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Inhaltsverzeichnis
»Geld für alle«
Das Problem: Der veraltete Sozialstaat
1. Herausforderung: Alterung
2. Herausforderung: Digitalisierung
3. Herausforderung: Individualisierung
4. Herausforderung: Arbeitsethos
5. Ein Sozialstaat für das 21. Jahrhundert
Die Lösung: Das bedingungslose Grundeinkommen
6. Wie das Grundeinkommen funktioniert
7. Warum ein Grundeinkommen notwendig ist
8. Ist das Grundeinkommen finanzierbar?
9. Ist das Grundeinkommen ökonomisch sinnvoll?
10. Ist das Grundeinkommen gerecht?
Eine realistische Revolution des Sozialstaates
Anhang
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
Zum Autor
Impressum

1. Herausforderung: Alterung

Deutschlands Bevölkerung altert.21 Das fordert den Sozialstaat in doppelter Hinsicht heraus. Erstens werden mehr Menschen länger denn je sozialpolitische Ansprüche stellen. Sie werden länger Rente beziehen. Und sie werden mehr Gesundheits- und Pflegeleistungen nachfragen.

Zweitens werden die Seniorinnen und Senioren zu einer zunehmend stärkeren politischen Macht. Nichts wird in der Sozialpolitik mehr ohne ihre Zustimmung geschehen können. Sie werden wesentlich bestimmen, was die aktive Generation umzusetzen hat.22

Beides zusammen wird die sozialen Sicherungssysteme zusätzlich belasten. Es ist mehr als fraglich, ob der Sozialstaat den zunehmenden Forderungen und dem politischen Druck der Älteren standhalten kann. Eher droht die Gefahr, dass die Post-Babyboomer, also die ab den 1980erJahren Geborenen, zu »Ohnmächtigen« werden, die den Wohlstand ihrer Eltern kaum erreichen dürften – nicht zuletzt weil sie gegen die Lobby der zahlenmäßig stärkeren Alten nicht ankommen.23

Steigende Lebenserwartung – höhere Gesundheitskosten

In Deutschland ist die Lebenserwartung im letzten Jahrhundert und besonders in der Nachkriegszeit stetig angestiegen. Als der Reichstag am 24. Mai 1889 mit knapper Mehrheit von 185 gegen 165 Stimmen das »Gesetz betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung« als dritten großen Baustein der Bismarck’schen Sozialversicherungsgesetzgebung (nach der gesetzlichen Kranken- und der Unfallversicherung von 1883 bzw. 1884) beschloss,24 lag die Lebenserwartung bei Geburt für Männer bei 35,6 Jahren und für Frauen bei 38,5 Jahren.25 Die Hälfte der Bevölkerung starb vor dem 40. Geburtstag. Weniger als ein Drittel wurde älter als 60 Jahre. Es war eine etwa einem Fünftel der Bevölkerung vergönnte Ausnahme und nicht die Regel für alle, das von Bismarck auf 67 Jahre festgelegte Renteneintrittsalter zu erreichen.

Wer heute geboren wird, darf hoffen, als Mann über 78 Jahre und als Frau über 83 Jahre alt zu werden. Rund 85% der Männer und sogar über 90% der Frauen erreichen das derzeitige gesetzliche Renteneintrittsalter von 65 Jahren. 65-jährige Männer haben dann noch eine Lebenserwartung von ca. 18 Jahren. 65-jährige Frauen können davon ausgehen, noch mehr als weitere 20 Jahre zu leben und Rente zu beziehen. Eine lange Ruhestandsphase ist zur Regel für die meisten geworden. Nur zur Erinnerung: »Seit 1970 hat sich wegen der steigenden Lebenserwartung die Rentenbezugszeit von 9,6 auf mehr als 17 Jahre fast verdoppelt, ohne dass sich das Renteneintrittsalter dementsprechend angepasst hat.«26

Der Trend zu einem längeren Leben wird sich in diesem Jahrhundert fortsetzen. Allerdings wird sich wohl das Fortschrittstempo verlangsamen und dürfte – zumindest nach heutigem Kenntnisstand – an eine biologische Grenze stoßen. In den kommenden ein bis zwei Dekaden dürfte sich jedoch pro Jahrzehnt die Lebenserwartung für Neugeborene noch um mehr als ein Jahr und für über 65-Jährige um ein bis anderthalb Jahre verlängern.27 Das bedeutet: Mädchen des Geburtsjahrganges 2030 werden im Durchschnitt bereits über 85 Jahre alt werden, Jungen über 80 Jahre. Was in noch weiter entfernt liegender Zukunft geschehen wird, ist aus heutiger Sicht unsicher. Denn die Biologie des Alterns und die Gründe für den Alterungsprozess sind bisher nur unvollständig erforscht.28

Das gesteigerte Bewusstsein für gesunde, lebensverlängernde Verhaltensweisen und auch die ökonomischen Möglichkeiten, mehr für Prävention und Therapie auszugeben, sind heute die Treiber der steigenden Lebenserwartung, die allen Altersklassen zugutekommen. Ebenso spielt der Strukturwandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft eine wichtige Rolle. Harte körperliche und gefährliche Tätigkeiten haben ab-, die Sicherheit am Arbeitsplatz hat zugenommen.

