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MICHAEL LACZYNSKIFürchtet euch und folgt uns

MICHAEL LACZYNSKI

Fürchtet euch
und folgt uns

Die Politik der Populisten

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www.kremayr-scheriau.at

eISBN ISBN 978-3-218-01075-7

Copyright © 2017 by Verlag Kremayr & Scheriau GmbH & Co. KG, Wien

Alle Rechte vorbehalten

Schutzumschlaggestaltung: Sophie Gudenus, Wien

unter Verwendung eines Fotos von picturedesk.com © Yuri Cortez

Lektorat: Paul Maercker

Typografie und Satz: Michael Karner, Gloggnitz

Inhalt

Schrecken ohne Ende

Vier Fäuste gegen Brüssel

Blaue Kragen, graue Haare, schwarze Gedanken

Am wichtigsten ist, dass alle gleich sind

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr

Liberté, Égalité, Morosité

Wer ist gegen uns, wenn Gott mit uns ist?

Fürchtet euch nicht

Nachwort

Anmerkungen

Schrecken ohne Ende

Ich habe eiserne Prinzipien.
Und wenn sie Ihnen nicht passen,
dann habe ich auch noch andere
.

GROUCHO MARX

Wer sind Sie, Herr Haider?

Der 5. Februar 2000 war ein beschaulicher Samstag. Im französischen Département Haute-Garonne wurden fünf Höhlenforscher gerettet, die seit Tagen in der Grand Bourusse-Höhle festgesteckt waren. Während in Jakarta der Internationale Währungsfonds der im Zuge der Asienkrise in Zahlungsschwierigkeiten geratenen indonesischen Regierung einen Kredit im Umfang von 70 Milliarden Dollar gewährte, vermeldete in den USA die New York Times die frohe Kunde, wonach seit Jahresbeginn landesweit bereits 387.000 Arbeitsplätze geschaffen worden seien. In Monaco verlängerte Supermodel Claudia Schiffer, frisch verlobt mit dem britischen Jetset-Millionär Tim Jeffries, ihre Aufenthaltsgenehmigung im Fürstentum um ein weiteres Jahr. Die niederländische Königin Beatrix startete in Lech am Arlberg bei wolkenverhangenem Himmel und leichten Plusgraden in ihren zweiwöchigen Schiurlaub. Und eine von der Zeitschrift Stil & Etikette in Auftrag gegebene Umfrage ergab, dass mehr als 95 Prozent der Deutschen es nicht ausstehen können, wenn beim Essen laut geschmatzt wird. Die internationale Nachrichtenbilanz war also überschaubar. Und dabei wäre es auch geblieben, hätte nicht in Berlin Erich Böhme den Versuch unternommen, den Mythos Jörg Haider zu entzaubern.

Böhme war ein altes Schlachtross des deutschen Journalismus. Er hatte den Spiegel geleitet, die Berliner Zeitung herausgegeben, die beliebte Polit-Talkshow Talk im Turm moderiert. Und pünktlich zur Jahrtausendwende wollte der damals 69-Jährige noch einmal beruflich durchstarten. Für die Premiere seiner neuen Diskussionssendung Talk in Berlin1 suchte sich Böhme den skandalumwitterten langjährigen Vorsitzenden der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) aus, für flankierenden Schutz beim geplanten journalistischen Exorzismus sorgten zwei honorige Herren: der Schriftsteller Ralph Giordano sowie Freimut Duve, seines Zeichens Beauftragter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) für die Freiheit der Medien. Um den Frontverlauf etwas aufzulockern, saß als fünfter Teilnehmer Michael Glos von der Christlich-Sozialen Union in der Diskussionsrunde. Als konservativer Bayer und unmittelbarer Nachbar der Alpenrepublikaner würde der CSU-Politiker Haider argumentativ unter die Arme greifen, falls sich dieser im Clinch mit den Titanen der deutschen Publizistik nicht mehr zu helfen wisse, dachten sich wohl die Sendungsverantwortlichen. »Wer sind Sie, Herr Haider: ein Neonazi, ein Neofaschist, ein Nationalist, ein Populist, oder sind Sie nur der nette Jörg?«, fragte Böhme anklagend, während der Angesprochene in die Fernsehkameras lächelte. An diesem Abend war Haider der Hecht im Karpfenteich.

Die Einladung nach Berlin war der Versuch, aus den jüngsten dramatischen Ereignissen in Österreich schlau zu werden. Am 4. Februar, einen Tag vor dem Talk in Berlin, wurde die FPÖ als zweitstärkste Partei im Nationalrat unter den entsetzten Blicken des europäischen Auslands Teil einer von der konservativen Österreichischen Volkspartei (ÖVP) angeführten Regierungskoalition. Die rot-schwarze Große Koalition, die Österreich seit 1987 ohne Unterbrechung regiert hatte, war Geschichte, freiheitliche Politiker zogen ins Finanz-, Justiz-, Sozial-, Verteidigungs- und Verkehrsministerium ein. Haiders Vertraute Susanne Riess-Passer übernahm den Posten der Vizekanzlerin und beerbte ihn in Folge auch an der Parteispitze, er selbst nannte sich fortan »einfaches Parteimitglied« und blieb als graue Eminenz und Landeshauptmann von Kärnten mehr oder weniger dezent im Hintergrund. Zum ersten Mal in der Geschichte der EU war in einem Mitgliedstaat der Union eine am äußersten rechten Rand des politischen Spektrums angesiedelte Partei an der Macht. In Deutschland zeigte man sich besonders empört: Wie konnte es möglich sein, dass ein Mann, der die »ordentliche Beschäftigungspolitik« des Dritten Reichs anpries und Veteranen der Waffen-SS dafür lobte, dass sie »auch bei größtem Gegenwind zu ihrer Überzeugung stehen und ihrer Überzeugung bis heute treu geblieben sind«, bei einer Parlamentswahl 27 Prozent der Stimmen holte?

