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Fachbereich PHILOSOPHIE

Ethik – Das gute Leben

Von Prof. Wilhelm Vossenkuhl

Was ist der Kern des guten Lebens?

Sie werden sich fragen, was soll die ganze Beschäftigung mit der Ethik eigentlich? Was für ein Ziel hat man, wenn man sich so intensiv mit der Frage beschäftigt: Was ist gut? Was ist schlecht? Was soll ich tun? Was soll ich nicht tun? Was darf ich tun?

Es muss ein Ziel geben. Es muss, wir würden heute sagen, ein Motiv, ein Grundmotiv geben, warum man sich mit all diesen Fragen beschäftigt. Und dieses Motiv ist seit der Antike, seit es Ethik in unserem Sinne gibt, die Frage: Wie ist das gute Leben möglich?

Wie können wir durch unseren eigenen, individuellen Beitrag das gute Leben für uns selbst und für die gesamte Gesellschaft erreichen?

Was ist das gute Leben? Jeder wird unter dem guten Leben etwas anderes verstehen. Aber wie dem auch sei, ob nun derjenige, der Sport unter gutem Leben versteht oder die Beschäftigung, das hohe Einkommen, den beruflichen Erfolg, den persönlichen Erfolg, das Ansehen.

All das sind Elemente oder Mosaiksteinchen des guten Lebens. Nichts kann allein für sich das gute Leben an sich, auch nicht das gute Leben des Einzelnen bewirken. Ganz ähnlich, analog, ist es mit dem guten Leben der Gesellschaft.

Was kennzeichnet das gute Leben einer Gesellschaft?

Das war sicher in der Antike anders als heute. Obwohl, in der Antike gab es bereits das, was wir heute haben: das gute Leben. Aber auch da war es ohne ein Rechtswesen, ein funktionierendes Rechtswesen, nicht möglich. Das war schon unter Aristoteles und Platon der Fall.

Also, Gesetze sollen herrschen. Sie sollen unparteilich von Richterinnen und Richtern angewandt werden. Es soll also Rechtssicherheit herrschen. Das ist ein ganz wesentliches Element des guten Lebens. Aber natürlich soll es auch Arbeit geben. Es soll Bildung geben. Ein Gesundheitswesen, das nicht zu teuer ist und dennoch funktioniert. Nicht zuletzt die Infrastruktur. Wir wollen auf Reisen gehen. Wir wollen von A nach B kommen. Wir brauchen Straßen, Eisenbahnen, Flüge.

Auch die Polizei gehört zum guten Leben. Was wäre unser Eigentum wert, wenn es nicht Personen gäbe, die sich darum kümmern, dass nicht jeder, der sich des Eigentums des anderen bemächtigen will, auch Erfolg hat.

Aber bevor wir uns in der Vielfalt verlieren, geht es um die Frage: Was ist der Kern des guten Lebens? Was ist das, was wesentlich für das gute Leben ist?

Da haben wir zum einen alle die Güter, auf die wir nicht verzichten können. Das beginnt bei so simplen aber entscheidenden Dingen wie dem eigenen Leben. Es darf nicht gefährdet sein. Das Leben von niemandem darf gefährdet sein. Wir können uns keine Gesellschaft vorstellen, die gut leben kann, in der ein bestimmter Teil unter der Gefahr, das Leben zu verlieren, existieren muss. Das kann keine gute Gesellschaft sein. Warum nicht? Weil sich die anderen, die vermeintlich gut leben, weil sie in Sicherheit leben, eigentlich fragen müssen:

„In welcher Art von Gesellschaft leben wir denn, wo es uns gut geht, aber den fünf oder sechs Prozent der anderen nicht. Warum können wir nicht für alle Sicherheit haben?“

Diese Mehrheit, denen es gut geht, kann eigentlich auch nicht gut leben, ohne zu wissen, dass es den anderen gut geht.

Freiheit

Was gehört noch dazu, zum guten Leben? Wir haben natürlich Nahrung, Kleidung, Unterkunft. Aber vielleicht entscheidender als das und unverzichtbarer als immer ausreichend viel Nahrung, ist all das, was uns befähigt, unsere Freiheiten, unser Können weiter zu entwickeln. Denn das Können macht uns frei. Es befähigt uns besser zu leben als jetzt oder zu erreichen, ein gutes Leben zu führen. Ohne dieses Können ist keine Freiheit möglich, und ohne Freiheit ist das gute Leben nichts wert. Freiheit ist ein unverzichtbarer Bestandteil. Es hat keinen Sinn zu sagen:

„Warum wollen wir nicht auf einige Freiheiten verzichten? Der Staat sorgt dann dafür, dass es uns gut geht.“

Es gab Gesellschaften, in denen es genau so war. Sie hatten genug zu Essen, genug Arbeit, es gab sogar Vollbeschäftigung in einigen sozialistischen, wahrscheinlich in allen sozialistischen Staaten, aber ein Großteil der Freiheiten hat gefehlt. Ist das ein gutes Leben? Sie werden mir sicher zustimmen, das kann kein gutes Leben sein. Ohne meine Bewegungsfreiheit, ohne meine Wahlentscheidung, dass ich dahin reisen und gehen kann, wohin ich will, dass ich den Beruf ergreifen kann, den ich will, das kann kein gutes Leben sein.