Fortschritte der Medizin und der Pharmazie sowie neue Technologien in der Medizintechnik schaffen wunderbarerweise die Voraussetzungen, den Gesundheitszustand aller – vor allem aber der Älteren – zu verbessern und mehr Menschen denn je ein gesundes Leben bis ins Greisenalter zu ermöglichen. Selbst schwere Erkrankungen, gravierende Kreislauf- oder Herzprobleme können heute erfolgreich bekämpft werden. Und »Ersatzorgane aus der Petrischale« versprechen bereits die nächste medizinische Revolution, weil es möglich werden wird, aus eigenen Stammzellen beschädigte Organe zu ersetzen. Damit werden fremde Spenderorgane überflüssig.29

Die für alle steigende Lebenserwartung führt dazu, dass das Gesundheitswesen finanziell gewissermaßen Opfer seines eigenen Erfolgs wird. Weil heute vieles möglich ist, was gestern noch undenkbar war, werden auch mehr Menschen länger als jemals zuvor mehr teure Gesundheits- und Pflegeleistungen einfordern. Die EU-Kommission prognostiziert, dass für Deutschland die jährlichen öffentlichen Ausgaben für Renten, Gesundheit und Pflege von 19% des BIP im Jahre 2013 auf 21,7% im Jahre 2030 und auf 23,8% im Jahr 2060 steigen werden.30 Das bedeutet für den deutschen Staatshaushalt Zusatzkosten von fast einer halben Billion Euro.

Wie der Gesundheitsökonom und SPD-Bundestagsabgeordnete Karl Lauterbach eindrücklich darlegt, wird vor allem der Krebs Deutschland erobern: »Langfristig ist Krebs die wichtigste Epidemie unserer Zeit, die sich unaufhaltbar ausbreitet.«31 Nach seiner Prognose wird jeder zweite Deutsche an Krebs erkranken, was zu einer gewaltigen Kostenlawine führen und die Krankenkassen vor immense Finanzierungsprobleme stellen wird. Wie weit sollen gesetzlich Versicherte die oft sehr teuren Behandlungen finanziert erhalten, und wann entscheidet wer, dass möglicherweise nicht so wirkungsvolle, dafür aber billigere Pharmazeutika kostenerstattungsfähig sind?

Es mag zynisch klingen, bleibt aber trotzdem richtig: Die steigende Lebenserwartung wird zum größten Krebsrisiko der künftigen Alten des 21. Jahrhunderts, also der Babyboom-Generation der 1960er-Jahrgänge. »Sie erhöht das Krebsrisiko deutlich mehr, als alle bekannten Vorbeugemöglichkeiten es reduzieren könnten«, so Lauterbach. Die einfache Logik hinter dem Befund: Der Erfolg bei der Bekämpfung anderer lebensbedrohlicher Erkrankungen, wie beispielsweise Herzinfarkt oder Kreislaufkollaps, oder das Vermeiden von Übergewicht, Bewegungsarmut oder Suchtmitteln, lässt am Ende mehr und mehr nur noch Krebserkrankungen übrig, die vergleichsweise schwer zu vermeiden, behandeln und heilen sind.

Die deutsche Gesellschaft wäre also sehr gut beraten, sich weniger über Rente oder Pflege und viel mehr über Krebs Gedanken zu machen. Mehr Menschen werden an Krebs erkranken als pflegebedürftig werden. »Pflegebedürftig sind Menschen in der Regel wenige Monate am Ende ihres Lebens, an Krebs leidet man häufig ein ganzes Jahrzehnt. Krebs jedoch kostet allein in einem Jahr oft so viel wie die gesamte Pflege eines Menschen im Alter«, schreibt Karl Lauterbach.