Dieses Unverständnis manifestierte sich auch bei Böhme und Giordano, die rechtes Gedankengut reflexartig mit dumpfer, antimoderner Aggressivität und Beschränktheit gleichzusetzen schienen und nicht auf einen Diskutanten wie Haider vorbereitet waren. Dieser Mangel an Vorstellungskraft, gepaart mit schlampiger Recherche und intellektueller Überheblichkeit, führte direkt ins Desaster. Anstatt dem politischen Parvenü wie geplant die Grenzen aufzuzeigen, wurde das Trio von Haider von Anfang an elegant ausmanövriert. Während Giordano darüber dozierte, ob der FPÖ-Politiker nun ein »Zwangsdemokrat« sei oder nicht, nannte Haider seine Ausführungen über die Arbeitsmarktpolitik der Nationalsozialisten einen Fehler und sammelte Sympathiepunkte beim Publikum im Studio und den Zuschauern in Deutschland. Der Saal applaudierte, als der Freiheitliche seine Wähler gegen Giordanos Kritik verteidigte: »Unterstellen Sie ihnen nicht, dass sie Rechtsextremisten sind. Das sind keine bösen Menschen, sie haben früher die Sozialisten gewählt.« Und als Haider den deutschen Politikern empfahl: »Kümmert euch um die Menschen und tut nicht jeden als Nazi diffamieren«, gab es im Publikum kein Halten mehr. »Haider weiß auf alles eine Antwort und hat auch hier eine Klientel, von der ich hoffe, dass sie sich nicht vergrößert«, stellte Giordano verunsichert fest, während Böhme nach Kräften versuchte, seinem Gegenüber antidemokratische Tendenzen nachzuweisen, dabei aber an handwerklichen Fehlern und Haiders Wendigkeit scheiterte.

BÖHME (vorwurfsvoll): »Sie haben gesagt, Maastricht [der Gründungsvertrag der heutigen EU, Anm.] sei die Fortsetzung von Versailles [der Friedensvertrag von 1919, in dem Deutschlands alleinige Verantwortung für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs festgehalten wurde, Anm.] ohne Krieg.«

HAIDER (süffisant): »Es ist ein Zitat aus Le Figaro, das wiederholt im Spiegel vom Herrn Augstein [dem Gründer und langjährigen Herausgeber des Magazins, Anm.] im Rahmen seiner Leitartikel abgedruckt wurde. Ich habe dieses Zitat nicht verwendet und verstehe nicht, wie Sie zu mir kommen.«

BÖHME (konsterniert): »Das verstehe ich auch nicht.« Verständnislosigkeit herrschte am Tag danach ebenfalls bei den deutschen Medien, die über die Fernsehdebatte berichteten. »Haider entglitt Böhme«, urteilte die Berliner Zeitung. »Besonders peinlich: Böhme lieferte Haider auch noch Vorlagen«, kritisierte der Berliner Kurier. Regelrecht erschüttert zeigte sich der Spiegel, Böhmes langjährige journalistische Heimat, und attestierte seinem ehemaligen Chefredakteur unter der Überschrift »Gipfel der Peinlichkeit« schlechte Vorbereitung und mangelnde Professionalität. Aus dem ruhmreichen Comeback wurde eine Blamage. Einzig der Gastgeber der Diskussionsrunde, der Nachrichtenkanal n-tv, konnte sich über eine gute Quote freuen: 4,6 Prozent der Deutschen, deutlich mehr als dies bei derartigen Fernsehformaten normalerweise der Fall war, schauten am 5. Februar zu, wie sich das Establishment der Bundesrepublik an Haider die Zähne ausbiss.

Die »Haiderisierung Europas«

Die restlichen 14 Mitgliedstaaten der EU reagierten auf die Regierungsbeteiligung der Freiheitlichen, indem sie einen Cordon sanitaire rund um Österreich zogen und ihre bilateralen Kontakte zu Vertretern der schwarz-blauen Koalition auf das Allernotwendigste reduzierten. Doch diese Front hielt nicht lange. Nachdem die von der Regierung in Wien als »Sanktionen gegen Österreich« bezeichneten Maßnahmen erstens zu einer Trotzreaktion in der Bevölkerung geführt hatten und sich zweitens die FPÖ-Ministerriege weitgehend unauffällig verhielt, suchte man in den Hauptstädten der Union nach einem gesichtswahrenden Ausweg aus der verfahrenen Lage. Diesen verschaffte ein dreiköpfiger »Rat der Weisen«, bestehend aus dem früheren finnischen Staatsoberhaupt Martti Ahtisaari, dem ehemaligen EU-Kommissar Marcelino Oreja aus Spanien, sowie dem deutschen Rechtswissenschaftler Jochen Frowein. Die drei Experten nahmen Schwarz-Blau unter die Lupe und kamen in ihrem Bericht zu dem Schluss, dass die europäischen Werte in Österreich nicht bedroht seien. Ende 2000 waren die Kontakte wieder normal, und in Brüssel setzte man darauf, dass der politische Alltag das bewerkstelligen würde, was Böhme zu Jahresbeginn nicht gelungen war – nämlich die Entzauberung der österreichischen Schmuddelkinder.

