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Fachbereich

PHYSIOLOGISCHE PSYCHOLOGIE

Wie viel Gedächtnisverlust verträgt das Alter?

Von Prof. Dr. Hans Joachim Markowitsch

Einführung

Jeder weiß, dass mit zunehmendem Alter unser Gedächtnis schlechter wird. Es fallen einem die Namen von Personen nicht mehr so leicht ein, man vergisst Dinge – insbesondere wenn man unter Stress steht und vieles zur gleichen Zeit zu erledigen hat. In früheren Zeiten waren derartige Probleme von geringerer Bedeutung, wurden auch von der Umwelt weniger wahrgenommen. Die Leute wurden früher nicht so alt wie heute. Die meisten waren im Alter auch weit weniger gefordert als wir das heutzutage sind. Heutzutage muss in der technisierten Welt auch ein alter Mensch mit dem Handy umgehen können, muss möglichst in der Lage sein, einen Videorekorder zu bedienen und er sollte, wenn möglich, seinen Enkeln zumindest zu Anfang auch noch ein wenig Technik beibringen können, obwohl das in der Realität häufig schon umgekehrt ist.

Heutzutage ist die Situation alter Menschen grundlegend anders. Es ist von großer Bedeutung, sich im Alter möglichst lange seine kognitiven Fähigkeiten zu erhalten, was an sich schon ein Problem ist. Man kann das an einer Reihe von Dingen ablesen, sowohl auf der Verhaltensebene wie auch am Nervensystem. Beispielsweise muss man mit 75 Jahren im Intelligenztest nur halb so viele Fragen richtig beantworten wie mit 21 Jahren. Das heißt, an Jugendliche werden weit mehr geistige Forderungen gestellt als an alte Menschen.

Wenn wir das Nervensystem betrachten, sehen wir, dass es im Alter grundsätzlich abbaut. Wir haben im Alter von 20 Jahren rund 170.000 Kilometer Nervenfasern, dagegen verfügen wir mit 90 Jahren nur noch über weniger als die Hälfte – also nur 40 bis 50 Prozent der Nervenfasern, die wir mit 20 Jahren haben. Gerade die Fasern – also die Verbindungen – sind das wichtigste auf Hirnebene, weil Kommunikation – wie wir alle wissen – von zentraler Bedeutung ist und die Verschaltung von einer Hirnregion zur anderen eben über die Nervenfasern erfolgt. Des Weiteren verlieren wir täglich 85.000 Nervenzellen, also im Grunde eine Nervenzelle pro Sekunde – von der Geburt bis zum Tode. Man hat das bis zum Alter von 90 Jahren berechnet: In diesem Alter hat man zehn Prozent weniger Nervenzellen im Gehirn als man mit 20 Jahren hatte.

All das spricht natürlich dafür, dass unsere Hirnleistungen im Alter zurückgehen. Es spricht aber andererseits auch dafür, dass wir möglichst frühzeitig damit beginnen sollten, den natürlichen, nervlich bedingten Altersabbau zu korrigieren, ihm entgegen zu wirken. Alte Menschen interessieren sich besonders für die Frage, ob die Tatsache, dass wir in unseren Leistungen ab 50 Jahren nachlassen, benigne – also gutartige – Vergesslichkeit ist, die sich darin zeigt, dass man plötzlich die Nachnamen von Leuten nicht mehr so parat hat wie früher, oder ob es bereits der Beginn eines Demenzzustandes, der Ansatz einer Alzheimer-Erkrankung ist.

Die zentrale Erkenntnis der Wissenschaft in diesem Zusammenhang kann man unter dem Motto „Bildung schützt vor Alzheimer“ zusammenfassen. Menschen, die einen höheren Bildungsstaus haben, die sich weitflächiger für ihre Umwelt – sowohl die soziale Umwelt, die Mitmenschen, wie auch für Fakten aus der Umwelt – interessieren, haben eine höhere Chance, wenn überhaupt, dann später an Alzheimer zu erkranken als andere, die sich schon früh geistig zurückziehen und sich kognitiv nicht mehr sonderlich anstrengen. Man sollte sich also folgenden Satz zu Herzen nehmen: Alles was mein Gedächtnis im Alter verbessert, hilft mir, möglichst lange geistig gesund zu bleiben.

Gedächtnis

Bevor ich darüber spreche, was wichtig ist, um sich geistig fit zu halten, welche Gedächtnisbereiche eher gefährdet sind und welche weniger, muss ich erst einmal erklären was Gedächtnis ist und wozu wir Gedächtnis brauchen.

Ich werde mit der Frage beginnen: Wie hat sich Gedächtnis im Tierreich entwickelt? Wir wissen, dass Gedächtnis grundsätzlich auch im Tierreich wichtig ist, um zum einen das Überleben des Individuums und zum anderen das der Art zu sichern. Für Tiere, das wissen auch die meisten Menschen, ist Geruch – also das Geruchsgedächtnis – zentral. Ein Tier lernt, welche Pflanze schmackhaft und welche schädlich bzw. im Extremfall toxisch ist, also den Körper schädigt. Für ein Tier ist es ebenso wichtig wie für den Menschen, sich möglichst lange zu merken, was eher nützlich ist, um schädliche Nahrung zu vermeiden, die möglicherweise sogar zum Tod führen kann. Tiere halten sich also insbesondere über Geruch und Geschmack – also das Geruchsgedächtnis – lange am Leben. Sie merken sich, was für sie gut und schlecht ist. Soweit zum Überleben des Individuums.

Geruchsgedächtnis