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Das Wissen dieser Welt aus den Hörsälen der Universitäten.

Fachbereich WISSENSCHAFTSGESCHICHTE

Die Nachtseite der Wissenschaft

Von Prof. Ernst Peter Fischer

Wenn von Naturwissenschaften die Rede ist, dann denkt man an etwas Einsichtiges, etwas Helles, etwas Klares, etwas Durchschautes. Man denkt nicht an Dunkelheit oder Nacht. Trotzdem glaube ich, dass es eine Nachtseite der Wissenschaft gibt, dass es Träume gibt, die zur Wissenschaft gehören, dass bestimmte Dinge nur durch merkwürdige Offenbarungen in der Wissenschaft zustande kommen, und dass vieles von dem, was wir wissenschaftlich vortragen, etwas ist, was die Menschen früher im Dunkeln gesehen haben. Ich würde gerne über diese Nachtseite der Wissenschaft und die Kreativität, die aus dieser Nachtseite entspringen kann, etwas erzählen.

Der Begriff „Nachtseite“ ist ein Begriff, der aus der Romantik kommt. Genauer gesagt, gab es im Jahre 1808 einen Philosophen, Gotthilf von Schubert, der eine Vorlesung hielt mit dem Titel: „Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft.“

Er meinte damit allerdings die Zeit, als die Menschen noch nicht das Gefühl hatten, dass sie aus der Natur herausgetreten waren, dass der Mensch der Natur gegenüber stand, sondern dass der Mensch noch in der Natur war. Schubert fragte - übrigens im Beisein von Caspar David Friedrich und Heinrich von Kleist - was das denn eigentlich für eine Sicht gewesen sei, als der Mensch noch in der Natur war? Das ist jetzt nicht mein Thema. Ich möchte über die Frage sprechen: Wo kommen die wissenschaftlichen Gedanken eigentlich her? Meine Behauptung ist, dass sie aus Quellen kommen, die nicht im Lichte des Bewusstseins erkannt werden können, die also eine Art Nachtseite darstellen. Es ist wichtig, dass wir über diese Nachtseite Bescheid wissen.

Ich möchte dies nicht philosophisch oder psychologisch tun, sondern historisch, weil es ja viel Wissenschaft gibt, weil es viele Erkenntnisse der Wissenschaft gibt. Einige der großen Wissenschaftler haben darüber berichtet, wie die Wissenschaft funktioniert. Auf die möchte ich jetzt eingehen.

Noch eine kleine Anmerkung vorweg. Es gibt immer wieder so witzige Burschen, die das alles genauer und schöner formuliert haben. Ich liebe vor allen den Aphoristiker und Experimentalphysiker Lichtenberg aus dem 18. Jahrhundert. Georg Christoph Lichtenberg, hat mal gesagt:

„Wenn alle Flaschen verschlossen geblieben wären, dann wüssten wir weniger.“

Also mit anderen Worten, es gibt offenbar ein lösendes, ein erlösendes Mittel für Ideen, die tief in uns stecken. Wir müssen eben herausfinden, wie wir an diese Ideen kommen. Nicht unbedingt, indem wir trinken, was natürlich auch hilfreich sein kann. Aber wir müssen fragen: Wie funktioniert Forschung? Wie kommt die Wissenschaft, vor allem die Naturwissenschaft zu ihren Ergebnissen?

Normaler Weise gibt es darauf eine klare Antwort, die aus der Philosophie kommt. Das Standardwerk, das immer zitiert wird, ist die Arbeit des Philosophen Karl Popper, die im Jahre 1934 zum ersten Mal erschienen ist, „die Logik der Forschung.“

Sie merken schon, es geht darum, die Forschung als etwas darzubieten, was vollständig logisch funktioniert und logisch zu ihren Erweiterungen und Fortschritten kommt.