Bei der vorgezogenen Nationalratswahl Ende 2002 bestätigte sich diese Hoffnung: Die FPÖ stürzte in der Wählergunst von 27 auf zehn Prozent ab, zwei Jahre später folgte bei der Europawahl das nächste Debakel: Nur mehr rund sechs Prozent der Österreicher stimmten für Kandidaten der Freiheitlichen – ein Minus von ebenfalls 17 Prozentpunkten. Infolge dieser Niederlagen spaltete sich 2005 ein Teil der Parteikader unter Haiders Führung von der FPÖ ab und gründete das Bündnis Zukunft Österreich (BZÖ). Das sogenannte Dritte Lager war pulverisiert, bei der nächsten regulären Parlamentswahl im Herbst 2006 kamen FPÖ und BZÖ gemeinsam auf gerade einmal 15 Prozent der Stimmen. Und als Haider im Oktober 2008 bei einem Autounfall tödlich verunglückte, schien der Spuk in Österreich endgültig vorbei zu sein.

Wer zum Zeitpunkt von Haiders Begräbnis prognostiziert hätte, dass die FPÖ in nur wenigen Jahren zur beliebtesten Partei in Österreich aufsteigen würde, wäre für realitätsfern gehalten worden. Doch genau dieses Szenario trat ein: Mit Umfragewerten rund um 35 Prozent waren die Freiheitlichen im Herbst 2016 die unangefochtene Nummer eins, die einstigen Großparteien SPÖ und ÖVP, die zu dem Zeitpunkt die Regierungskoalition bildeten, brachten in den Umfragen keine Mandatsmehrheit mehr zustande. Das Ausmaß des großkoalitionären Debakels wurde in der ersten Runde der Bundespräsidentenwahl im Frühjahr 2016 offenbar, als die Kandidaten der Regierungsparteien, Rudolf Hundstorfer (SPÖ) und Andreas Khol (ÖVP), gemeinsam nicht mehr als 22,4 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen konnten. Zum ersten Mal seit dem Beginn der Zweiten Republik zogen zwei Kandidaten der Opposition in die Stichwahl: der von den Grünen ins Rennen geschickte, offiziell unabhängige Alexander Van der Bellen, und Norbert Hofer für die FPÖ. Zwar unterlag Hofer Van der Bellen bei der Stichwahl am 4. Dezember mit 46 Prozent, doch dieser Stimmenanteil verdeutlicht, wie groß die Unzufriedenheit der Wähler mit dem Status quo war – und wie ausgeprägt die Bereitschaft, die Freiheitlichen an die Spitze von Staat und Regierung zu hieven.

Während also in Österreich alle Zeichen auf einen fulminanten Sieg der FPÖ bei der nächsten Parlamentswahl standen, hat sich im restlichen Europa allmählich ein Wandel vollzogen, den die österreichische Sprachwissenschaftlerin Ruth Wodak als »Haiderisierung Europas«2 bezeichnet. Der Aufstieg der FPÖ in der Zeit zwischen Haiders Inthronisation an der Parteispitze im Jahr 1986 und der Regierungsbeteiligung der Freiheitlichen 14 Jahre später ist demnach eine Blaupause für die Entwicklungen in anderen europäischen Ländern seit der Jahrtausendwende – als ob Wien noch immer (oder, besser gesagt, schon wieder) als »Versuchsstation für den Weltuntergang« fungieren würde, um mit den Worten von Karl Kraus zu sprechen. Die einst breite politische Mitte, die noch vor wenigen Jahrzehnten gut vier Fünftel der europäischen Wahlbevölkerung ausmachte, erodiert, und an ihren Rändern entstehen Brachen. Diese werden von jenen beackert, für die der gesellschaftspolitische Status quo unerträglich und die bis dato übliche, auf Ausgleich bedachte Politik der kleinen Schritte eine Zumutung ist – und für die einfache Lösungen für komplexe Probleme das Gebot der Stunde sind.

Bis zum Ausbruch der globalen Finanzkrise im Jahr 2008 vollzog sich diese Entwicklung graduell, doch seit in den USA die Großbank Lehman Brothers bankrottging und der Funke im darauf folgenden Jahr auf die Europäische Union übersprang, wird die politische, soziale und wirtschaftliche Nachkriegsordnung in Europa einem Stresstest unterzogen. Die innenpolitischen Fieberkurven weisen nicht nur in Österreich steil nach oben, und 2015 sorgte die Flüchtlingskrise beim europäischen Patienten für einen zusätzlichen Fieberschub. Im benachbarten Deutschland, das jahrzehntelang gegen die Gefahr des politischen Extremismus immun zu sein schien, war die europa- und einwanderungskritische Alternative für Deutschland (AfD) Ende 2016 in acht Landtagen vertreten und schickte sich an, bei der kommenden Bundestagswahl 2017 mühelos die Fünf-Prozent-Wahlhürde zu nehmen und als erste Partei rechts von der CSU in den Bundestag einzuziehen. In den Niederlanden, wo 2017 ebenfalls gewählt werden sollte, deuteten alle Umfragen auf einen Sieg der Partei für die Freiheit (Partij voor de Vrijheid, PVV) des platinblonden Islamgegners Geert Wilders hin. In Frankreich, wo die Wähler im Frühjahr 2017 an die Wahlurnen gerufen wurden, um ihr neues Staatsoberhaupt zu wählen, bereitete sich Marine Le Pen, die Vorsitzende des Front National (FN), auf den Einzug in die Stichwahl vor.

