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Das Wissen dieser Welt aus den Hörsälen der Universitäten.

Fachbereich

SOZIALPHILOSOPHIE

Die dynamische Gesellschaft

Prof. Dr. Norbert Brieskorn SJ

1. Sprechen über Gesellschaft

Wir haben im ersten Kapitel über das Wohlwollen gesprochen, als eine Haltung, mit der wir uns überhaupt dem Gegenstand – nämlich Gesellschaft – öffnen. Jetzt ist nun über Gesellschaft zu sprechen, wie wir sie sprachlich einfangen.

Wir haben zuerst drei Schwierigkeiten zu nennen, wenn wir über Gesellschaft sprechen. Wer über Gesellschaft spricht, trägt auch immer sich selbst vor. Da wiederum kein Mensch sich völlig kennt und völlig auszusprechen vermag, ist Gesellschaft dem Sprechenden nicht völlig begreifbar. Nicht einmal das, was er tut, begreift der Mensch vollständig in seinen Beweggründen und Folgen. Und als Teil der Gesellschaft stellt sich auch ihm die Frage der Unparteilichkeit. Streng genommen können Menschen gar nicht unparteilich sein. Und deswegen wird man sagen können, wie Goethe es ausgedrückt hat: „Aufrichtig zu sein, kann ich versprechen, unparteiisch zu sein, aber nicht.“

Eine vielfältige Gesellschaft wird aber zumindest bestimmte Abhängigkeiten, zwischen Richtern und am Streit Beteiligten etwa, strukturell vermeiden müssen. Von der Sache her gesehen ist Gesellschaft nichts Statisches. Sie ist beständig in Bewegung. Geburt und Tod der Mitglieder tragen ebenso wie der Eintritt in Rollen und das Ende von Amtszeiten zum Wechsel bei. Die sprudelnden und verschiedenen Ansichten fordern zur Diskussion heraus. Es ist unmöglich, die Dynamik der gesamten Gesellschaft in Sätze zu fangen und zu vermitteln. Es besteht die Gefahr, dass das eigene oder ein bereits überholtes Bild als „die Gesellschaft“ weitergetragen wird. Arnold Gehlen sagte einmal: Wer etwas verdingliche, also von „der Gesellschaft“ spreche, behandle sie wie ein Vergangenes. Vergegenständlichtes Tun sei dasselbe wie vergangenes Tun. „Alle Verdinglichung ist ein Vergessen“, fügt Adorno hinzu.

Gewiss hilft sich der Geist durch Eingrenzungen und Abstraktionen, doch vermag er nicht allem Unterschiedenen eine gedachte und sprachliche Form zu geben, die das Ganze erfasst. Diese Unmöglichkeit zeigt Friedrich Hölderlin in dem Gedicht, das er mit „Bonaparte“ überschrieben hat. Mit einem Hinweis auf den jungen Napoleon schrieb Hölderlin, dass Dichter zwar „heilige Gefäße“ seien, worin der Geist der Helden sich aufbewahrt, dass aber der Geist dieses Jünglings, der schnelle, wie Hölderlin sagt, jedwedes Gefäß sprengen muss. „Er kann im Gedichte nicht leben und bleiben.“

Der Geist selbst sprengt die Form, welche der menschliche Geist entwickelt hat. Er ist unfähig, sich seinen eigenen Produkten vollständig zu unterwerfen. Wir können sagen, der Geist entwischt oder entwindet sich solcher Gefangennahme. Der Geist erhebt sich über jeden Versuch seiner Einbindung und vermag sie zu seinem Außen zu machen und sich zu distanzieren. So sehr der Mensch sich seines Geistes bedienen kann, er ist doch nicht sein Herr. Denn womit könnte er es sein, wenn nicht wiederum mit dem Geist? So bleibt er seinem Geist ausgeliefert. Und die Gesellschaft, die eine vom Menschen gestaltete und ein Produkt seines Geistes ist, entwindet sich auf diese Weise. Der beobachtende Geist entwindet sich ihr.

Wenn wir diese Einwände einmal zurückstellen, erkennen wir, wie Sprache verdinglicht. Wir sprechen davon, dass es das Kind oder eine große Zahl von Bürgern gebe. Ein solches, zum Teil vermeidbares Sprechen bringt den einzigartigen Menschen in Gefahr. Er selbst erfährt sich als Sache und Ware und – mit den Worten von Karl Marx