cover

image

Das Wissen dieser Welt aus den Hörsälen der Universitäten.

Fachbereich
PHILOSOPHIE

Die Zukunft der Hirnforschung

Von Prof. Michael Pauen

In einer sehr weit verbreiteten Vorstellung stellt die Wissenschaftsgeschichte eine Abfolge von Kränkungen des menschlichen Selbstbildes dar. Am besten auf den Punkt gebracht hat das wohl Sigmund Freud in seinen Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse 1917. Dort heißt es: „Zwei große Kränkungen ihrer naiven Eigenliebe hat die Menschheit im Laufe der Zeiten von der Wissenschaft erdulden müssen. Die erste, als sie erfuhr, dass unsere Erde nicht der Mittelpunkt des Weltalls ist. Sie knüpft sich für uns an den Namen Kopernikus. Die zweite dann, als die biologische Forschung,“ und damit ist Darwin gemeint, „das angebliche Schöpfungsvorrecht des Menschen zunichte machte. Die dritte und empfindlichste Kränkung aber soll die menschliche Größensucht durch die heutige psychologische Forschung erfahren.“ Und mit der heutigen psychologischen Forschung meint Freud in aller Bescheidenheit seine eigene Forschung.

Dieses Zitat wird bis heute sehr häufig wiederholt. In der Regel sind das Leute, die davon ausgehen, selbst der Menschheit die größte Kränkung beizubringen. Heute stehen vor allem zwei Themen zur Diskussion:

1. Zum einen das „Ich“ und das Selbstbewusstsein. Vielfach wird behauptet, die Wissenschaft habe widerlegt oder sei dabei, dass es so etwas wie ein Ich oder Selbstbewusstsein gibt.

2. Das zweite ist das Problem der menschlichen Freiheit.

Aus beidem stellt sich die Frage, ob Hirnforschung und Psychologie nicht zu einer fundamentalen Revision unseres Menschenbildes und unseres Selbstverständnisses führen werden.

Ich möchte im Folgenden zeigen, dass dem nicht so ist. Ich glaube erstens, dass unser Menschenbild heute stabil ist. Es ist auch in der Vergangenheit über längere Zeiten stabil geblieben. Weiterhin halte ich für die wesentlichste Veränderung innerhalb der Wissenschaftsgeschichte, dass an die Stelle von übernatürlichen Erklärungen, zum Beispiel einer immateriellen Seele oder Lebenskraft, natürliche, wissenschaftliche Erklärungen treten. Und das wird vermutlich auch in Zukunft so weitergehen.

Das führt aber nicht zu einer Widerlegung unseres Menschenbildes. Diese Erklärungen machen es vielmehr informativer, differenzierter und verständlicher. Wir werden mehr über uns erfahren, wir werden besser verstehen, warum wir die Fähigkeiten haben, die uns zur Verfügung stehen. Kurz: Wir brauchen kein neues Menschenbild.

Ich werde zunächst einige historische Hintergründe aufzeigen: Sie machen deutlich, dass es in der bisherigen Wissenschaftsgeschichte keine Kränkungen, keine fundamentalen Kränkungen und daher eben auch kein neues Menschenbild gegeben hat. In einem zweiten Teil versuche ich dann zu zeigen, dass die heutige psychologische und neurobiologische Forschung so etwas wie ein Ich nicht anzweifelt und behauptet, dass das Ich eine Illusion sei. Jedenfalls nicht, wenn man ein vernünftiges Verständnis davon hat, was es heißt, ein Ich zu sein.

Das Gleiche gilt auch für die Willensfreiheit. Auf die komme ich im dritten Teil. Mein Ansatz hier ist, dass wir nicht um die Willensfreiheit besorgt zu sein brauchen, wenn wir ein vernünftiges Verständnis davon haben, das wirklich unsere relevanten Vorstellungen in Bezug auf Freiheit erfasst.

Im vierten Teil werde ich schließlich auf empirische Untersuchungen zur Willensfreiheit eingehen, auf psychologische und neurobiologische Studien, die eben auch keine Widerlegung von Freiheit zum Ergebnis haben.

Historische Hintergründe

Erinnern wir uns noch einmal an das Zitat von Sigmund Freud am Anfang. Dort hieß es: Die Menschheit habe ihre erste wesentliche Kränkung erfahren, als sie erfuhr, dass die Erde nicht der Mittelpunkt des Weltalls ist. Der Urheber dieser Kränkung wäre demnach Kopernikus gewesen. Bei allem Respekt vor Freud, eine solche Behauptung kann man nur aufstellen, wenn man das mittelalterliche Weltbild nicht genau kennt. Dieses kann man sich als eine Hierarchie vorstellen, an deren unterem Ende der Mensch steht und am oberem Ende Gott. Diese Hierarchie entspricht unserem Blick unter offenem Himmel ins nächtliche Firmament. Am unteren Ende sind die Erde und der Beobachter, der auf der Erde steht. Darüber befinden sich die Planeten, die Fixsterne und schließlich in der höchsten Sphäre Gott.

Die Erde steht hier also auf der niedersten Stufe. Damit ist auch gemeint, dass die Erde aus einer Substanz besteht, die sehr wenig wertvoll ist. Die strahlenden Himmelskörper dagegen sind aus Materialien gefertigt, die wesentlich edler sind. An dieser Hierarchie-Vorstellung sieht man, dass die Erde damals nicht der Mittelpunkt des Weltalls war, sondern vielmehr ein Planet, der sich um den Mittelpunkt herumdreht.

Das ist aber nicht eine Weltsicht, wie sie zum Beispiel für Galilei selbstverständlich war. Galilei argumentiert ganz ausdrücklich, dass die Erde ein Stern ist wie anderen Himmelskörper auch, und nicht etwa der Bodensatz des Weltalls. Die Erde bewegt sich, und sie strahlt. So heißt es zum Beispiel in Galileis „Sideres Nuncius“, also der Schrift, in der er die Ergebnisse seiner Mondbeobachtungen publiziert: „Ich werde beweisen, dass die Erde sich bewegt und dass sie den Mond an Glanz übertrifft, nicht, aber“ – und jetzt kommt er auf diese traditionelle Vorstellung zu sprechen –, „eine Jauche aus Schmutz und Bodensatz der Welt ist.“ Die Quintessenz aus dieser Betrachtung ist eindeutig: Eine kopernikanische Kränkung hat es nicht gegeben. Das ist eine nachträgliche Projektion Freuds. Der Kopernikanismus hat zunächst einmal nach dem damals geltenden Weltbild eher zu einer Aufwertung der Erde geführt.

Aber hier geht es um einen Teil der Wissenschaftsgeschichte, der für unser Menschenbild nicht von entscheidender Bedeutung ist. Wesentlicher sind die Teile unseres Menschenbildes, bei denen es darum geht, ob wir wirklich selbstbewusste, bewusste und verantwortlich Handelnde sind.