Regierungsverantwortung trugen nationalkonservativ gesinnte Machtmenschen bereits in zwei osteuropäischen EU-Mitgliedstaaten: In Ungarn hatte Premierminister Viktor Orbán seit 2010 das Sagen, in Polen hielt Jarosław Kaczyński, der hinter den Kulissen agierende Vorsitzende der alleinregierenden Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość, PiS), seit dem fulminanten Wahlsieg im Oktober 2015 die Fäden der Macht in seinen Händen. Selbst im egalitären, sozialdemokratisch geprägten Dänemark gab die einwanderungsfeindliche Dänische Volkspartei (Dansk Folkeparti, DF) als Mehrheitsbeschafferin der liberal-konservativen Minderheitsregierung den Takt vor. Und während im Norden, Osten und Westen die Parteien am rechten Rand des politischen Spektrums reüssierten, waren es im Süden Europas vor allem linke Gruppierungen – in Griechenland die seit Anfang 2015 regierende Partei Syriza, die aus einem Bündnis marxistisch-leninistischer Splittergruppen hervorgegangen ist, in Italien die bunt zusammengewürfelte Fünf-Sterne-Bewegung (Movimento 5 Stelle, M5S) des Komikers Beppe Grillo, die sich in Umfragen ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit den regierenden Sozialdemokraten lieferte.

Solange die politische Mitte hielt, konnten die Krawallmacher aller Couleur immerhin im Zaum gehalten werden. Doch die Zentrifugalkräfte sind mittlerweile zu stark und reißen das hilflose Establishment mit. In den USA wurden die altehrwürdigen Republikaner, Abraham Lincolns »Grand Old Party«, vom Twitter-Demagogen Donald Trump gekapert, dessen Strategie, alle bis dahin geltenden politischen Tabus mit dem Bulldozer plattzuwalzen, sich als spektakulärer Erfolg erwies: Am 8. November 2016 wurde der Baulöwe zum 45. US-Präsidenten gewählt. In Europa wiederum wurde die zweifellos größte Niederlage seit dem Beginn des Integrationsprozesses in den 1950er Jahren – der per Volksabstimmung durchgesetzte Austritt Großbritanniens aus der EU – nicht etwa von Extremisten und Revolutionären verursacht, sondern von den konservativen Tories, der Partei von Benjamin Disraeli, Winston Churchill und Margaret Thatcher. Als der damalige Premierminister David Cameron Ende Juni 2016 beim EU-Gipfel in Brüssel das Ergebnis des Referendums rechtfertigen musste, wirkte er geradezu hilflos und erklärte, er habe dem Thema nicht ausweichen können. Der Regierungschef der fünftgrößten Volkswirtschaft der Welt und einer im UN-Sicherheitsrat vertretenen Atommacht stellte sich als getriebener Mann heraus. Und ähnlich getrieben wirkte wenige Monate später sein italienischer Kollege Matteo Renzi, der die Italiener am 4. Dezember über eine Staatsreform abstimmen ließ und im Vorfeld dummerweise seinen Verbleib im Amt mit dem Erfolg des Referendums verknüpfte – mit dem Ergebnis, dass die linke Fünf-Sterne-Bewegung und die rechte Lega Nord die Volksabstimmung über ein Sachthema zur Abrechnung mit dem Establishment im Allgemeinen und Renzi im Besonderen hochstilisierten. Für Renzi wurde das Referendum zum Desaster: Rund 60 Prozent der Wähler lehnten seinen Reformvorschlag ab – bejubelt unter anderem von Marine Le Pen, die in dem Votum den »Durst nach Freiheit« der vom Establishment geknechteten Italiener erkennen konnte, wie sie per Nachrichtendienst Twitter wissen ließ. Von der Fortüne verlassen, kündigte Renzi noch in der Wahlnacht seinen Rücktritt als Regierungschef an. Eine neue Periode der Unsicherheit brach in Italien an.

Was der Populismus nicht ist

Was verbindet den Front National mit den Befürwortern des britischen EU-Austritts, den polnischen Nationalkonservativen und dem griechischen Linksbündnis Syriza? Welche Gemeinsamkeiten haben Nigel Farage von der United Kingdom Independence Party, AfD-Aushängeschild Frauke Petry, der FPÖ-Vorsitzende Heinz-Christian Strache, Beppe Grillo, Italiens Wutbürger Nummer eins, und der protzige Polit-Self-mademan Donald Trump? So unterschiedlich ihre Anliegen und Argumente sein mögen, eines haben sie gemein: Sie gelten als Populisten. Der Populismus ist die Klammer, die diese unterschiedlichen Parteien und Figuren zusammenhält und der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich ihre Widersacher einigen können. In seiner ursprünglichen Bedeutung ist der Begriff wertneutral und bezeichnet wahlweise eine »um Volksnähe bemühte Politik« (Brockhaus) oder »politische Ideen und Aktivitäten, die darauf abzielen, größtmögliche Unterstützung seitens der Bevölkerung zu erhalten« (Cambridge Dictionary). Mittlerweile aber hat sich eine negative Konnotation durchgesetzt: Wenn heute von Populismus gesprochen wird, werden meistens die Begriffe Opportunismus, Demagogie, Skrupellosigkeit, Fremdenfeindlichkeit, Manipulation und Demokratiefeindlichkeit mitgedacht.