Es ist an der Zeit, den demografischen Wandel nicht nur als Prozess der Alterung und Schrumpfung der Bevölkerung zu diskutieren. Wer soll in welchem Maße von den Fortschritten der Krebsbekämpfung profitieren können und wer muss dafür wie viel bezahlen? Das sind die wirklich wichtigen Fragen, die eine Gesellschaft umtreiben werden, in der eine krebsfreie Familie in Zukunft zur Ausnahme und die Wahrscheinlichkeit, dass Familienangehörige an Krebs erkranken, die Regel wird. Die Antwort wird natürlich immense Rückwirkungen auf den Sozialstaat und die Finanzierbarkeit seiner Ausgaben haben.

Steigende Lebenserwartung – längere Rentenbezüge

Neben den Gesundheits- und Pflegekosten wirkt sich die längere Lebenserwartung für den Sozialstaat am offensichtlichsten bei der Altersvorsorge aus, die in Deutschland nach dem Umlageprinzip funktioniert. Eine zunehmende Zahl von Seniorinnen und Senioren verursacht unmittelbar eine steigende Belastung für den noch im aktiven Erwerbsleben stehenden Teil der Bevölkerung.

Im Gegensatz zum kapitalgedeckten Verfahren sorgen beim Umlageprinzip die Berufstätigen während ihrer aktiven Erwerbsphase nicht für ihre eigene Rente vor. Sie finanzieren durch eine direkte Umlage die aktuellen Rentnerinnen und Rentner. Dafür wiederum erwarten die heute Jüngeren zu späteren Zeiten, wenn sie selber alt geworden und im Ruhestand sein werden, von nachfolgenden Generationen unterstützt zu werden. Dieser Umlagemechanismus wird Generationenvertrag genannt, der stillschweigend zwischen Alt und Jung geschlossen wird.32

Mithilfe des Altenquotienten lässt sich veranschaulichen, wie der demografische Wandel das Verhältnis von Erwerbstätigen und Seniorinnen und Senioren in den kommenden Jahrzehnten verändern und damit den Generationenvertrag infrage stellen wird.33 Nach Einschätzung des Statistischen Bundesamtes wird unter der Annahme einer vergleichsweise schwachen Zuwanderung mit einem langfristigen Wanderungssaldo von jährlich 100.000 Personen und einem Renteneintrittsalter von 65 Jahren der Altenquotient von heute 34,2 bis 2030 auf 50,0 und bis 2030 weiter auf 64,9 steigen. Bei stärkerer Zuwanderung mit einem langfristigen Wanderungssaldo von jährlich 200.000 Personen und einem gleichbleibenden Renteneintrittsalter von 65 Jahren steigt der Altenquotient nur unmerklich weniger dramatisch an, und zwar von heute 34,2 auf 48,7 im Jahr 2030 und 61,1 im Jahr 2060.34

Der starke Anstieg der Zahl von Rentnerinnen und Rentnern im Verhältnis zu Personen im erwerbsfähigen Alter impliziert für die Zukunft entweder:

a. eine Verringerung des Rentenniveaus oder

b. eine Erhöhung des Rentenversicherungsbeitrags oder

c. eine wesentlich verlängerte Lebensarbeitszeit oder

d. mehr Zuwanderung oder

e. eine gleichzeitige Drehung der verschiedenen verfügbaren Stellschrauben.

Keine der Optionen ist einfach. Alle stoßen auf Gegenwehr. Und es zeigt sich rasch, dass man sich in Bezug auf die Effektivität der verschiedenen Handlungsoptionen keine allzu starken Hoffnungen machen sollte.

Eine Verringerung des Rentenniveaus wird auf den erbitterten Widerstand einer Gesellschaft stoßen, deren Wählerschaft altert. Weniger Rente ist für Seniorinnen und Senioren der direkten Betroffenheit wegen keine akzeptable Option. 1950 bildeten die Jugendlichen die stärkste Altersgruppe.35 30% der in Deutschland lebenden Menschen waren jünger als 20 Jahre und nur 15% älter als 60. Nur eine von 100 Personen war älter als 80 Jahre. Im Jahr 2030 werden – je nach Annahme der jährlichen Zuwanderungsüberschüsse – die Jüngeren zur Minderheit und die Älteren zur Mehrheit werden. Der Anteil der unter 20-Jährigen an der Bevölkerung dürfte auf ein Sechstel sinken, jener der über 65-Jährigen auf fast 30% steigen.

Was kommenden Generationen als Folge der demografischen Alterung künftig droht, lässt sich mit der Politik der letzten Jahre exemplarisch veranschaulichen: Die Große Koalition hat »Teile der gut versorgten heutigen Rentner noch für Milliarden mit Mütterzuschlag und Vorruhestand« bedacht, »während die nächste Klemme absehbar ist«36.

