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AUSDAUERND
ERFOLGREICH

Impressum

Ausdauernd erfolgreich

1. Auflage

Alle Rechte vorbehalten. Wiedergabe, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlags.

ISBN: 978-3-902480-39-2

Gesamtherstellung:
egoth Verlag GmbH

Mehr über unsere Autoren und Bücher: www.egoth.at

MARIO STECHER

Olympiasieger

Weltmeister

AUSDAUERND
ERFOLGREICH

EIN AUTOBIOGRAPHISCHER RATGEBER

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Inhalt

Vorwort

Wie alles endete …

Kenntnisse erwerben

Trainer, Idole und Mentoren

Pläne fassen

Ein Sprung für die Geschichtsbücher

Motivationen finden

Der Job, der Weg, der Erfolg

Herausforderungen annehmen

Körperliche Erfahrungen für geistige Reife

Widerstandsfähigkeit zeigen

I always came back

Strategien erarbeiten

Mein Vorteil, dein Nachteil

Verantwortung übernehmen

Cordoba ist überall

Vertrauen aufbauen

Als ich die beste Laufzeit erzielte

Respekt entgegenbringen, Respekt einfordern

Die Könige auf dem Papier

Emotionen zulassen

Wie viel sind 57 Sekunden?

Ausdauernd erfolgreich

Triumphator in der werbefreien Zone

Nachwort

Für immer Nordischer Kombinierer

Zeitleiste

Mario Stecher

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VORWORT

zur 1. Ausgabe im Frühjahr 2015

WIE ALLES ENDETE …

Noch ein paar Stockeinsätze, dann bin ich im Ziel – wie schon öfters in dieser Saison wieder einmal irgendwo im Mittelfeld. An diesem 24. Januar 2015 sollte es der 19. Platz werden. Der Tag hat sehr gut begonnen, mit einem neunten Rang auf der Schanze. Er hätte besser enden können. Im 10-Kilometer-Langlaufrennen hatte ich herausragend schlechte Ski erwischt. Die wechselnden Wetter- und Schneeverhältnisse mit Temperaturen um die null Grad Celsius hatten es unserem Wachsteam nicht leicht gemacht. Die Pause zwischen Sprung und Lauf war kurz, es gab somit nur wenig Zeit zum Testen. Ich startete fünf Sekunden vor dem Japaner Akito Watabe, der sicher kein besserer Läufer ist als ich. Er kam als Zweiter 1,8 Sekunden hinter Eric Frenzel ins Ziel, mein Rückstand betrug 1:18 Minuten.

Und so stehe ich im Zielraum des Langlaufstadions in Sapporo, 9000 Kilometer Luftlinie von meiner Frau und meinen Kindern entfernt, und suche nach dem Rucksack mit meinen Sachen. In meinem Kopf trage ich einen Kampf mit mir selbst aus. Tags zuvor war ich 32. geworden. Man hatte uns mitgeteilt, dass die Besseren aus unserem Team zum Weltcup nach Predazzo reisen würden. Dort musste ich allerdings unbedingt dabei sein, wollte ich mich noch für die Weltmeisterschaft in Falun qualifizieren. Mein Sprung in Sapporo war sehr gut gewesen, vielleicht der beste in diesem Winter. Auf der Schanze passt meine Form also. Und was die Loipe betraf – also bitte, mit solchen Geräten unter den Füßen war wirklich nicht mehr drin gewesen. Jeder, der das Rennen gesehen hatte und die Umstände kannte, würde mir recht geben. Wie immer dem sei, ich hatte mich an beiden Tagen innerhalb des österreichischen Teams nicht so schlecht geschlagen. Besser geht’s immer, schon klar. Aber ich muss keinen Gedanken daran verschwenden, dass mich der Trainer aus der Mannschaft nehmen könnte.

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Der Rückflug von Japan nach Mitteleuropa ist lang. In zwölf, dreizehn Stunden gibt es viel Gelegenheit zum Essen, Schlafen, Lesen und Reden. Im Gespräch mit unserem Sprungtrainer Falko Krismayr, der in Sapporo auch der Chefcoach gewesen war – Christoph Eugen, der eigentliche Cheftrainer war leider nicht mitgereist – skizziere ich ein Szenario, das ich selbst nicht als realistisch betrachte: Sollte ich in Predazzo nicht dabei sein, dann wäre meine Karriere wohl vorbei. Wir sehen einander an, ich muss ein wenig grinsen – was man halt so redet, wenn der Flug lang ist.

