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Das Wissen dieser Welt aus den Hörsälen der Universitäten.

Fachbereich

SOZIALPHILOSOPHIE

Was heißt Gerechtigkeit?

Dr. phil. Michael Reder

1. Was bedeutet Gerechtigkeit? Spurensuche im Alltagsverständnis

Das Nachdenken über politische Fragen in der Philosophie war im 20. Jahrhundert nicht immer populär gewesen. In den siebziger Jahren hat sich das grundlegend geändert. Denn 1971 hat der mittlerweile verstorbene US-amerikanische Philosoph John Rawls seine „Theorie der Gerechtigkeit“ vorgelegt. Das philosophische Nachdenken über Gerechtigkeit in Gesellschaft, Politik und Ökonomie spielt seither keine untergeordnete Rolle mehr, sondern ist zu einem zentralen Thema der Philosophie geworden. Man könnte auch sagen, mit John Rawls ist die politische Philosophie wieder salonfähig geworden innerhalb der Philosophie. Gerechtigkeit ist seither ein Dreh- und Angelpunkt der politischen Philosophie, das ist gewissermaßen das Erbe der Theorie der Gerechtigkeit. Wenn man heute in die Vorlesungsverzeichnisse der Universitäten weltweit schaut, so spielt Gerechtigkeit deshalb eine zentrale Rolle.

Was aber bedeutet Gerechtigkeit überhaupt? Gerechtigkeit ist sicherlich, so lässt sich schnell feststellen, kein eindimensionaler Begriff, auch die Verwendungsweisen sind oft sehr unterschiedlich. Zum einen kann man danach fragen: Betrifft Gerechtigkeit eher den einzelnen Menschen, seine individuellen Verhaltensweisen oder betrifft Gerechtigkeit die gesamte Gruppe, d.h. eine größere Gemeinschaft oder gar die Weltgesellschaft als Ganze?

Eine zweite Facette, die in gewisser Weise mit der ersten zusammenhängt, wäre: Ist Gerechtigkeit eher eine Bewertung von einzelnen Handlungen oder von gesellschaftlichen Regeln? Der erste Aspekt von Gerechtigkeit bezieht sich auf den einzelnen Menschen, der zweite versteht Gerechtigkeit als eine ethische Kategorie zur Beurteilung von Institutionen.

Der dritte Aspekt, der heute in der Öffentlichkeit viel diskutiert wird, ist die Frage, ob Gerechtigkeit ein abstraktes und allgemeines Prinzip oder eine konkrete Regel ist, die beispielsweise in konkreten Verteilungskonflikten eine Orientierung bietet.

Ein vierter Aspekt von Gerechtigkeit betrifft seine Verwendung in unserer Alltagssprache. Beispielsweise sagen wir, „das war ein gerechter Wettbewerb“ oder „das Ergebnis eines Fußballspiels ist gerecht“. Bei Fußballkommentatoren findet man diesen Begriff sehr häufig. „Das war nicht gerecht, dass sie verloren haben“ – dieser Satz meint entweder, dass eigentlich die andere Mannschaft hätte gewinnen müssen oder dass der Schiedsrichter nicht anständig gepfiffen hat.

Diese vier Aspekte spannen ein Grundraster auf, wie Menschen den Begriff Gerechtigkeit verwenden.

Wenn man sich nun der philosophischen Debatte zuwendet, dann kann man diese vier Aspekte in verschiedene philosophische Grundfragen übersetzen.

Eine erste zentrale Frage, die innerhalb der letzten zwanzig Jahre in der politischen Philosophie eine große Rolle gespielt hat, ist die nach dem Verhältnis von Gerechtigkeit auf der einen und Gleichheit auf der anderen Seite. Bedeutet, gerecht zu sein, jedem das gleiche zu geben oder kann Gerechtigkeit auch eine gewisse Form von Ungleichheit beinhalten? Und wenn es Ungleichheit gibt, worin besteht sie?

Eine zweite philosophisch spannende Frage ist die nach dem Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit. Inwieweit ist unser Recht, beispielsweise unsere Verfassung, ein Ausdruck von Gerechtigkeit? Wie hängt der ethische Begriff von Gerechtigkeit mit unserem Rechtsverständnis zusammen?

Eine dritte Frage, die in den aktuellen Diskussionen der politischen Philosophie oft auftaucht, ist folgende: Hat Gerechtigkeit etwas mit Verteilung zu tun? Und wenn ja, welche Verteilungsregel ist denn die gerechteste?

Ich möchte diese Unterscheidungen der Philosophie zum Thema Gerechtigkeit zum Einstieg an einem Beispiel illustrieren: Man stelle sich ein schönes Sommerfest vor. Man sitzt mit Freunden im Garten zusammen und stellt plötzlich fest, dass nicht genügend zu essen da ist. Man beschließt kurzerhand den Pizzaservice anzurufen und eine große Familienpizza XXL zu bestellen. In wenigen Minuten ist die Pizza da. Man setzt sich an den Tisch, und stellt sich nun die Frage: Wie teilen wir denn die Pizza auf? Die erste Frage ist natürlich, wer bekommt denn bitteschön die entsprechenden Stücke, die man aus der Pizza herausschneidet. Sind es nur die Leute, die um den Tisch herum sitzen oder sollen auch die Menschen berücksichtigt werden, die gerade im Haus sind und nicht mitbekommen, dass die Pizza schon da ist. Man weiß vielleicht, dass um Mitternacht Uhr noch späte Gäste kommen: Soll man für sie auch Pizzastücke aufheben? Es geht in dieser Perspektive im Grunde um die Reichweite von Gerechtigkeit und die Frage, wer an der Verteilung der Pizza überhaupt beteiligt werden soll.

Als zweites muss geklärt werden, nach welchem Verfahren aufgeteilt werden soll. Soll der Gastgeber bestimmen oder ein demokratisches Verfahren? Philosophisch wird diese Frage als Verfahrensgerechtigkeit diskutiert. Mit diesem Begriff ist die Suche nach einem gerechten Verfahren gemeint, mit dem entsprechende Güter, in unserem Fall die Pizza beim Sommerfest, aufgeteilt werden soll.