Nicht erst in einer fernen Zukunft, sondern schon heute lässt sich in Deutschland gegen die Macht der Älteren keine Politik mehr machen. Wahlsiege und Mehrheiten gibt es nur noch mit und nicht mehr ohne Zustimmung der Senioren. Wer die demografisch bedingte Machtverschiebung verkennt, hat in alternden Demokratien keine politische Überlebenschance.

In einer »Altenrepublik Deutschland«37 ist zu erwarten, dass bei der gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) künftig eher die Stellschraube »Erhöhung der Rentenbeiträge« und weniger an der Option »Absenkung des Rentenniveaus« gedreht werden wird. Damit wird ein Szenario wahrscheinlicher, bei dem immer mehr Junge von heute im Alter mit Armut zu kämpfen haben werden.

Denn auf der einen Seite bleibt den nach 1970 Geborenen in ihrer aktiven Phase immer weniger netto vom brutto. Sie haben in Form steigender Rentenbeiträge einen Generationenvertrag zu erfüllen, zu dem sie nie gefragt wurden und dem sie niemals zugestimmt hätten. Somit ist der Spielraum beschränkt(er), eigene Ersparnisse als Vorsorge fürs Alter bilden zu können.

Andererseits wird das durchschnittliche Niveau der Renten zur Jahrhundertmitte, wenn die Jahrgänge ab 1970 in den Ruhestand gehen möchten, auf einem Tiefststand liegen, der zum Überleben nicht wirklich reichen wird. »Die GRV entwickelt sich zurück zu einem System der Mindestsicherung, das allerdings allenfalls für langjährig Versicherte Altersarmut verhindert, während viele andere auf bedürftigkeitsgeprüfte Zusatzleistungen angewiesen sein werden.«38

Für viele wird die Rente bei Weitem nicht genügen, den gewohnten Lebensstandard im Ruhestand weiter finanzieren zu können. Denn als Folge der Digitalisierung werden nicht alle 45 Jahre ungebrochen erwerbstätig sein, und somit werden viele keine Vollrente erhalten. Die Altersarmut wird erst Alleinerziehende und Langzeitarbeitslose, später jedoch auch Geringverdienende und Durchschnittsrentner treffen.

Private Vorsorge galt als Hilfsmittel, um das Gröbste zu verhindern. Welche Hoffnungen fälschlicherweise aufgebaut wurden, wird jedoch durch die Zinsentwicklung aufgedeckt. Die Nullzinswelt der Gegenwart hat die Aussicht auf hohe Zins- und Zinseszinsen in der Zukunft brutal zerstört. Die junge Generation von heute muss im Laufe ihres Erwerbslebens etwa doppelt so viel sparen wie ihre Eltern, um beim Eintritt ins Rentenalter über genauso viel Kapital zu verfügen.39

Die Unsicherheit der Vorsorge gilt im Übrigen auch für die Betriebsrenten. Bei vielen Firmen reichen die Rückstellungen, die für die betriebliche Altersvorsorge der Belegschaften gebildet wurden, bei Weitem nicht aus, um die heutigen Zusagen künftig erfüllen zu können. Der Wegfall der Zinseszinseinnahmen reißt auch hier große Lücken.40

Also steigt die Versuchung, das Geld anders anzulegen, sodass es an Wert gewinnt, statt verliert. Damit aber nehmen die Risiken zu. Wer Immobilien, Edelmetalle oder Aktien als Ersatz für Sparbuch und Bundesanleihen nachfragt, trägt mit dazu bei, dass Blasen entstehen – also stark steigende Vermögenspreise –, die eines Tages platzen können. Ein rapider Wertverfall könnte gerade dann eher einsetzen, wenn – einem Herdentrieb gehorchend – alle verunsicherten Anleger dem gleichen Verhalten – der Flucht in die Sachwerte – folgen. Wenn in den kommenden Jahrzehnten ältere Generationen ihre Vermögenswerte liquidieren wollen, um damit ihre laufenden Konsumausgaben im Alter zu finanzieren, kann rasch ein Überschussangebot an Immobilien, Edelmetallen und auch Finanztiteln entstehen, was deren Preise (dramatisch) fallen lässt.

Länger arbeiten ist gut, produktiver arbeiten ist besser

Selbst die Stellschraube »längere Lebensarbeitszeit« greift nicht wirklich. Natürlich ist eine Erhöhung der Lebensarbeitszeit in doppelter Hinsicht für eine Senkung des Altenquotienten wirkungsvoll. Einerseits würde die Zahl der Rentnerinnen und Rentner (also der Zähler des Altenquotienten) langsamer steigen, andererseits die Zahl der Erwerbsfähigen (also der Nenner des Altenquotienten) höher bleiben. Beides zusammen verringert durchaus den Altenquotienten.