Carina, meine Frau, holt mich vom Flughafen in Innsbruck ab, und wir fahren nach Hause. David und Luis, unsere Kinder, fallen mir um den Hals, als ich dort ankomme. Die Tür unseres Hauses in Leins fällt hinter mir zu und lässt den Job draußen. Ich fühle mich glücklich und zufrieden. Berufliches und Privates zu trennen war für mich nie einfach, doch ich bemühe mich, mein Familienleben nicht mit den Schwierigkeiten und Herausforderungen des Berufsalltags zu vermischen.

Tags darauf gehen Carina und ich in Seefeld langlaufen. Das ist zunächst einmal als Zeit „für uns“ gedacht. Aber an diesem Montag, dem 26. Januar 2015, endet unversehens meine Laufbahn als Nordischer Kombinierer in der Weltcup-Mannschaft Österreichs. Sie hatte fast genau zweiundzwanzig Jahre zuvor in Saalfelden mit meiner ersten Teilnahme an einem Weltcup begonnen, und die Art und Weise, wie sie endet, hinterlässt einen bitteren Nachgeschmack.

Gilo – das ist der Spitzname unseres Cheftrainers – ruft mich am Handy an. Wir tauschen ein paar belanglose Floskeln aus, bevor er sagt: „Die Entscheidung ist so, dass du in Val di Fiemme nicht dabei sein wirst.“

Mir bleibt fast der Atem weg. „Warum?“

„Du hast deine Chancen gehabt, und ich entscheide mich gegen dich.“

„Aber du weißt schon, wie das Resultat in Sapporo zustande gekommen ist?“

„Ja, darüber habe ich mich informiert.“

„Ich muss deine Entscheidung akzeptieren, Gilo. Wir haben einander nichts mehr zu sagen.“

Ich beende das Telefonat abrupt. Innerlich raste ich fast aus. Ich sage Carina, dass ich mich jetzt abreagieren muss, und lege auf den Loipen von Seefeld die wohl schnellsten fünf Kilometer meiner gesamten Karriere zurück.

Nachdem ich mich wieder etwas beruhigt habe, rufe ich Ernst Vettori an, den Nordischen Sportdirektor des Österreichischen Skiverbandes (ÖSV). Ich mag ihn sehr, wir haben Jahrzehnte miteinander verbracht. Vettori ist trotz seiner Verbandsfunktionen in erster Linie Sportler, sogar Olympiasieger, und kann sich daher als Sportdirektor ungleich besser in seine Athleten hineinversetzen als andere. Er hört mir aufmerksam zu, zeigt sich verständnisvoll wie immer und bedauert die Situation. Er kann sie aber nicht ändern. „Mario, du weißt so gut wie ich, dass ich mich nicht gegen einen Cheftrainer stellen kann. Das wäre ein Misstrauensbeweis, da könnte ich ihn auch gleich rauswerfen.“

Bis Mittwoch hoffe ich noch auf ein kleines Wunder. Ich stelle mir vor, dass noch ein Anruf kommt, der meine Karriere verlängern wird. In meiner Phantasie liegt meine Laufbahn auf der Intensivstation, und ich höre mich sagen: „Die nächsten 48 Stunden entscheiden“.

Wie alle wissen, hat sie es nicht geschafft. Der Acht-Mann-Kader für Predazzo wird nicht offiziell bekanntgegeben. Der „Kurier“-Journalist Christoph Geiler meldet sich am Mittwoch bei mir und fragt nach, wie es denn in Hinblick auf den nächsten Weltcup in Italien aussieht. „Ich werde nicht dabei sein“, sage ich, und er ist mehr als überrascht.