Insofern verwundert es nicht, dass die allermeisten Politiker, die von ihren Widersachern so tituliert werden, sich nicht als Populisten sehen, sondern vielmehr als »Patrioten«, »Nationalkonservative« (national und konservativ sind schließlich zwei respektable Adjektive) oder, sofern sie am linken Rand des politischen Spektrums zu finden sind, als »progressive Internationalisten« (Yanis Varoufakis). Populisten, die sich selbst als populistisch charakterisieren, haben Seltenheitswert – einer der wenigen Wagemutigen ist Peter Lundgren, ein Europaabgeordneter der Schwedendemokraten,3 der sich selbst folgendermaßen einordnet: »Ich mache eine Politik, die populär ist. Ich habe kein Problem damit, als Populist bezeichnet zu werden.« Insgesamt hat der Populismus eine üble Nachrede – doch was macht ihn eigentlich aus? Mit ein Grund dafür, dass er als Kampfbegriff momentan geradezu inflationär verwendet wird, ist die Tatsache, dass es erstens keine allgemeingültige Definition des Populismus gibt, er sich zweitens wunderbar als Projektionsfläche für alle möglichen Ängste eignet und er drittens gerne als Totschlagargument benutzt wird, um Rivalen zu diskreditieren. »Als populistisch bezeichnen politische Eliten all jene Forderungen, die bei einfachen Bürgern Anklang finden, bei ihnen selbst aber nicht«, stellte der US-Politologe Francis Fukuyama ironisch fest.4

Wer den Populismus vermessen will, geht am besten nach dem Ausschlussprinzip vor und klammert zu Beginn all das aus, was ihn nicht ausmacht. Zunächst einmal ist der Populismus nicht (bzw. nicht zwangsläufig) antidemokratisch. Die populistischen Gruppierungen haben meistens eigene, nicht sonderlich liberale Vorstellungen davon, wie Demokratie zu funktionieren hat (beispielsweise, indem politische Entscheidungen per direkter Akklamation seitens des Wahlvolks gefällt oder die »Checks and Balances«, das fein austarierte Gleichgewicht von Exekutive, Legislative und Jurisdiktion, in Frage gestellt werden); für die Abschaffung des Wahlrechts und die Etablierung einer Diktatur setzt sich aber niemand ein. Das hat einen guten Grund, denn die Unterstützer der Populisten wünschen sich im Regelfall nicht die Zertrümmerung der bestehenden Ordnung, sondern die Rückkehr zur »guten alten Zeit« – und sie meinen damit nicht den Führerstaat, sondern die Wirtschaftswunderjahre der Nachkriegszeit, als das Wachstum ungebrochen, die Arbeitsplätze reichlich vorhanden, die Gesellschaften homogen und die internationalen Verhältnisse überschaubar waren. Peter Lundgren trifft den Nagel auf den Kopf, wenn er sagt, die Schwedendemokraten seien heute das, »was die Sozialdemokraten in den 1970er Jahren waren« – eine Partei, die schützen und nähren will.

Ebenfalls ein Fehler wäre es, den Populismus ausschließlich über die Xenophobie zu definieren. Wer tief genug bohrt, findet zwar in den ideologischen Sedimenten der allermeisten populistischen Parteien rassistisches Gedankengut. Und Fremdenfeindlichkeit, oder besser gesagt: die Aufforderung zur Verteidigung der Heimat vor suspekten Neuankömmlingen, gehört zum Standardrepertoire der rechten Anti-Establishment-Parteien. Wer daraus allerdings den Schluss zieht, alle Wähler der Populisten seien Rassisten, liegt falsch – auch wenn es Untersuchungen gibt, die diese Hypothese zu bestätigen scheinen. So fand etwa der Politikwissenschaftler Philip Klinker im Vorfeld der US-Präsidentenwahl im November 2016 heraus, dass jene (weißen) Wähler, die Ressentiments gegenüber Afroamerikanern und Muslimen hegen, tendenziell den republikanischen Populisten Donald Trump unterstützten und die demokratische Kandidatin Hillary Clinton ablehnten.5 Das Wahlergebnis lässt sich als eine Wahlbestätigung von Klinkers These deuten: Während 88 Prozent der afroamerikanischen Wähler für Clinton stimmten, erhielt Trump 58 Prozent der weißen Voten. Einen ähnlichen Zusammenhang scheint es beim Referendum über den EU-Austritt Großbritanniens im Juni 2016 gegeben zu haben: Wer für Britain’s Exit – kurz »Brexit« – stimmte, war gegen Einwanderung.6

Dieser Erklärungsansatz ist aber aus mindestens zwei Gründen problematisch. Erstens, weil derartige Untersuchungen nur einen einzigen Aspekt hervorheben und alle anderen Variablen ausblenden. Wer allerdings schon einmal selbst gewählt hat, weiß aus eigener Erfahrung, dass sich die Wahlentscheidung nie auf ein einziges Motiv reduzieren lässt. Anders ausgedrückt: Dass es einen Zusammenhang zwischen Brexit und Einwanderung gibt, ist relativ gut dokumentiert. Mittlerweile gibt es aber auch zahlreiche Untersuchungen, die einen ebenfalls robusten Zusammenhang zwischen Brexit und dem wirtschaftlichen Wettbewerb mit dem Ausland ermittelt haben. Was stimmt nun? Vermutlich beides, bis zu einem gewissen Grad. Auch beim Ergebnis der Präsidentenwahl in den USA lohnt es sich, genauer hinzuschauen und die Wählerströme zu analysieren. Es stimmt zwar, dass eine Mehrzahl der weißen US-Bürger Trump unterstützte, wahlentscheidend für den Erfolg des republikanischen Kandidaten war allerdings die Tatsache, dass viele weiße Wähler, die vier Jahre zuvor Barack Obamas Hautfarbe ignoriert und für ihn gestimmt hatten, diesmal die Seiten gewechselt haben.7 Die »Überläufer« zu Trump waren vor allem Menschen mit einem niedrigen Bildungs- und Einkommensniveau in wirtschaftlich benachteiligten Regionen, fanden Experten des Thinktanks Resolution Foundation heraus8 – was darauf hindeutet, dass der Faktor Wirtschaft nicht unterschätzt werden sollte.