Vorsicht vor Illusionen ist jedoch geboten, wenn es um den tatsächlich zu erwartenden Verbesserungseffekt geht. Die massiven Folgen einer alternden Bevölkerung auf das Rentensystem lassen sich auch mit einer Anhebung des Renteneintrittsalters nicht beseitigen, sondern nur dämpfen. Selbst wenn die Deutschen 2030 erst mit 67 in Rente gehen würden, läge das Rentenniveau nur gut einen Prozentpunkt höher als bei einer Fortschreibung des Status quo (nämlich bei 45,2% des durchschnittlichen Arbeitnehmereinkommens statt bei 44,1%), und bis 2040 wäre der Effekt noch geringer (nämlich nur ein Plus von 0,4%).41

Eine wirkliche Stabilisierung auf dem heutigen Niveau kann nur dann gelingen, wenn das Renteneintrittsalter zwischen 2030 und 2060 jährlich um jeweils einen weiteren Monat nach oben gesetzt und im Jahr 2060 bei 69,5 liegen würde und zusätzlich die Maximalrente nicht ab 45, sondern erst ab 49 Beitragsjahren gewährt wird.42 Das bedeutet aber auch, dass die heute gute Beschäftigungssituation bis zur Jahrhundertmitte ungebrochen anhalten muss. Ansonsten werden 49 ungebrochene Beitragsjahre für die von Erwerbslosigkeit Betroffenen sowieso illusorisch und drohen starke Abschläge von der Vollrente.43

Aber der Rentenbeitrag würde so oder so von 18,7% 2015 auf 21,0% 2030 und auf 23,4% im Jahr 2040 steigen – also auch hier wäre die Entlastung für künftige Erwerbtätige äußerst bescheiden. Und selbst wenn die Regelaltersgrenze an die stetige Lebenserwartung gekoppelt und 2060 das Rentenalter bei 69,5 Jahren liegen würde, »ist das Problem steigender Beitragssätze noch nicht aus der Welt«44. Sie würden so oder so und im besten Falle auf etwa 25 % steigen. Das ist deshalb keine Bagatelle, weil auch bei der gesetzlichen Kranken- und der sozialen Pflegeversicherung die Beitragssätze steigen dürften. Somit wird netto immer weniger vom Bruttoverdienst übrig bleiben. Genau das Gegenteil dessen, was eigentlich politisch angesagt sein sollte.

Der geringe Effekt einer verlängerten Lebensarbeitszeit bedeutet keinesfalls, dass diese Option nicht mit Nachdruck zu verfolgen und, soweit irgendwie möglich, auszuschöpfen ist. Es spricht rein gar nichts dagegen, das Rentenalter an die steigende Lebenserwartung zu koppeln.45 Eine Verbesserung des Rentenniveaus um einen Prozentpunkt ist nicht nichts. Aber selbst dann verschlechtert sich bis 2030 eben das Rentenniveau immer noch um rund drei Prozentpunkte gegenüber heute. Und auch wenn der Anstieg der Rentenbeiträge um einen Prozentpunkt gebremst werden könnte, verbleibt bis 2030 eine Erhöhung um gut zwei Prozentpunkte. Auch wenn es also aller Mühen wert ist, eine verlängerte Lebensarbeitszeit anzustreben, drohen erhöhte Rentenbeiträge und geringere Renten.

Mit der Stellschraube »mehr Zuwanderung« sind ähnlich vorteilhafte, aber eben auch ähnlich schwache Verbesserungseffekte zu erwarten. Mehr Zuwanderung kann den Sozialstaat entlasten, aber nicht ohne Kosten und bei Weitem nicht stark genug. Die Effekte der Migration werden von beiden Seiten – den Befürwortern wie den Gegnern einer verstärkten Zuwanderung – maßlos überschätzt. Fakt ist, dass sowohl die positiven wie auch die negativen Folgewirkungen für den Sozialstaat und dessen Finanzierung marginal und nicht fundamental sind.46

Der Grund für die vergleichsweise schwache Minderung der demografischen Alterung durch Zuwanderung ist relativ einfach: Auch Zuwanderer werden älter, sodass ein Verjüngungseffekt im Laufe der Zeit verpufft, selbst wenn vergleichsweise junge Menschen nach Deutschland kommen sollten. Und sogar wenn ein jährlicher Wanderungssaldo von 300.000 zur Regel werden sollte, würde bei einem Renteneintrittsalter von 65 Jahren der Altenquotient von heute 34,2 bis 2030 auf 48,0 und bis 2060 auf 57,2 ansteigen.47 Der Effekt gegenüber den Szenarien mit geringerer Zuwanderung wäre somit minimal. Oder anders ausgedrückt: Zuwanderung ist nur eine sehr begrenzte Lösung für die durch den demografischen Wandel hervorgerufenen Herausforderungen.