Meine Karriere endete also tatsächlich an einem nach mitteleuropäischen Maßstäben entlegenen, beinahe nachrangig zu nennenden Standort der Nordischen Kombination – nicht an einem Traditionsort wie Seefeld, Ramsau oder Schonach. Auch nicht im Mekka unseres Sports, am Holmenkollen, wo 1994 alles so richtig begann. Japan war über Jahre hinweg nicht im Weltcupkalender der Kombination vertreten. Mein letzter Auftritt fand vor nur einigen hundert Zuschauern statt, kurz nach 14 Uhr Ortszeit, also 6 Uhr morgens mitteleuropäischer Zeit.

Ehrlich gesagt, so habe ich mir meinen Abgang nicht vorgestellt. So habe ich ihn auch nicht verdient. Wenn ich davon spreche, dass ich in Falun bei der Weltmeisterschaft dem Team eventuell helfen oder vielleicht auch selber erfolgreich hätte bleiben können, bewege ich mich auf einem schmalen Grat. Einerseits kann ich nicht beweisen, dass es so geschehen wäre. Andererseits kann mir auch niemand das Gegenteil beweisen. Ich hätte es vorgezogen, wenn es anders gelaufen wäre: Ich hätte lieber Resultate gebracht, die meine Aufstellung bei der WM zweifelsfrei gerechtfertigt hätten. Ich hätte lieber eine überzeugende letzte Saison abgeliefert, mit großem Finale in Oslo.

Es hat nicht sollen sein. Die Ergebnisliste ist das Evangelium des Sports. Bis Mitte Januar war ich in meiner letzten Weltcupsaison nicht besser und nicht schlechter als andere. Es wäre unnötig und unfair, mich auf frühere Meriten zu berufen, nach dem Motto: „Nach allem, was ich für den Sport getan habe, steht mir eine Sonderbehandlung zu“. – Ich war nie eine Mimose. Dennoch stelle ich fest: Wenn andere besser werden, verändern sich die Gesichter der Teamkollegen. Das war so, als ich am Anfang meiner Karriere stand und bereits Arrivierte den Platz räumen mussten. Aber 22 Jahre später stellte sich die Situation doch etwas anders dar, denn Jüngere und Ältere standen miteinander auf Augenhöhe. Wenn man aber den Nachwuchs auf dem Weg nach vorne unterstützen will, darf man denen, die den Karren die letzten Jahrzehnte hindurch gezogen haben, nicht in die Beine grätschen. Mir wurde einfach die Chance genommen, mich bis zum Ende mit den anderen zu messen und um die WM-Plätze zu kämpfen. Trotzdem habe ich großen Respekt vor allen, die in Falun dabei waren, vor allem aber Hochachtung vor Bernhard Gruber, dem Weltmeister.

Gilos Verhalten im Januar 2015 ist vielleicht, sogar wahrscheinlich die Konsequenz eines Disputs, den wir drei Monate zuvor hatten. Im Sommer davor hatte ich mich mit dem Trainerteam zusammengesetzt und über meine Vorstellungen davon gesprochen, wie das Training ablaufen sollte. Ich wollte im Kader bleiben, da und dort aber eigene Wege gehen können. Es war ein unproblematisches Gespräch, und ich freute mich auf die Weltcupsaison, obwohl ich wusste, dass sie ohnehin meine letzte sein würde.

Je näher der Saisonauftakt in Kuusamo rückte, umso mehr wollte ich Klarheit darüber erlangen, wer denn nun beim Weltcupauftakt in Finnland dabei sein würde – und auch einige andere wollten das. Unser Cheftrainer versuchte sich zuerst um die Antwort zu drücken, musste aber auf unser Drängen hin schließlich doch Farbe bekennen. Es sei im Frühjahr mit dem ÖSV vereinbart worden, dass die Nordischen Kombinierer zwei, drei Wochen vor Saisonbeginn eine Qualifikation mit allen Kaderathleten absolvieren würden. Die besten zehn wären dann in Kuusamo dabei.

Nun gab es, wie in allen anderen Sportarten auch, einen Nationalkader, der fünf Sportler umfasste. Aber im Gegensatz zu anderen Disziplinen waren nicht einmal diese gesetzt. „Warum gibt es diese Abstufungen dann eigentlich?“, fragte ich. Ich war verärgert und beunruhigt. Schließlich war mein gesamter Trainingsplan auf die Weltmeisterschaft Ende Februar 2015 und nicht auf Mitte November 2014 ausgerichtet.

