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Fachbereich

WISSENSCHAFTSGESCHICHTE

Die Unbelehrbarkeit des Menschen

Von Prof. Ernst Peter Fischer

Das 20. Jahrhundert hat in der Naturwissenschaft eine merkwürdige Entwicklung mit sich gebracht. Man hat ja nach dem erfolgreichen 19. Jahrhundert gedacht, dass im 20. Jahrhundert die Wissenschaft alles erfasst, alles ergreift und alles vollendet. Stattdessen hat man bemerkt, dass die wesentliche Vorsilbe des 20. Jahrhunderts die Vorsilbe ‚un' ist.

Erst wurde eine Unstetigkeit in der Natur entdeckt, dann wurde eine Unbestimmtheit in der atomaren Wirklichkeit gefunden, dann wurde sogar eine Unentscheidbarkeit bei mathematischen Gesetzen entdeckt, dann wurde eine Ungenauigkeit in der Logik als grundlegend verstanden und dann ist sogar noch – das ist das Stichwort der Chaosforschung – eine Unvorhersagbarkeit in die ganze Natur hineingekommen.

Ich möchte heute dieser Unsitte ein weiteres Beispiel hinzufügen. Ich möchte die Frage erörtern, ob trotz aller Wissenschaft, trotz aller Fähigkeit der menschlichen Gesellschaft, über Naturwissenschaft die Wirklichkeit oder das Natürliche kennen zu lernen, trotz unserer Fähigkeit, über die Dinge etwas zu lernen, nicht zum Schluss etwas übrig bleibt, was uns gefährdet. Das ist das, was ich die Unbelehrbarkeit des Menschen nenne.

Es könnte sein, dass die Evolution uns nicht in die Lage versetzt, wirklich das zu lernen, was wir benötigen, um im globalen Maßstab überleben zu können. Insofern ist es eine spannende Frage, ob der Mensch trotz aller Lernfähigkeit im Hinblick auf seinen evolutionären Ursprung unbelehrbar bleibt.

Die Überproduktion der Natur

Im Buch von Charles Darwin, über die Abstammung der Arten, ist vor allen Dingen eines auffällig, das Darwin auch als Erstes in seiner Theorie deutlich macht: Die Natur fällt dadurch auf, dass sie Überschuss produziert. Immer ist zu viel da. Denn, wenn die Natur nicht Überschuss und Übermengen produzieren würde, wäre ja auch jede Auswahl überflüssig. Wenn nur ein paar von uns hier herumlaufen würden, gäbe es keine Probleme. Das Problem gibt es dadurch, dass wir so viele sind und dass wir immer mehr werden, dass wir eine Überproduktion pflegen. Wir haben uns die Eigenschaft der Natur angewöhnt, einfach zu viel zu machen.

Die Natur hat das Verfahren der Selektion eingeführt, um bei ihrer Wirkungsweise dafür zu sorgen, dass es nicht Übermengen werden, sondern dass nur die Angepassten, die sich an das Leben gewöhnt haben, übrig bleiben. Wir machen das dadurch, dass wir uns Ziele setzen, was ja in der Evolution nicht zu erkennen ist. Ganz wichtig: Wenn man den Gedanken der Evolution anschaut, dann offenbart sie kein Ziel. Was im Übrigen auch bedeutet, dass die Evolution keine perfekten Formen des Lebens hervor bringt, sondern immer wieder fehlerhafte. Die müssen sich natürlich in jeder Situation neu anpassen.

Wir haben das ja vielleicht durch Lernfähigkeit kompensiert. Wir müssen nur schauen, wie weit diese Lernfähigkeit reicht, ob sie nicht irgendwann an ihre natürlichen Grenzen stößt.

Durch ihre Evolution und dadurch, dass sie kein Ziel hat, hat die Natur natürlich auch nie etwas Fertiges. Alles, was da ist, wird sich weiterentwickeln. Es wird nicht zum Stillstand kommen. Wir versuchen, an diesem Prozess teilzuhaben, indem wir uns Ziele vorgeben und den Prozess selbst in die Hand nehmen.

Gefährliches Ziel: Wachstum

Die Ziele haben wir bis jetzt nie diskutiert, sondern wir haben sie einfach nur hingenommen. Die Frage ist, ob diese Ziele tatsächlich leicht erreichbar sind. Bis jetzt hatten wir nämlich ein Ziel, das eigentlich gar keins ist. Dieses Ziel nannten wir Wachstum. Wir haben alle Neuerungen, alle Errungenschaften, alle Entwicklungen unter dieses Konzept des Wachstums gestellt. Das ökonomi sche Ziel, das wir vorgeben und das wir auch heute noch hören, lautet: Der Umsatz muss wachsen, der Gewinn muss wachsen, die Zahl der Autos muss wachsen, die Zahl der Produkte muss wachsen. Es muss alles wachsen, immer wieder wachsen. Wachstum ist der eigentliche Motor. Wachstum generiert Arbeitsplätze, Wachstum generiert Steuereinnahmen, Wachstum, Wachstum, Wachstum… Selbst eine doch physikalisch informierte und wissenschaftlich orientierte Bundeskanz lerin hatte es sich nicht nehmen lassen, einen Arbeitskreis ins Leben zu rufen, der ‚Innovation und Wachstum' hieß.

Dabei wissen wir längst, dass uns Wachstum schaden kann. Wir können nicht weiter wachsen. Und selbst die alte Tante ‚FAZ’ hat in einem Artikel festgehalten, dass, wer heute noch Wachstum als Ziel vorgibt – als Wachstum der Wirtschaft, Wachstum der Umsätze – der müsste eigentlich als Selbstmordattentäter bezeichnet werden. Denn, wenn wir alle so weiter wachsen, wie wir das in den letzten 100 Jahren getan haben, dann ist der Planet „Erde“ in absehbarer Zeit restlos überfordert.

Nachhaltigkeit

Jetzt stellt sich die Frage, ob wir ein neues Ziel formulieren können? Ein neues Ziel hat schon einen Namen bekommen: „Nachhaltigkeit“. Das ist ein Ausdruck, der aus dem Engli schen kommt, ‚Sustainability’