Es ist erschreckend, dass bei allen politischen Diskussionen über die Reform des Rentensystems die noch längere Zeit gültigen Basistrends in den Rahmenbedingungen nicht wirklich akzeptiert werden. Die Lebenserwartung wird noch längere Zeit weiter steigen, das Rentenniveau wird sinken, die Rentenbeiträge werden steigen und weder eine Anhebung des Renteneintrittsalters noch »mehr Zuwanderung« werden die Schieflage wirklich substanziell geraderücken können.

Die fundamentale Stellschraube, um die Renten nachhaltig zu sichern, ist eine hohe Produktivität. Es genügt nicht, wenn Menschen nur eine Arbeit haben. Nur wenn sehr viele Menschen ein ganzes Leben lang sehr viel produktiver als heute arbeiten und deutlich später als heute in den Ruhestand gehen, kann das soziale Sicherungssystem grundlegend saniert werden.

Die Arbeitsproduktivität zu steigern heißt aber, entweder mehr Geld für eine bessere Qualifizierung auszugeben oder die Kapitalintensität zu steigern, also Maschinen statt Menschen arbeiten zu lassen. Im ersten Fall dürften die Löhne der Besserverdienenden steigen, was angesichts der Beitragsbemessungsgrenze für die Sozialversicherungen kaum einen starken Entlastungseffekt für die gesetzliche Rentenversicherung haben dürfte. Im zweiten Fall werden Roboter statt Arbeiter den Mehrwert schaffen. Da Roboter nicht, Beschäftigte aber sehr wohl sozialversicherungspflichtig sind, wird sich die Finanzierungssituation für die gesetzlichen Rentenkassen in diesem Falle sogar verschlechtern.

Als Quintessenz zeigt sich, dass sich eine nachhaltige Sanierung eines Rentensystems aus einer längst vergangenen Epoche in Zukunft kaum realisieren lässt. Allein deshalb reicht eine einfache Reparatur oder eine weitere Anhebung des Renteneintrittsalters nicht aus. Es braucht einen grundsätzlichen Neuanfang. Den ermöglicht das bedingungslose Grundeinkommen.

Das Grundeinkommen schließt alle Einkommen gleichermaßen in die Solidarpflicht ein. Es kennt weder eine Beitragsbemessungsgrenze noch eine steuerliche Ungleichbehandlung des Einkommens von Robotern und Menschen. Für die Besserverdienenden soll das gesamte Einkommen die Bemessungsgrundlage bilden. Und Maschinen sollen wie Menschen ihren Beitrag zur Finanzierung des Sozialstaates leisten.

2. Herausforderung: Digitalisierung

Die digitale Revolution wird die Lebenswirklichkeit des 21. Jahrhunderts so prägen wie die industrielle Revolution den Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft. Kein anderer Trend wird ökonomisches Handeln und weltwirtschaftliche Entwicklungen in den nächsten Dekaden stärker verändern.48

Mit Kohlen betriebene Dampfmaschinen waren die Antriebskräfte der Industrialisierung. Mit Menschen gekoppelte und verbundene intelligente Maschinen und Roboter sind das Herz des Zeitalters der Digitalisierung. »Der Aufstieg der Roboter« – so der Titel des Bestsellers von Martin Ford – stellt »unsere Arbeitswelt gerade auf den Kopf«.49

Digitalisierte Automaten werden zunehmend Hände ersetzen und damit die Nachfrage für standardisierte, arbeitsintensive Tätigkeiten verringern. Selbst fahrende und ferngesteuerte, mit künstlicher Intelligenz ausgestattete Maschinen werden in Produktion, Be- und Vertrieb oder Wartung, aber auch bei der Mobilität und im Verkehr oder bei der Pflege komplexe Arbeitsvorgänge bis hin zu Diagnose und Therapie übernehmen.

Die digitale Revolution wird im »Internet der Dinge« nicht nur Maschinen, sondern auch Menschen und deren Wissen und Können mit Robotern und deren künstlicher Intelligenz zu völlig neuen Wertschöpfungsketten verschmelzen. Der 3-D-Drucker wird fertige Luxusvillen oder maßgeschneiderte Anzüge ausspucken. Er wird auch exquisite Diätmenus zubereiten, die in jeder Beziehung den Erwartungen, dem Geschmack und der aktuellen Stimmung und Gesundheit der Genießer gerecht werden.