Am 19. November kam es somit in Kuusamo, auf einer schwierigen und windanfälligen Schanze, zum Showdown der österreichischen Kombination. In der ewigen Nacht des Polarwinters begannen die „Trials“ unter Flutlicht, bei nebeligen Verhältnissen mit verdammt viel Wind. Wäre es nicht so absurd gewesen, hätte es fast einen Hauch von Romantik und Größe gehabt: So wie die besten US-amerikanischen oder jamaikanischen 100-m-Läufer sich für die Olympischen Spiele qualifizieren müssen, müssen sich auch die Nordischen Kombinierer für den Auftakt des Weltcups qualifizieren: Carl Lewis, Usain Bolt, Mario Stecher – hier gibt es keinen Unterschied und keine Ausnahme.

Die Kader-Verantwortlichen stehen auf dem Trainerturm. Die Sicht ist schlecht; auch die Schneekanonen, die im angrenzenden Skigebiet auf Hochtouren laufen, hüllen den Schanzentisch in dichten Nebel. Einer der Betreuer möchte die Anlaufspur noch mit einem Besen auskehren; er will überprüfen, ob die Spur in Ordnung ist, um für alle Springer die gleichen fairen Voraussetzungen für die so wichtige Anlaufgeschwindigkeit zu schaffen. In diesem Moment leuchtet die Geschwindigkeitsanzeige auf; sie zeigt 45 km/h. Vielleicht war ein Hase durch die Lichtschranke gelaufen, oder es lag ein technischer Defekt vor. „Der letzte Springer war aber echt schnell“, bemerkt einer der Nachwuchstrainer lachend zu seinem Kollegen, „lass gut sein, es wird schon passen.“ Und so unterlässt dieser sein Unterfangen.

Der Startreihenfolge liegt die aktuelle Weltrangliste zugrunde. Womöglich denkt er, dass ohnehin kein Athlet seiner Mannschaft den Nachteil einer eventuell langsameren Spur auf sich nehmen müsste.

Der Springer mit der Nummer 1, das Salzburger Nachwuchstalent Marco Beikircher, könnte heute tot sein. Er kracht mit einer Geschwindigkeit von rund 90 Stundenkilometern gegen einen nicht entfernten Sperrbalken. Der Sportler reißt die Arme vors Gesicht, drückt das Gesäß nach hinten und rutscht unter dem Balken durch. Sein Flug endet nach 20 Metern mit einem Sturz. Er bricht sich einen Halswirbel und zieht sich weitere Verletzungen an der Nase und den Fingern zu. Einer der ÖSV-Physiotherapeuten leistet erste Hilfe. Im Krankenhaus von Kuusamo ist bereits Dienstschluss, also können keine Röntgenaufnahmen gemacht werden. Der Wirbelbruch wird erst später in Salzburg diagnostiziert. Ist schon die ärztliche Versorgung vor Ort ein Skandal, so trifft das noch viel mehr auf das Verhalten einzelner Trainer zu. Während der Physiotherapeut empfiehlt, sofort ins Krankenhaus zu fahren, meint ein Nachwuchsbetreuer, man möge aus einer Mücke jetzt doch keinen Elefanten machen. Ein anderer sagt, man solle jetzt erst einmal die Qualifikation zu Ende springen, dann könne man immer noch ins Spital fahren.

Mein Sprung in Kuusamo war nicht gut genug; meine Laufleistung auch nicht. Ich lag weit zurück und konnte mich somit nicht qualifizieren. Der Disput mit Christoph Eugen erreichte einen ersten Höhepunkt, aber wir sprachen uns aus, und damit war die Sache für mich erledigt. Ich wollte nach vorne schauen. Aber vielleicht bin ich Gilo dabei doch zu sehr auf die Zehen getreten. Monate später ließ er mich dann spüren, wer das Sagen hatte.