Karl Popper

Für Karl Popper sieht die Sache etwa folgender Maßen aus. Er sagt, Wissenschaft fängt mit einer Hypothese an. Sie haben die Vermutung, dass zum Beispiel Stoffe sich ausdehnen, wenn sie erwärmt werden. Jetzt prüfen Sie diese Vermutung in einem Experiment. Karl Popper sagt zunächst:

„Eine Hypothese ist nur dann eine wissenschaftliche Hypothese, wenn sie sich in einem Experiment überprüfen lässt.“

Wenn Sie irgendwas Allgemeines über den Menschen sagen und kein Experiment dazu machen können, dann ist das für ihn völlig irrelevant. Sie müssen in der Lage sein, eine experimentelle Prüfung zu übernehmen. Er selbst erörtert das am Beispiel des Satzes:

„Schwäne sind weiß.“

Das ist die Hypothese. Jetzt gehen Sie in den Zoo oder gehen spazieren und suchen einen Schwan. Wenn Sie einen weißen Schwan sehen, dann haben Sie Ihre Hypothese verifiziert. Oder Sie nehmen ein Stück Metall, erhitzen das und stellen fest, es dehnt sich aus. Dann haben Sie Ihre Hypothese verifiziert.

So schön das auf den ersten Blick sein mag, Sie sind damit nicht weiter gekommen. Denn Sie wissen jetzt genau so viel wie vorher. Sie haben die Hypothese, dass sich die Stoffe ausdehnen, wenn Sie sie erwärmen oder die Hypothese, dass die Schwäne weiß sind. Jetzt kommt der entscheidende Schritt bei Popper. Er sagt, Forschung kommt dann voran, wenn sie ein Experiment oder eine Beobachtung macht, die der Hypothese widerspricht. Er spricht dann von der Falsifizierung dieser Beobachtung.

Zum Beispiel, Sie gehen nach Australien und sehen einen schwarzen Schwan, oder Sie nehmen Gummi, erhitzen das und merken, wie es zusammenschrumpft.

Plötzlich müssen Sie die Hypothese ändern. In dem Moment haben Sie eine Falsifizierung erreicht. Sie sind gewisser Maßen gezwungen, oder Sie sind in der Lage oder berechtigt, eine neue Hypothese aufzustellen. Jetzt fangen Sie wieder von vorne an. Jetzt haben Sie ja wieder eine Hypothese, die Sie im Experiment verifizieren oder falsifizieren können. Wenn Sie die Hypothese verifiziert haben, ist das ganz nett, aber damit kommen Sie nicht recht viel weiter. Wenn Sie die Hypothese dann aber falsifiziert haben, sagen Sie:

„Jetzt kann ich weiter fortschreiten.“

Das nennt Karl Popper „Logik des Fortschritts“. Und tatsächlich, wenn Sie einen durchschnittlichen Professor an einer durchschnittlichen Universität fragen, wie die Wissenschaft funktioniert, dann wird er sagen, so wie Karl Popper es beschrieben hat.

Karl Popper wollte vor allem auf zwei Dinge hinweisen. Zunächst, dass die Wissenschaft das Experiment braucht, dass ohne das Experiment nicht von einer wissenschaftlichen Arbeit gesprochen werden kann, dass vor allem eine Hypothese nur dann in die Sphäre der Wissenschaft gehört, wenn sie sich im Experiment prüfen lässt.

Popper wollte insgesamt darauf aufmerksam machen, dass die Menschheit bescheiden sein sollte. Der Wissenschaftler kann nicht endgültig etwas wissen, sondern sein Wissen bleibt hypothetisch.

Denn er weiß nicht, ob es noch eine Beobachtung gibt, die eventuell seine Hypothese widerlegt, die also zur Falsifizierung führen kann.

Ich muss immer mit der Möglichkeit rechnen, dass ich eine Beobachtung, eine Erfahrung, eine Messung mache, die mit meinen Hypothesen, mit meinen Vorstellungen, mit meinen theoretischen Angaben nicht übereinstimmt. Dann muss ich dieses Wissen aufgeben. Und das ist die Grundidee bei Popper.