Die Digitalisierung wird alle geltenden Gesetzmäßigkeiten infrage stellen. Wenig wird so bleiben, wie es heute ist. Die meisten Berufe und Tätigkeiten werden – mehr oder weniger – neu auszurichten sein. Das gilt nicht nur für einfache Routinetätigkeiten. »Auch hoch Qualifizierte wie Radiologen werden von Computern ausgestochen, die deutlich schneller und zuverlässiger Diagnosen erstellen können.«50 Steuer- oder Versicherungsberater werden durch Softwareprogramme, Bankangestellte durch Onlinebanking ersetzt.

Digitalisierung und Arbeitswelt

Die Angst vor dem »Ende der Arbeit« ist so alt wie die Industrialisierung.51 Und sie hat sich ebenso lange als völlig falsch erwiesen. Der arbeitssparende Strukturwandel ist eine Konstante der wirtschaftlichen Fortentwicklung von der Agrarwirtschaft über die Industrialisierung zur Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft. Tätigkeiten verschwinden, andere entstehen. In der Summe hat das nicht zum Ende der Arbeit geführt, sondern dazu, dass heute mehr Menschen in Deutschland arbeiten als jemals zuvor in der Geschichte. Aber: Sie arbeiten anders. Und vor allem arbeiten sie heutzutage kürzer.52 Genau diesen Trend wird die Digitalisierung weiter und beschleunigt vorantreiben.

Digitalisierung bedeutet keineswegs das Ende der Arbeit. Aber sie wird Arbeit, Arbeitsplätze und Arbeitszeit in dramatischer Weise verändern. Auch das ist nichts Neues. Dampfmaschinen, Motoren und elektrische Energie haben im Übergang zum Industriezeitalter ähnliche Umwälzungen verursacht. Gleiches passierte seither stets und nun wieder. An immer mehr Stellen werden Roboter, kluge Maschinen und unermüdliche Automaten menschliche Arbeitskraft ersetzen. Künstliche Intelligenz wird das menschliche Gehirn entlasten und ergänzen. Selbst fahrende, selbst fliegende, selbst steuernde, rund um die Uhr einsatzbereite, fehlerfrei funktionierende, hoch vernetzte und mit künstlicher Intelligenz ausgestattete Systeme verringern die Nachfrage erst für standardisierte, immer mehr aber auch für komplexere und qualifizierte Arbeiten.

Die Digitalisierung setzt fort, was mit Mechanisierung und Automatisierung begann. Sie erhöht die Arbeitsproduktivität – also die von Arbeitern pro Werktag erbrachte Leistung. In kürzerer Zeit können weniger Menschen viel größeren ökonomischen Mehrwert erwirtschaften. Roboter sorgen somit dafür, dass Menschen Arbeit verlieren, aber Zeit gewinnen, um »heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wo ich gerade Lust habe; ohne je Jäger, Hirt oder Kritiker zu werden« – so der junge Karl Marx.53

Die Digitalisierung wird Millionen heutiger Jobs überflüssig machen.54 Es gibt Prognosen, die angesichts der Digitalisierung einen Arbeitsplatzwegfall von fast 50% vorhersehen.55 Mittlerweile können Maschinen fast alles, was Arbeitskräfte tun. Es ist eher eine Frage der Zeit, wie lange der Mensch dem Roboter in den drei Bereichen noch überlegen bleibt, in denen er momentan noch besser ist: erstens Kreativität – beispielsweise in der Forschung und der Erfindung neuer Problemlösungen oder im Erkennen und Wahrnehmen neuer Geschäftsmodelle; zweitens Emotionen und Empathie – beispielsweise in zwischenmenschlichen Beziehungen, also in der Pflege und Erziehung, in der Motivation und im Training, in der Bildung und Führung; und drittens Feinmotorik – beispielsweise bei der Geschicklichkeit, ein volles Tablett aus der Küche an den Esstisch zu bringen.56 Geschützt sind somit Menschen, die mit Kopf, Gefühl und neuen Ideen ihr Geld verdienen. Dazu zählen auch Künstlerinnen, Sportler, Technologiefreaks, Coaches und Teamleiterinnen.

Digitalisierung und Arbeitszeit

Die Arbeit wird dem Menschen nicht ausgehen. Aber die Digitalisierung wird einen Trend verstärken, der dem Kapitalismus innewohnt. Sie wird Arbeitszeiten verkürzen und Maschinenzeiten verlängern. Das steigert die Arbeitsproduktivität jener, die eine Beschäftigung haben. Aber es mindert den Bedarf an Arbeitskräften.

