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Fachbereich

NEUROWISSENSCHAFT

Dein Gehirn bist Du!

Von Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer

Meine Damen und Herren, ich bin Hirnforscher von Beruf und natürlich ist Ihr Gehirn das wichtigste Organ, sonst würden Sie jetzt nicht zuhören. Ihr Kardiologe sagt Ihnen, dass Ihr Herz das wichtigste Organ ist und was der Urologe sagt, darüber möchte ich gar nicht reden. Wer hat denn nun recht? Was ist denn nun Ihr wichtigstes Organ? Nun, ich habe recht. Ich kann es Ihnen auch beweisen. Ihr Gehirn ist das einzige Organ, bei dessen Transplantation Sie lieber Spender als Empfänger sind. Woran liegt das?

Ganz einfach. Ihr Herz: man kann Ihnen ein neues einbauen, auch dann sind Sie es immer noch. Neue Niere, neue Leber, das geht alles und Sie sind es. Wenn Ihnen aber ein neues Gehirn eingepflanzt wird, dann wacht am nächsten Tag der Spender auf, guckt in den Spiegel und wundert sich, dass er so aussieht wie Sie. Das ist eigenartig, nicht? Ihr Gehirn, das haben Sie nicht so, wie Sie ein Herz oder eine Niere haben. Nein, Ihr Gehirn, das sind Sie. Und das sage ich nicht einfach nur so, oh nein, Ihr Gehirn, das sind Sie in einer Weise, wie man das heute nachvollziehen kann und wie man es auch verstanden hat. Und darum geht es heute letztlich: Sie sind Ihr Gehirn, Sie haben nicht eines. Was heißt das, dass man sein Gehirn ist?

Beobachtung von Aufbau und Arbeitsweise des Gehirnes

Ich werde oft gefragt: „Warum ist denn Neurowissenschaft heute so interessant? Die gibt es doch schon lange.“ Stimmt. Gehirnforschung gibt es seit spätestens Mitte des letzten Jahrhunderts. Es hängt davon ab, wie man da zählt. Schon in der Steinzeit hat man Hirnoperationen durchgeführt und später hat man sich ganz viel mit dem Hirn beschäftigt. Aber so richtig Gehirnforschung, tote Gehirne auseinanderschneiden, in feinste Scheibchen und dann unter das Mikroskop legen, einfärben und genau nachsehen, was denn da ist. Das hat man im letzten und sogar schon im vorletzten Jahrhundert gemacht. Was kriegt man heraus, wie das Gehirn funktioniert, wenn man tote Gehirne in feinste Scheibchen auseinanderschneidet?

Wenn Sie wissen wollen, wie Ihr Handy funktioniert und Sie schneiden es in feinste Scheibchen und legen diese unter das Mikroskop, dann bekommen sie gar nichts. Die Gehirnforschung ist heute viel weiter als vor hundert Jahren aufgrund von zwei wesentlichen Fortschritten. Zum einen wissen wir, wie die Bauteile des Gehirns, die Nervenzellen, zumindest im Prinzip funktionieren und zum zweiten können wir dem Gehirn bei der Arbeit zusehen. Beides ist noch nicht so alt. Aber miteinander kombiniert – Bauteile kennen und dem Gehirn von außen durch den Kopf bei der Arbeit zusehen – beides zusammen hat zu revolutionierenden Durchbrüchen geführt, die unglaublich spannend sind und dazu führen, dass wir uns heute in der Gehirnforschung mit Fragen beschäftigen, von denen wir noch vor 10, ja manchmal sogar noch vor 5 Jahren, gar nicht gedacht hätten, dass man sie überhaupt mit der Gehirnforschung bearbeiten kann. Zum Beispiel: Wie entsteht Vertrauen? Was ist Meditation und zu welchen Effekten führt sie? Wie gehen Gruppen miteinander um und was bedeutet es, wenn sie kooperieren? Was heißt es, wenn sie nicht kooperieren? Wo steckt Fairness im Gehirn oder vielleicht auch Dankbarkeit? Oder wo Schadenfreude?

Noch vor 10 Jahren waren es sehen, hören, tasten, vielleicht einmal die Finger bewegen, und dann hat man geschaut, wenn ich hier bewege, dann leuchtet es da. Heute gibt es die verrücktesten Sachen. Sagen wir einmal, Psalm 23 beten mit Inbrunst und ohne. Dann macht man den Vergleich und guckt nach, wo steckt im Kopf die Inbrunst? Das ist nicht von mir ausgedacht, das gibt es schon. Eigentlich ist heute nur noch die Fantasie der Forscher der limitierende Faktor dafür, was man in der Gehirnforschung alles untersuchen kann. Man kann im Prinzip alles untersuchen und es wird sich immer wieder zeigen, dass dies auch Relevanz hat. Es ist auch wichtig,was dabei herauskommt. Es ist nicht nur interessant, na ja, es leuchtet eben da und da, nein, es kommen auch Dinge heraus, die ganz unerwartet sind. Die uns über uns selbst neue Dinge sagen, auf die wir mit den Möglichkeiten, die wir bislang gehabt haben, durch pures Nachdenken also, nie gekommen wären.

Gehirnforschung im Interesse der Selbsterkenntnis

Dem Gehirn bei der Arbeit zusehen, bringt uns also im besten Sinne Selbsterkenntnis. Diese Selbsterkenntnis kann man zum Guten für sich selbst einsetzen. Letztlich geht es hier um Selbsterkenntnis, denn Ihr Gehirn, das sind Sie! Wenn Sie es besser kennen, dann unterliegen Sie ihm nicht wie ein Sklave, nein, dann haben Sie es in der Hand. Sich selbst besser im Griff, in der Hand zu haben, ist kein schlechtes Ziel – und das ist auch das Ziel der Gehirnforschung.

Zu den Bauteilen. Was macht denn so eine Nervenzelle? Eine Nervenzelle ist zunächst einmal eine Zelle, die darauf spezialisiert ist, elektrische Impulse weiterzuleiten, entlang von langen Nervenfasern. Diese sind richtig lang im Vergleich zum kleinen Zellkörper. Nervenzellen leiten elektrische Impulse. Nun weiß man schon seit Jahrzehnten ganz genau, wie diese elektrischen Impulse zustande kommen. Wie sie entlang der Zellmembranen laufen, warum sie da laufen, was es dazu braucht. Jugendliche lernen heute im Gymnasium die Ionenkanäle, Neurotransmitter und Rezeptoren, die an diesen Prozessen beteiligt sind, rauf und runter. Dinge, welche die Neurobiologie in langen Studien herausgefunden hat, für die es auch Nobelpreise gab. Heute lernt man, was so ein Neuron alles biochemisch und physiologisch macht. Interessanterweise wird in den Schulen kaum gelehrt, was das Ganze soll. Was macht denn so ein Neuron? Nun, ein Neuron verarbeitet letztlich Informationen. Das tut es so ähnlich wie ein Computer. Aber es gibt auch große Unterschiede.

Nullen und Einsen im Gehirn