Der zweite Grund für Skepsis: Wer den Rassismus für die Hauptursache des populistischen Erfolgs hält, geht implizit davon aus, dass seine Ausbreitung in der Bevölkerung starken Schwankungen unterliegt. Wäre beispielsweise in Österreich die Fremdenfeindlichkeit der wahlentscheidende Faktor für die Freiheitlichen, dann müsste der Anteil der xenophoben Österreicher von 27 Prozent im Jahr 1999 auf zehn Prozent im Jahr 2002 gefallen und seither wieder auf 35 Prozent angestiegen sein – so viele Stimmenanteile erhielt FPÖ-Kandidat Norbert Hofer bei der ersten Runde der Bundespräsidentenwahl im April 2016. Aus der Sozialforschung weiß man allerdings, dass kulturelle und moralische Werte in einer Gesellschaft relativ fest verankert sind und nur geringen Schwankungen unterliegen. Das umfangreichste Anschauungsmaterial diesbezüglich bietet das »World Values Survey« (WVS) der University of Michigan, eine seit den 1980er Jahren in mehrjährigen Abständen weltweit durchgeführte Studie (allerdings ohne Ergebnisse aus Österreich), in deren Rahmen unter anderem abgefragt wird, ob man ein Problem damit hat, wenn in der Nachbarschaft Menschen aus anderen ethnischen Gruppen wohnen – das klassische Erkennungsmerkmal für rassistische Überzeugungen.

Die Umfrageergebnisse sprechen diesbezüglich eine relativ eindeutige Sprache: So lehnten in Schweden bei der WVS-Umfrage 1995–1998 drei Prozent der Befragten Nachbarn aus anderen Volksgruppen ab, im Zeitraum 1999–2004 waren es 2,5 Prozent, und bei der Befragung 2010–2014 outeten sich 2,8 Prozent der Schweden als xenophob. In den USA oszillierte der Anteil der Befragten mit fremdenfeindlichen Tendenzen im selben Zeitraum zwischen 5,6 und acht Prozent, in Australien zwischen 4,6 und fünf Prozent, in Nigeria zwischen 20,5 und 20,9 Prozent. Es gab zwar einige wenige signifikante Veränderungen (etwa in der Volksrepublik China, wo der Anteil der Fremdenfeinde zwischen 1995 und 2014 deutlich fiel, sowie in Deutschland, wo er ebenso deutlich anstieg), doch grosso modo blieben die Haltungen im Laufe der Jahrzehnte bemerkenswert stabil.9 Die Wahlerfolge der Populisten lassen sich also nicht ausschließlich mit Rassismus erklären.

Die Merkmale des Populismus

Wenn also Ausländer- und Demokratiefeindlichkeit nur eingeschränkt dazu taugen, den Populismus zu definieren, was sind dann seine Erkennungsmerkmale? Auf diese Frage gibt es mindestens drei Antworten. Betrachtet man die Angelegenheit aus rein »handwerklicher« Perspektive, dann ist der Populismus nichts anderes als eine Palette von Kommunikationsmethoden zur Beeinflussung der Wähler und Neutralisierung politischer Gegner. Die Kunst der verbalen Manipulation war im Altertum als Rhetorik bekannt und genoss hohes Ansehen. Wer in der Agora von Athen oder im Römischen Forum nicht als Orator reüssieren konnte, brachte es in der antiken Politik nicht weit. Einer der ersten Gelehrten, der den Versuch unternahm, die Prinzipien der Rhetorik schematisch darzulegen und für Nichteingeweihte verständlich zu machen, war der Philosoph Aristoteles. Seinen Ausführungen zufolge ruht jede erfolgreiche Rede auf drei Säulen: Ethos, Pathos und Logos. Ethos etabliert den Redner als moralische Instanz, er untermauert seine Glaubwürdigkeit und Autorität. Pathos ist der Appell an die Emotionen der Zuhörer. Und Logos ist die inhaltliche Kraft der Argumente. Nimmt man diese Dreiteilung als Maßstab für den Populismus des frühen 21. Jahrhunderts, dann könnte man meinen, die heutigen Volkstribunen würden den Logos vernachlässigen und im Gegenzug über einen Überschuss an Pathos verfügen. »Die hohe Kunst des Rhetorikers ist es, jemanden in die Gefühlswelt zu führen. Die FPÖ macht Gefühlspolitik«, analysierte der Kommunikationstrainer Walter Ötsch nach der ersten Runde der Bundespräsidentenwahl.10