In der gesamten Saison 2014/15 war der Wurm drin. Nicht nur ich war unzufrieden, auch andere Athleten waren es. Dabei ging es um getroffene und nicht eingehaltene Zusagen, um fragwürdige Entscheidungen der Trainer bei der Zusammenstellung der Teams und grundsätzlich um die Tatsache, dass sich jeder, ob jung oder alt, von Weltcup zu Weltcup aufs Neue qualifizieren musste. Gleichgültig, in welcher Karrierephase man gerade steht: So kann sich niemand weiterentwickeln, weil mittelfristige Planung und gezielter Leistungsaufbau auf diese Weise unmöglich werden.

Noch vor der Weltmeisterschaft in Falun bekomme ich einen Anruf, ob ich im ersten Bewerb nach dem Saisonhighlight beim Weltcup in Lahti dabei sein wolle. Hatte ich richtig gehört? Mit meinen 37 Jahren will man mich nach Finnland mitnehmen, nachdem man den ganzen Winter über die Jungen forciert hatte? Will man mir etwa noch ein paar Sprünge auf den schönsten Schanzen der Welt schenken, quasi als versöhnlichen Abschluss? Nein, die Worte bleiben mir nicht im Hals stecken. Trocken gebe ich zurück: „Ich habe als Spitzensportler nichts mehr vor, ich beende meine Karriere.“

Als ich mit Falko Krismayr darüber rede, findet er einfühlsame Worte, die mir Gänsehaut machen: „Du kannst immerhin glücklich darüber sein, dass du deine Karriere mit einem richtig guten Sprung beendet hast.“

Ein paar Tage auf Gran Canaria bringen mich auf andere Gedanken. Ich spiele erstmals nach vier Jahren wieder ein paar Runden Golf, und das nicht einmal schlecht. Die Schläge gelingen ganz gut, allerdings auf einem anderen Niveau als früher. Nach meiner Rückkehr hatte ich mit dem Leistungssport abgeschlossen.

Ja, ich hätte meine Karriere 2013 beenden können, als ich den WM-Titel im Sprint zwar um 0,2 Sekunden verpasste, aber eine Silbermedaille gewann, mit der niemand gerechnet hatte. Ich hätte meine Laufbahn 2014 nach der vierten Olympia-Medaille in Serie abschließen können. Dann hätten die einen gesagt, dass ich den richtigen Moment gewählt hätte, die Ski in die Ecke zu stellen. Die anderen hätten mir empfohlen, doch bitte weiterzumachen, wo es auch noch einige Sponsorenverträge auszuhandeln gäbe. Und jetzt, im Frühjahr 2015, musste ich hören und lesen, dass auch ich eben einer von denen wäre, die den richtigen Zeitpunkt versäumt haben, um Abschied zu nehmen.

Glauben Sie es mir oder nicht – es gibt nur einen einzigen richtigen Moment, das zu beenden, was man tut: wenn man keinen Spaß mehr daran hat. Dies gilt nicht nur für den Spitzensport, sondern auch für das Berufsleben oder für die Freizeitgestaltung. Wenn Briefmarkensammeln keine Befriedigung mehr bietet, lässt man es ja auch sein, oder nicht?

So gesehen habe ich zum genau richtigen Zeitpunkt aufgehört. Die Vorbereitung zu meiner letzten Saison im Weltcup war keineswegs mühevoll, sondern einfach und erfüllend. Der Spaß ging im Laufe der Saison etwas verloren; die Erfolgserlebnisse fehlten. Bei einem Trainingslager gemeinsam mit Falko Krismayr und einigen Nachwuchsathleten, Anfang Januar in Frankreich, kehrte er aber nochmals zurück, und auch in Sapporo sorgte Falko für einen großartigen Zusammenhalt innerhalb der Mannschaft.

Je älter ich werde, desto mehr weiß ich, dass alles, was ich mache, ein Ablaufdatum hat. Die Entscheidung, bis in den Winter 2014/15 weitergemacht zu haben, habe ich nie bereut. Ich durfte das tun, was ich am besten konnte: Nordische Kombination. Diese Zeit mit all ihren Höhen und Tiefen kann mir niemand wegnehmen. Auch jetzt müsste ich nicht wirklich aufhören. Ich wäre mir allerdings nicht sicher, dass mein rechtes Knie – nach zehn Operationen – zwei weitere Jahre bis zur WM 2017 in Lahti durchsteht. Wenn die Perspektive fehlt, hält sich auch der Spaß in Grenzen.