Insbesondere zeitintensive Aktivitäten dürften eher durch Maschinen als Personen erledigt werden. Als Folge wird für eine Vielzahl von Menschen die wöchentliche und jährliche Arbeitszeit geringer werden, dafür aber wird es ab und zu längere Auszeiten geben und dürfte in fortgeschrittenem Alter länger als heute gearbeitet werden müssen – wohl auch zunehmend im Ehrenamt und periodisch begrenzt.

Einfache Tätigkeiten für Geringqualifizierte werden zwar nicht verschwinden, aber vergleichsweise immer schlechter bezahlt werden. Sind sie nämlich (zu) teuer, werden sie durch Automaten erledigt. Deshalb darf billige Arbeit nicht durch Sozialabgaben einseitig verteuert werden.

Natürlich werden auch Millionen neuer, heute noch unbekannter Jobs entstehen. Aber auch sie werden nicht im selben Maße Arbeitszeit beanspruchen, wie das historisch der Fall war. Die Schrumpfung der Arbeitszeit ist eine Konstante des Strukturwandels. Zu Beginn der Industrialisierung betrug die durchschnittliche tägliche Arbeitszeit 14 bis 16 Stunden, pro Woche kamen so über 80 Arbeitsstunden zusammen.57 Eine gesetzliche Beschränkung der Arbeitszeit auf maximal 48 Wochenstunden erfolgte in Deutschland vor nicht mehr als 100 Jahren und erst in den 1960er-Jahren wurde die 40-Stunden-Woche zur tarifvertraglichen Regel. Die Digitalisierung wird eine weitere Absenkung der Arbeitszeiten erzwingen und ermöglichen.

Die mit der Digitalisierung einhergehenden makroökonomischen Effekte dürften zu einer weiteren Verstärkung eines ohnehin feststellbaren Trends führen: Produktivitätsfortschritte und durchschnittliche Arbeitseinkommen werden weiter auseinanderfallen. Im Zeitalter der Industrialisierung verliefen sie parallel. Die Digitalisierung wird die Zunahme von Produktivität von der Zunahme der Arbeitsverdienste eher entkoppeln als verzahnen.58

Die Digitalisierung dürfte somit eine Polarisierung der Gesellschaft verursachen. Es wird eine »digital divide« geben, also eine weiter gehende Spaltung in Gewinner und Verlierer der neuen Möglichkeiten, die das 21. Jahrhundert bieten wird. »Anstatt dass wir für Geld arbeiten, arbeitet Geld für uns«, hat dies Robert Solow, der Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften des Jahres 1987, treffend beschrieben.59 Und er verweist darauf, »dass sich ein immer größerer Anteil des Volkseinkommens nicht durch tatsächliche Arbeit generiert, sondern durch Investitionen«. Als Folge nimmt die Ungleichheit zu, was zu »hässlichen Konsequenzen« und »im schlimmsten Fall« dazu führe, dass »die Gesellschaft durch solche Entwicklungen auseinander(bricht).«

Um ein weder gesellschaftlich akzeptiertes noch ökonomisch gerechtfertigtes Auseinanderdriften von Wertschöpfung und Kapitaleinkommen auf der einen und Arbeitseinkommen auf der anderen Seite zu verhindern, gibt es nur eine faire Konsequenz60: Die mit der Digitalisierung einhergehenden Produktivitätsgewinne müssen breit(er) gestreut werden. Auch die Arbeitseinkommen sollten entsprechend der höheren Arbeitsproduktivität steigen.61 Aber noch einmal: Davon würde nur profitieren, wer noch einen Job hat. Das wird für Kreative, mit Kopf oder Emotionen Arbeitende der Fall sein. Für die meisten anderen jedoch werden höhere Arbeitsproduktivität und steigende Löhne bestenfalls während kürzerer monatlicher oder jährlicher Erwerbszeiten spürbar werden.

Digitalisierung und Sozialversicherungen

Der Ersatz von Menschen durch Kapital ist weder neu noch schlecht. In den makroökonomischen Wechselwirkungen unterscheidet sich die Digitalisierung nicht von der Automatisierung oder Mechanisierung früherer Zeiten.

Es ist das Wesen von Kapitalismus und Industrialisierung, dass Maschinen Menschen ersetzen. Der Vorteil: Alles, was die Digitalisierung an Arbeit wegnimmt, treibt die Arbeitsproduktivität weiter nach oben, was wiederum die Löhne der noch Beschäftigten in die Höhe steigen lässt. Wenige besser bezahlte Menschen werden mit mehr Kapital vernetzt und verbunden mit der künstlichen Intelligenz des Internets der Dinge mit weniger Aufwand mehr Wertschöpfung erzeugen als jemals zuvor.

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