Soweit das Handwerk. Doch wie steht es um die Inhalte? Diesbezüglich geben sich Populisten flexibel, um nicht zu sagen opportunistisch. Als geschickte Spekulanten an der Terminbörse der Ängste und Ressentiments investieren sie jeweils in Themen, die größtmöglichen Profit bei kleinstmöglichem Aufwand versprechen. So haben beispielsweise der Front National und die FPÖ ihre ursprünglich wirtschaftsliberalen Programme beim ersten konjunkturellen Gegenwind über Bord geworfen und dienen sich mittlerweile ihrer ökonomisch verunsicherten Klientel als retropopulistische Wohlfühloase an, in der Milch und Honig fließen und die Sachzwänge des marktwirtschaftlichen Wettbewerbs nichts zu suchen haben. Ähnlich kurzen Prozess machte in den USA Donald Trump mit den wirtschaftlichen Grundprinzipien seiner Partei – der Sieger der Präsidentenwahl predigt Abschottung statt Freihandel. Dem Wandel der Zeit unterliegen auch die Feindbilder: Wer sich in den 1990er Jahren vor kriminellen Osteuropäern fürchtete, hat nun Angst vor gewaltbereiten Muslimen. Auch bei der Wahl der Partner sind Populisten oft geschmeidiger, als dies gemeinhin angenommen wird. Im Vorfeld der griechischen Parlamentswahl im Jänner 2015 wäre nur wenigen Beobachtern in den Sinn gekommen, dass sich die linkspopulistische Wahlsiegerin Syriza ausgerechnet die rechtspopulistische Kleinpartei Anel11 als Koalitionspartnerin aussuchen würde. Populisten, die »auch bei größtem Gegenwind zu ihren Überzeugungen stehen« wie die von Jörg Haider gelobten Veteranen der Waffen-SS, würden nicht lange im politischen Geschäft überleben.

Neben dem Faible für Rhetorik und einem Hang zum Opportunismus haben Populisten noch eine dritte Gemeinsamkeit: Sie sind ausgesprochen geschickt darin, Gemeinschaften zu konstruieren. Historisch betrachtet stand diese Fertigkeit am Anfang des langen Prozesses der Staatsbildung. Stämme und Clans konnten erst dann zu größeren Gebilden verschmelzen, als ihre Mitglieder davon überzeugt waren, sie hätten gemeinsame Überzeugungen, Traditionen und Gebräuche. Nicht umsonst werden Nationalstaaten auch als »imaginierte Gemeinschaften« bezeichnet.12 Die Erzeugung eines Zusammengehörigkeitsgefühls steht auch im Mittelpunkt des populistischen Tagesgeschäfts – der Wahlspruch dazu lautet »Wir – und nur wir – sind das Volk«, wie es der an der Princeton University lehrende Politologe Jan-Werner Müller formuliert.13 Wobei es in dieser Hinsicht allerdings einen klaren Unterschied zwischen Rechts- und Linkspopulisten gibt. Erstere definieren das Volk anhand von »völkischen« Kriterien wie Abstammung, Staatsbürgerschaft, Sprache oder Heimatverbundenheit, Letztere als Gegenpart zu der herrschenden neoliberalen Oligarchie. Wenn also die Rechtspopulisten »Unser Geld für unsere Leute« fordern, behaupten die Linkspopulisten, sie seien die »99 Prozent« – so lautete der Slogan der »Occupy Wall Street«-Bewegung, die als Reaktion auf die im Zuge der Finanzkrise bekannt gewordenen Exzesse der Investmentbanken entstand. Anders ausgedrückt: Der Rechtspopulismus schließt aus, der Linkspopulismus schließt ein. Man kann »unseren Leuten« nicht einfach so beitreten, aber sehr wohl bei der Besetzung der Wall Street mitmachen, sofern man auch daran glaubt, dass der Finanzkapitalismus die Wurzel allen Übels ist. Beiden Anschauungen ist gemein, dass sie, konsequent zu Ende gedacht, die Abschaffung der Politik zum Ziel haben. Denn alle politischen Prozesse gehen von der Grundannahme aus, dass es unterschiedliche legitime Interessen gibt, die es zu moderieren und miteinander kompatibel zu machen gilt. In einer Welt, in der ein imaginiertes »Volk« immer recht hat, gibt es keinen Bedarf an Auseinandersetzung mit anderen Positionen.

Rebell, Illusionskünstler, Angstmacher

Um politisch erfolgreich zu sein, muss ein Populist drei Rollen beherrschen. Er muss sich erstens als Rebell gegen die bestehende Ordnung und das Establishment inszenieren und das Publikum davon überzeugen, dass er auf dessen Seite steht. Er muss zweitens ein talentierter Illusionskünstler sein – denn sonst könnte er nicht glaubhaft jene magischen, bestechend simplen Lösungen für hochkomplexe wirtschaftliche und gesellschaftliche Probleme anpreisen, nach denen sich seine Anhängerschaft sehnt. Und er muss drittens ein Angstmacher sein und den Wählern ständig neue, immer größere Gefahren für ihr Wohlergehen vorgaukeln. Ein guter Populist ist also eine Mischung aus Robin Hood, David Copperfield und Dschingis Khan.

Dass dieses Rebellentum oft nur gespielt ist, da viele populistische Politiker ebenso gut situiert und gesellschaftlich vernetzt sind wie ihre angeblich elitären und hochnäsigen Konkurrenten, scheint die Wähler der Populisten nicht zu stören – die hohen Sympathiewerte des Multimilliardärs Donald Trump bei der weißen Unterschicht sind diesbezüglich nur ein besonders auffälliges Beispiel. Trump und seine Kommilitonen profitieren von einer Erosion des öffentlichen Vertrauens in Entscheidungsträger. Politik, Bankwesen und Journalismus zählen mittlerweile zu den unbeliebtesten Berufssparten, dem Establishment wird vorgeworfen, die Krisen der vergangenen Jahre verschlafen zu haben und nur daran interessiert zu sein, seine eigenen Schäfchen ins Trockene zu bringen. Am besten zusammengefasst hat diese Stimmungslage – wieder einmal – Jörg Haider in einem Wahlkampfslogan aus dem Jahr 1994: »Sie sind gegen IHN, weil ER für Euch ist.« Das ist die Quintessenz des populistischen Rebellen-Ethos. Und dieser Rebell erfüllt noch eine zweite Funktion: die des Rächers, der die Eliten, die für alle Probleme verantwortlich gemacht werden, in die Knie zwingt und demütigt.