Das Skispringen werde ich allerdings wirklich vermissen. Nie wieder springen zu können, nie wieder das Gefühl der Spannung im Körper und Entspannung des Geistes zur gleichen Zeit erleben zu dürfen – dieser Gedanke schmerzt. Skispringen ist für mich das Nonplusultra, es ist mit nichts anderem auf der Welt zu vergleichen. Der Kick eines guten Sprungs, eines perfekten Flugs, ist wie eine Sucht. Der Rekord am Holmenkollen oder in Schonach, der WM-Sprung in Val di Fiemme 2013 – das waren Momente, für die es sich lohnte, zu leben und hart zu arbeiten. Für einen befriedigenden Sprung benötigt man absolute physische und psychische Fitness. Wenn ich die nicht habe, wenn ich nur über 70 Prozent meiner Leistungsfähigkeit oder weniger verfüge, werde ich nicht über einen Schanzentisch springen. Langlaufen gehen kann ich jeden Tag, bis ins (hoffentlich) hohe Alter; Skispringer aber werde ich nie wieder sein.

Jeder, der mich kennt, weiß, dass ich ein offener, ehrlicher Mensch bin, der nicht davor zurückscheut, Dinge direkt anzusprechen. Aber ich bin kein Krawallmacher. Was ich schreibe, basiert auf eigenen Erlebnissen, Erfahrungen und Einstellungen. Dieses Buch soll die Höhen und Tiefen meiner Karriere illustrieren. Es soll aufzeigen, was ich gelernt habe, und es mag dadurch zur Anregung für andere dienen. Spitzensport mag für manche mit dem "normalen" Berufsleben verglichen werden, für mich aber ist er härter, direkter und brutaler – eine Welt in Schwarz und Weiß.

Lassen Sie sich von mir mitnehmen auf eine spannende und lehrreiche Reise – und blicken Sie mit mir hinter die Kulissen der Nordischen Kombination, die – wohl auch durch meinen Beitrag, wie ich in aller Bescheidenheit anmerken möchte – zu einer der erfolgreichsten Wintersportarten Österreichs geworden ist.

Mario Stecher

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Kindheit in Eisenerz

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Mit meiner Schwester Natalie und meiner Mutter Theresia bei meinem fünften Geburtstag; beim Wandern; mit unseren Eltern Theresia und Norbert

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Skisport faszinierte mich von klein auf; meinen Wachskoffer nahm ich sogar mit ins Bett

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Laufen und Fußball waren ein guter Ausgleich zum Skispringen

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Mit meinem Vater unterwegs

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Meine kleine Schwester und ich; bei meiner Firmung (rechts)

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KENNTNISSE ERWERBEN

TRAINER, IDOLE UND MENTOREN

Gold, Silber, Eisen Vater, Opa, Trainer Mein erster Wettkampf, ein Sinnbild meiner Karriere Als Nordischer Kombinierer und nicht als Skispringer nach Stams Nykänen, Sulzenbacher, Muster Deutsch, Mathematik, Turnen Absolvent des Skigymnasiums, Athlet des WSV Eisenerz Rohrmoser, Toferer, Juric: meine Familie bei Atomic.

Im Erzbachtal gibt es eine Sagengestalt – den Wassermann, der in einem kleinen Tümpel in der Nähe des Leopoldsteinersees nördlich von Eisenerz lebte. Die Ureinwohner des Tales wollten ihn fangen, und das gelang ihnen dank eines Mantels, den sie mit Pech bestrichen hatten. Für seine Freilassung machte der Wassermann den Dörflern dieses Angebot:

„Gold für 10 Jahr’,

Silber für hundert Jahr’

oder Eisen für immerdar!“

Die klugen Bewohner entschieden sich für das Eisen, was den Ruf von Eisenerz, meiner Heimatstadt, begründete. Auch für die Nordische Skihauptschule, in der ich eines der ersten „Versuchsobjekte“ war, ist die Stadt bekannt und für das Nordische Ausbildungszentrum. Viele prominente Sportler aus Sprunglauf und Kombination kommen aus Eisenerz: zum Beispiel Reinhold Bachler, der Skisprung-Silbermedaillengewinner 1968 in Grenoble, Daniela Iraschko-Stolz, die Skisprung-Weltmeisterin 2011 und Weltcup-Gesamtsiegerin 2014/15, David Zauner und Lukas Klapfer. Auch August Musger (1868–1929), dessen Erfindung die TV-Übertragungen bereichert hat und ohne die keine Sportübertragung vorstellbar ist, ist ein Eisenerzer – er entwickelte die Zeitlupentechnik. Der Zauberspruch des Wassermanns, der Eisenerz reich gemacht hat, hat also vielerlei Formen angenommen. Die Stadt hatte sich für Eisen entschieden. Einige ihrer Bürger, so auch ich, haben noch zusätzlich ein wenig Gold oder Silber hinzugefügt.

Eisenerz ist ein schönes, beschauliches Städtchen. An die 11.000 Einwohner hat es um die Mitte der 1970er Jahre. Mein Vater Norbert ist Lehrer, meine Mutter Theresia ist Krankenschwester. Meine Kindheit ist glücklich. Wenn es um Sport geht, dann meist um Fußball und Sprunglauf. Im Fernsehen, wenn sie denn übertragen werden, laufen Skisprung-Wettbewerbe. Das ur-österreichische Familienritual, am 1. Januar zuerst das Neujahrskonzert und dann das Neujahrsspringen in Garmisch-Partenkirchen zu verfolgen, wird auch bei uns überall gepflogen. Mit fünf beginne ich, mit meinem Opa Norbert und anderen Kindern kleine Schanzen zu bauen und mit den Skiern drüberzuhüpfen. Solange noch ein wenig Schnee liegt, fahren oder springen wir fast jeden Tag und amüsieren uns königlich dabei. Ab und zu fährt Gerhard Niederhammer, der Trainer des WSV Eisenerz, mit dem Springerbus vorbei und ruft meinem Großvater zu: „Jetzt schick ihn doch endlich zu mir!“ Damit meint er mich.

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Mario am Berg mit Opa Norbert

Es dauerte dann noch gut zwei Jahre, bis ich schließlich bei ihm in die Lehre ging. Er hat mich als Skispringer geformt. Oft hat er mir das Du angeboten; erst 2010 nahm ich es an. Einen besseren Trainer und verständnisvolleren Betreuer als Niederhammer hätte ich mir nicht wünschen können. Wann immer ich im Laufe meiner Weltcupkarriere besonders starke Phasen hatte, vor allem im Januar, war das auch deswegen, weil ich über die Weihnachtsfeiertage mit ihm in Eisenerz trainieren konnte.

Mit Niederhammer fahre ich im Winter 1985 zu meinem ersten Wettbewerb nach Bad Ischl. Es ist das erste Mal, dass ich ohne meine Eltern unterwegs bin. Sie sorgen sich beinahe zu Tode, weil wir nicht und nicht zurückkommen. Meinen Begleitern war entgangen, dass es sich um ein Nachtspringen handeln würde. Nach dem ersten Durchgang liege ich in Führung. Zum zweiten treten wir in umgekehrter Reihenfolge des Klassements an. Ich komme also als letzter an die Reihe und produziere meinen ersten Sturz bei einem Wettkampf. Ich falle bereits im Anlauf. Niederhammer erwirkt, dass ich meinen Versuch wiederholen darf. Ich stehe ihn – und gewinne.

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Mario mit Trainer Gerhard Niederhammer

Die Umstände meiner ersten Konkurrenz werden somit zum Symbol für meine ganze Karriere: erfolgreich, schmerzhaft und von Menschen begleitet, die sich für mich einsetzen. Mein Trainer kümmerte sich wirklich um jeden in seiner Gruppe. Er sorgte für ein freundschaftliches Verhältnis untereinander und für sehr viel Spaß. Ich erinnere mich an kein einziges Mal, an dem ich nicht gerne zum Training gegangen wäre.