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GESCHICHTE / MITTELALTER

Canossa – die Entzauberung der „Welt“

Von Prof. Dr. Stefan Weinfurter

Canossa hat Konjunktur. Nicht nur wegen der großen Ausstellung in Paderborn im Jahre 2006 mit 200.000 Besuchern. Canossa hat auch sonst in unserem kollektiven Gedächtnis nichts von seiner Aura verloren.

So wollte man bei Dr. Stoiber, als er noch Ministerpräsident war, beobachtet haben, dass er sich nach Canossa begab, um sich mit seinen Parteifreunden wieder zu versöhnen. Auch der ehemalige Außen-minister Fischer kannte die Bedeutung von Canossa, und hat das Wort mehrmals in seine Reden eingeflochten. Das war ganz in der Tradition des eisernen Kanzlers Bismarck, der am 14. Mai 1872 in seiner Rede vor dem Reichstag die berühmten Worte sprach:

„Seien Sie außer Sorge, nach Canossa gehen wir nicht – weder körperlich noch geistig.“

Nach Canossa, so scheint es, wollen wir alle nicht. Dennoch sind wir bei genauerem Hinsehen alle damit verbunden. Unsere ganze Gesellschaftsordnung hat mit Canossa zu tun.

Schon die damaligen Zeitgenossen haben die tiefgreifenden Wirkungen von Canossa und der sich darum abspielenden Vorgängen empfunden. Berühmt ist der 1085 niedergeschriebene Satz des Bischofs Bonizo von Sutri:

„Als die Kunde von der Bannung des Königs an die Ohren des Volkes drang, erzitterte unser ganzer römischer Erdkreis!“

Gemeint ist der Bann, den Papst Gregor VII. am 22. Februar 1076 gegen den römisch-deutschen König Heinrich IV. ausgesprochen hatte – ein nach damaliger Auffassung einzigartiges, geradezu umstürzendes Ereignis.

Gregor VII. sprach damals die Verdammung gegen den König aus, und dieser Bannspruch war in ein Gebet an den Apostelfürsten Petrus gekleidet:

„Heiliger Petrus“, so lauteten die Worte, „Fürst der Apostel, neige, so bitten wir, gnädig dein Ohr und erhöre mich, deinen Knecht (…). Ich glaube fest daran, dass es dir in deiner Gnade (…) gefällt, dass das christliche Volk, das dir ganz besonders anvertraut ist, mir gehorcht (…). Ich glaube auch fest daran, dass mir um deinetwillen von Gott die Gewalt gegeben ist, zu binden und zu lösen, im Himmel wie auf Erden. In dieser festen Zuversicht (…) spreche ich dem König Heinrich (…), der sich gegen deine Kirche mit unerhörtem Hochmut erhoben hat, die Herrschaft über Deutschland und Italien ab und löse alle Christen vom Eid, den sie ihm geleistet haben oder noch leisten werden, und untersage, dass man ihm künftig als König diene. (…) Weil er es verschmäht hat, wie ein Christ zu gehorchen, (…) binde ich ihn mit der Fessel des Fluchs (…).“

Diese Worte kommentierte etwa 70 Jahre später der berühmte Chronist Otto von Freising so: „Ich lese wieder und wieder die Geschichte der römischen Könige und Kaiser. Doch finde ich vor Heinrich keinen einzigen unter ihnen, der vom römischen Papst exkommuniziert worden wäre.“ Worin liegt das Epochale von „Canossa“? Unter diesem Begriff verstehen wir nicht nur den Canossagang an sich, sondern „Canossa“ steht gleichsam als Chiffre, in welche auch der Bann und die Absetzung des Königs und die daraus entstandenen Folgen für die Ordnung in der Welt einbezogen sind.

Dass wir hier vor einem gewaltigen Umbruch stehen, zeigt sich schon daran, dass manche Historiker heute sogar dazu neigen, in „Canossa“ einen tieferen Wandel zu sehen als in der französischen Revolution! Ein erster Gesichtspunkt für die Einordnung der Vorgänge von „Canossa“ betrifft die neue Dimension der Gehorsamsforderung.

1. Die Hierarchie des Gehorsams

Dictatus Papae

Canossa“ ist untrennbar verbunden mit dem Namen Papst Gregors VII., der von 1073 bis 1085 auf dem apostolischen Stuhl saß. Zu allen Zeiten gingen die Meinungen über ihn weit auseinander. Auf der einen Seite stand das strahlende Bild des Verteidigers der kirchlich-göttlichen Gesetze, auf der anderen verdammte man ihn als den Zerstörer der Welt. Er war gewiss kein sanfter Charakter. Selbst seine engste Umgebung äußerte sich in diesem Sinne. „Zuchtrute Gottes“ (virga Assur) nannte man ihn da, oder man verglich ihn mit einem Tiger, einem Löwen oder einem Wolf.

Gregor VII. hat sein Reformprogramm in seinem berühmten Dictatus PapaeConstitutum ConstantiniKaiser KonstantinPseudoisidorischen Fälschungen