Im Inland richtet sich dieser Aufstand gegen das »Machtkartell« der Zentrumsparteien, außerhalb der eigenen Landesgrenzen hat man die vermeintlich arrogante, undemokratische und abgehobene Europäische Union als Gegner – eine Heerschar von skrupellosen Lobbyisten, seelenlosen Technokraten und gut bezahlten Winkeladvokaten, die nur darauf aus sind, hilflose Steuerzahler wie Weihnachtsgänse auszunehmen. Der Feind Europa hat auch den entscheidenden Vorteil, dass man gegen ihn agitieren kann, selbst wenn man daheim an den Hebeln der Macht sitzt und längst zum Establishment zählt, wie beispielsweise Viktor Orbán in Ungarn oder Jarosław Kaczyński in Polen. Besonders elegant geht die Dänische Volkspartei mit diesem Spannungsverhältnis zwischen Machtausübung und vorgespieltem Außenseitertum um: Als zweitstärkste Fraktion im Kopenhagener Parlament stützt sie bereits seit Anfang der Jahrtausendwende (mit einer Unterbrechung zwischen 2011 und 2015) diverse Minderheitsregierungen – sie bringt sich inhaltlich ein, kann aber zugleich von sich behaupten, abseits des Mainstreams zu stehen.

Dass dieser Trick so gut funktioniert, hat unter anderem damit zu tun, dass die Unterstützer der Populisten an klare Verhältnisse und einfache Lösungen glauben wollen. In der Unübersichtlichkeit der global vernetzten Welt, in der es keine unumstößlichen Wahrheiten mehr gibt und gesellschaftliche Rollen verhandelbar sind, bieten Populisten bestechend simple Antworten: Raus aus der EU, die Schlagbäume runter, illoyale Fabrikanten und Kuponschneider an die Kandare nehmen, Ausländer hinauskomplimentieren – und dann wird alles wieder gut. Der französische Soziologe Pierre Rosanvallon sieht die Ursache für diesen Wunsch darin, dass heutzutage weite Teile der Gesellschaft ihre Lebenswirklichkeit als mäßig bis gar nicht zufriedenstellend erleben, aber wenig dagegen unternehmen können, weil in ihrer Wahrnehmung ihre »entnationalisierten« Demokratien nicht mehr dazu imstande sind, Probleme zu bewältigen.14 Laut Rosanvallon treibt die daraus resultierende Angst dazu an, »nach Sündenböcken und magischen Lösungen zu suchen«. In einer entgrenzten, sozusagen »verflüssigten« Moderne,15 die weder in zwischenmenschlicher noch in ökonomischer Hinsicht feste Aggregatzustände zu kennen scheint, ist der Populismus der Versuch, Grenzen zu ziehen und die Gesellschaft wieder zu verfestigen. Die fast schon kindliche Hoffnung auf eine heile Legoland-Welt ist illusorisch, doch wer wie Donald Trump weiß, wie man derartige Sehnsüchte für seine Zwecke nützt, kann aus dieser Stimmungslage Profit schlagen. »Ich bediene die Fantasien der Menschen. Sie wollen glauben, dass etwas am größten, tollsten und spektakulärsten ist. Sie lassen sich leicht von Personen begeistern, die in großen Kategorien denken. Ich nenne das ehrliche Übertreibung«, bekannte der Immobilienunternehmer Trump in den 1980er Jahren.16 Für seine Karriere als Politiker drei Jahrzehnte später gilt dieses Motto umso mehr: Der Slogan, mit dem er der demokratischen Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton den sicher geglaubten Wahlsieg abspenstig machte, war bestechend simpel: »Make America Great Again« – die USA sollen wieder groß und stark werden.

Dieser naive Glaube an Wundermittel ist übrigens nicht nur bei den Wählern der Rechtspopulisten anzutreffen, man findet ihn genauso am linken Rand des politischen Spektrums. Beispielsweise in Griechenland, wo die Unterstützer des Linksbündnisses Syriza den Beteuerungen des Ministerpräsidenten Alexis Tsipras und seines Finanzministers Yanis Varoufakis Glauben schenkten, dass die Geldgeber in Brüssel und Berlin den Griechen ihre Schulden erlassen würden, wenn man nur Deutschland oft genug an die während des Zweiten Weltkriegs verübten Verbrechen erinnern und ansonsten alle im Rahmen der Hilfsprogramme vereinbarten Zusagen ignorieren würde. Angesichts der verzweifelten ökonomischen Lage in Griechenland ist es verständlich, dass sich viele Wähler an den Strohhalm der Hoffnung klammerten, den Syriza ihnen hinhielt, doch ähnlich unrealistisch schien die Erwartungshaltung in Italien bei den Unterstützern der Fünf-Sterne-Bewegung zu sein, wie die Entwicklungen nach der Kommunalwahl in Rom im Juni 2016 demonstrierten.