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Fachbereich

GESCHICHTE / MITTELALTER

Das heilige Römische Reich

Deutscher Nation im Mittelalter

Von Prof. Dr. Stefan Weinfurter

Vor über 200 Jahren, 1806, ging das Heilige Römische Reich deutscher Nation zu Ende. Der habsburgische Kaiser Franz II. legte die Kaiserkrone des Heiligen Römischen Reiches nieder. Ein politisches Gebilde von ganz eigener und besonderer Art löste sich damit auf, ein Reich, das fast 1000 Jahre Be-stand gehabt hatte.

Die Auflösung hatte viele Gründe. Der Nationalstaat war dabei, sich überall durchzusetzen. Die Aufklärung trieb die Säkularisation der geistlichen Fürstentümer voran. Vor allem war es die Neugestaltung Europas, die durch Napoleon vorgenommen wurde. Für den Rheinländer Joseph Görres war das Alte Reich schon 1797 mit der Eroberung der Stadt Mainz durch die Franzosen ins Herz getroffen. Am 7. Januar 1798 schrieb er seine „Rede auf den Untergang des Heiligen Römischen Reiches“ und schloss sie mit den Versen:


„Von der Sense des Todes gemäht, atemlos und bleich,

Liegt hier das heilige römische Reich.

Wandrer, schleiche dich leise vorbey, du mögest es wecken,

(…).

Ach! Wären die Franzosen nicht gewesen,

Es würde nicht unter diesem Steine verwesen.“

Requiescat in Pace.“

Aber so rasch verschwindet eine über 1000 Jahre gewachsene politische und gesellschaftliche Ordnung nun doch nicht. Vieles, was das Heilige Römische Reich ausgemacht hat, wirkt bis heute nach. Am deutlichsten wird das am föderativen Prinzip unserer modernen Staatsordnung. Aber auch im kulturellen Bereich, in der Gestalt unserer Städte, Dörfer, Klöster, Kirchen, Burgen und Schlösser haben sich wesentliche Inhalte dessen, was das Heilige Römische Reich ausgemacht hat, erhalten.

Die folgenden Ausführungen wollen ein Bild davon vermitteln, wie sich dieses Reich in verschiedenen Etappen herausgebildet hat, und der Frage nachgehen, wie die einzelnen Bestandteile des Reichstitels zustande kamen und was sie bedeuteten: „Heiliges Römisches Reich deutscher Nation“.

1) Das Reich

Die Franken

Am Anfang war das Reich – könnte man denken. Das stimmt und stimmt auch wieder nicht. Eine von der Ausdehnung her gesehen feste Größe eines Reichs gab es nie. Und außerdem: Von welchem Reich sprechen wir eigentlich? Am Anfang stand jedenfalls nicht ein deutsches Reich, sondern ein Reich der Franken, ein regnum Francorum.

Es waren kleine fränkische Volksgruppen, die sich am Niederrhein und am Mittelrhein niedergelassen hatten und im 4. und 5. Jahrhundert nach Christus in den Raum zwischen Aachen und Paris, also in das alte Römische Reich, einsickerten.

Ich verwende das Wort „einsickern“, weil man gar nicht genau weiß, wie dieser Prozess vor sich ging. Es war die Zeit des Zerfalls des West-Römischen Reichs. Dennoch war es keineswegs so, als hätten die Franken nun Teile des Römischen Reichs einfach erobert. Vielmehr wurden sie als besonders gute Krieger im 4. und 5. Jahrhundert nach Christus in die Römischen Legionen eingegliedert. Sie bewährten sich so gut, dass sie Schritt um Schritt das Kommando übernahmen. Es handelte sich also um einen Integrationsprozess auf dem Wege militärischer Leistungen. Am Anfang des Reichs, so könnte man sagen, standen Kriegertum und militärische Bewährung.

Aber die Franken waren nicht sehr zahlreich. Man schätzt, dass es vielleicht 10.000 oder 20.000 kampffähige Männer waren, doch das ist reine Spekulation. Sie waren jedenfalls so wenige, dass sie in den gallo-römischen Regionen noch nicht einmal in der Lage waren, die Sprache der Bevölkerung zu beeinflussen. Aber sie übernahmen die politische Führung. Dabei setzte sich die Familie der Merowinger gegen Ende des 5. Jahrhunderts an die Spitze.

Chlodwig

Einer aus dieser Familie mit dem Namen Chlodwig zeigte sich besonders durchsetzungsstark. Plan-mäßig brachte er alle anderen männlichen Mitglieder seiner Familie um, bis er als einziger übrigblieb. In einer Chronik aus dieser Zeit heißt es, er habe manchmal bitterlich Tränen vergossen, weil es nun niemanden mehr gab, den er noch hätte umbringen lassen können.

Dieser Chlodwig glaubte bald zu erkennen, dass er sich auf den christlichen Gott als Sieghelfer verlassen könne. Als er die Westgoten, die ganz Südfrankreich ihrer Herrschaft unterworfen hatten, angreifen wollte, befragte er den heiligen Martin an dessen Grab in Tours, ob er denn nun losschlagen könne.

Als seine Boten die Kirche betraten, hörten sie, wie der Priester gerade den Psalm 18 anstimmte: „Herr, Du wirst Deine Feinde zu Staub zermalmen und in alle Winden zerstreuen.“

Das klang gut, und diese Worte nahmen die Boten als Orakelspruch mit in das Zelt ihres Kriegsherrn. Daraufhin erteilte dieser den Marschbefehl. Die Westgoten wurden in der Tat vernichtend und für immer geschlagen.

Schon vorher, um 500, hatte sich Chlodwig in Reims taufen lassen und den christlichen Glauben angenommen. Seit seinen großen militärischen Erfolgen verehrte er vor allem den heiligen Martin, und überall, wo die Franken siegreich ihre Lanze in den Boden stießen, übernahm der heilige Martin als Heiliger die Regie in den wichtigsten Kirchen.