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Das Wissen dieser Welt aus den Hörsälen der Universitäten.

Fachbereich

WISSENSCHAFT & GLAUBE

Gottes Wort oder Menschenwerk?

Die Bibel – missverstanden zu allen Zeiten

Von Martin Urban

Die Bibel ist das wirkmächtigste Buch der Weltgeschichte. In jeder zweiten Wohnung in Deutschland findet sich eine Heilige Schrift. Die Bibel und ihre Geschichten sind aus der westlichen Kultur nicht weg zu denken. Im Gegenteil, das ´Buch der Bücher' bestimmt Denken und Fühlen, ja sogar selbst die Sprache derjenigen, die noch nie in der Heiligen Schrift gelesen haben. Auch sie kennen wohl die babylonische Sprachverwirrung, sie bekommen schon mal eine Hiobsbotschaft und wissen dann weder aus noch ein. Sie waschen ihre Hände in Unschuld. Sie wollen nicht um ein Jota abweichen von dem, was einmal festgelegt ist. Das sind alles Redewendungen aus der Bibel.

Mit der Bibel in der Hand wurden Revolutionen gemacht. Sola scriptura, allein die Schrift, war der Schlachtruf der Protestanten im Reformationszeitalter. Die großen Dissidenten-Gruppen des 12. Und 13. Jahrhunderts, Katharer und Waldenser in Südfrankreich, die in blutigen Kriegen verfolgt und ausgerottet worden sind, beriefen sich ebenso auf die Bibel wie die durch den Vatikan lediglich mundtot gemachten Befreiungstheologen in Lateinamerika im 20. Jahrhundert. Das alles waren innerchristliche Auseinandersetzungen. Die Inquisition war eine Antwort der Katholischen Kirche auf die zu Ketzern gewordenen Katharer. Der Dreißigjährige Krieg die Folge der Reformation durch Martin Luther. Immer ging und geht es um die Deutung des „Buchs der Bücher“.

Die Bibel ist zwar das meistgelesene Buch der Welt, aber zugleich auch das am wenigsten verstandene. Ihre Wirkung entfaltet sie gerade auch dort, wo sie nicht oder falsch verstanden wird. Denn die Heilige Schrift hat es in sich: Sie kann Menschen helfen, ihr Leben zu bewältigen. Sie hat Männer und Frauen zu Helden und Heiligen gemacht. Sie kann aber auch Werkzeug dazu sein, die Menschen für dumm zu verkaufen. Auf die Bibel, den Teil, den wir heute Altes Testament nennen, hat sich Jesus berufen. Auf die um das Neue Testament erweiterte Bibel haben sich aber auch die Kreuzritter und die sie befehligenden Päpste bezogen. Darauf berufen sich weiterhin Menschen, die andere im Na-men Gottes verfolgen. Darauf berufen sie sich, wenn sie ihre Wahrheit als die Wahrheit propagieren. Die Bücher der Bibel wurden schon von ihren Verfassern mit jeweils bestimmter, aber unterschiedlicher Zielsetzung geschrieben. Und das Ziel war nicht, die Geschichte möglichst faktengenau zu dokumentieren, sondern sie – oft ohne Rücksicht auf die Fakten – zu deuten. Es hat lange gedauert, bis die Theologen das verstanden haben. Die Fundamentalisten unter ihnen begreifen es bis heute nicht. Aus dem Elend Europas nach dem Dreißigjährigen Krieg erwuchsen sowohl die intellektuelle geistige Strömung der Aufklärung als auch die den Glauben verinnerlichende Religiosität des Pietismus. Der Pietismus fördert die persönliche Frömmigkeit und Glaubensüberzeugung, verbunden mit dem Hang zum Missionieren. Die Bibel dient der „Erbauung“ der frommen Leser. Die heutigen Pietisten gehören zu den Fundamentalisten. Das heißt, sie propagieren die Irrtumslosigkeit der Heiligen Schrift und halten sie für mehr oder minder wörtlich vom Heiligen Geist inspiriert. Aufklärung kann dagegen, so definierte der Philosoph Immanuel Kant anno 1784, den Menschen zum „Ausgang aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ verhelfen. „Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.“ Aufklärung und fundamentalistische Frömmigkeit sind zwei höchst unterschiedliche Weltsichten. Folge der Aufklärung ist eine neue Herangehensweise an das Buch der Bücher.

Die intensive wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Heiligen Schrift hat in den letzten Jahrzehnten dazu geführt, dass wir die Bibel auf ganz andere Weise verstehen können als dies früheren Generationen möglich war. Gleichzeitig ergeben die Erkenntnisse der Wissenschaften, die sich um das Verständnis dessen bemühen, was da in unserem Kopf passiert, wenn wir zu verstehen suchen, eine neue, darüber hinausgehende, Interpretationsebene. Sie hat damit zu tun, dass wir begreifen können, wie und inwiefern wir uns Bilder von der Welt machen müssen, die aber nicht die Welt sind, sondern eben Welt-Bilder.