Mut plötz­lich neh­me, weiß ich ei­gent­lich sel­ber nicht. Aus al­ter Ge­wohn­heit ver­gan­ge­ner Zei­ten lese ich ge­le­gent­lich noch und han­tie­re auch wohl noch mit Tin­te und Fe­der. So habe ich in mü­ßi­gen Win­ter­stun­den eine sim­ple Ge­schich­te nie­der­ge­schrie­ben, die lan­ge vor mei­ner Zeit, hier in und um So­a­na, sich er­eig­net ha­ben soll. Sie wer­den sie äu­ßerst ein­fach fin­den, mich aber zog sie aus al­ler­lei Grün­den an, die ich jetzt nicht er­ör­tern will. Sa­gen Sie kurz und of­fen: wol­len Sie mit mir noch­mals ins Haus ge­hen und füh­len Sie sich auf­ge­legt, et­was von Ih­rer Zeit an die­se Ge­schich­te zu ver­lie­ren, die auch mich schon ohne Nut­zen man­che Stun­de ge­kos­tet hat? Ich möch­te nicht zu-, ich möch­te ab­ra­ten. Üb­ri­gens, wenn Sie be­feh­len, neh­me ich jetzt schon die Blät­ter des Ma­nu­skripts und wer­fe sie in den Ab­grund hin­un­ter«.

Selbst­ver­ständ­lich ge­sch­ah dies nicht. Er nahm den Wein­krug, ging mit dem Be­su­cher ins Haus, und bei­de sa­ßen ein­an­der ge­gen­über. Der Berg­hirt hat­te ein in Mönchs­schrift und auf star­ke Blät­ter ge­schrie­be­nes Ma­nu­skript aus feins­tem Zie­gen­le­der ge­wi­ckelt. Wie um sich Mut zu ma­chen, trank er dem Be­su­cher, eh er gleich­sam vom Ufer ab­stieß, um sich in den Fluß der Er­zäh­lung zu stür­zen, noch ein­mal zu und be­gann dann mit wei­cher Stim­me.

Die Erzählung des Berghirten

An ei­nem Ber­gab­hang ober­halb des Lu­ga­ner Sees ist un­ter vie­len an­de­ren auch ein klei­nes Ber­gnest zu fin­den, das man auf ei­ner stei­len, in Ser­pen­ti­nen ver­lau­fen­den Berg­stra­ße in etwa ei­ner Stun­de, vom Seeu­fer aus ge­rech­net, er­rei­chen kann. Die Häu­ser des Or­tes, die, wie an den meis­ten ita­lie­ni­schen Plät­zen der Um­ge­gend, eine ein­zi­ge, in­ein­an­der­ge­schach­tel­te, graue Rui­ne aus Stein und Mör­tel sind, keh­ren ihre Fron­ten ei­nem schlucht­ähn­li­chen Tale zu, das von den Auen und Ter­ras­sen des Fle­ckens und ge­gen­über von ei­nem mäch­ti­gen Ab­hang des über­ra­gen­den Ber­grie­sen Mon­te Ge­ne­ro­so ge­bil­det wird.

In die­ses Tal, und zwar dort, wo es wirk­lich als enge Schlucht sei­nen Ab­schluß nimmt, er­gießt sich von ei­ner wohl hun­dert Me­ter hö­her ge­le­ge­nen Tal­soh­le ein Was­ser­fall, der je nach Ta­ges- und Jah­res­zeit und der ge­ra­de herr­schen­den Strö­mung der Luft, mehr oder we­ni­ger stark, mit sei­nem Rau­schen eine im­mer­wäh­ren­de Mu­sik des Fle­ckens ist.

In die­se Ge­mein­de war vor lan­ger Zeit ein etwa fünf­und­zwan­zig­jäh­ri­ger Pries­ter ver­setzt wor­den, der Raf­fae­le Fran­ces­co hieß. Er war in Li­gor­net­to ge­bo­ren, also im Tes­sin, und konn­te sich rüh­men, ein Mit­glied des­sel­ben, dort an­säs­si­gen Ge­schlech­tes zu sein, das den be­deu­tends­ten Bild­hau­er des ge­ein­ten Ita­li­ens, her­vor­ge­bracht hat­te, der eben­falls in Li­gor­net­to ge­bo­ren wur­de und end­lich auch dort ge­stor­ben ist.

Der jun­ge Pries­ter hat­te sei­ne Ju­gend bei Ver­wand­ten in Mai­land und sei­ne Stu­di­en­zeit in ver­schie­de­nen Pries­ter-Se­mi­na­ren der Schweiz und Ita­li­ens zu­ge­bracht. Von sei­ner Mut­ter, die aus ei­nem ed­len Ge­schlech­te war, stamm­te die erns­te Rich­­­­­­­­­­­