TrŸgerischer Engel

 

 

Alexa Innocenti

 

Trügerischer Engel

 

Roman

 

 

 

Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung der Verlage, Herausgeber und des/der Autors/Autorin bzw. der AutorInnen unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Die Personen und Handlungen in diesen Geschichten sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

Impressum:

 

www.karinaverlag.at

Text © Alexa Innocenti

Lektorat: IWO

Layout, Textüberarbeitung © Karin Pfolz

Covergestaltung © Detlef Klewer

© 2017, Karina Verlag, Vienna, Austria

www.karinaverlag.at

 

 

 

 

 

Für die einzigen Menschen, die mich so annehmen, wie ich bin –

mit all meinen Licht- und Schattenseiten

Pino, Piero, Sandro - die einzigen Konstanten in meinem Leben.

Ich liebe euch!

 

 

1 6

2 9

3 13

4 20

5 33

6 41

7 47

8 60

9 69

10 79

11 90

12 100

13 107

14 114

15 120

16 132

17 152

18 161

19 167

20 177

21 185

22 194

Epilog 211

 

 

1

»Und so hat der Alltag uns wieder.« Eva Waldner schloss seufzend die Haustüre auf und betrat schwer bepackt ihr adrettes Einfamilienhaus. Im nächsten Augenblick setzte sie den großen Hartschalenkoffer mitten im Flur auf den Boden.

»Was für ein Mief«, murmelte sie naserümpfend. Offenbar wurde während ihrer Abwesenheit kein einziges Mal gelüftet.

»Was hast du denn erwartet, Liebling? Das Haus war ja über zwei Wochen unbewohnt«, ließ sich Ralphs Stimme hinter ihr vernehmen. Er hievte zwei weitere Gepäckstücke herein und schloss die Tür.

»So, geschafft. Endlich zuhause!« Schelmisch lächelnd trat er auf Eva zu, legte seine Hände auf ihre Hüften und suchte forschend ihren Blick.

»Hey, was hast du denn vor?«

»Na, was denkst du wohl, was ich vorhabe?« Der neckende Tonfall und seine blitzenden Augen verhießen pure Leidenschaft. Trotzdem war Eva nicht in Stimmung für romantische Zweisamkeit.

»Also, jetzt lass mich doch erst mal ankommen …« Kichernd versuchte sie, sich seinem Griff zu entwinden.

»Will ich ja … Aber du raubst mir den Verstand, Liebling. Den ganzen Flug über habe ich an nichts anderes gedacht. Deine Schuld, wenn du so sexy aussiehst. Ich habe die appetitlichste, süßeste und schönste Frau der Welt. Wie kannst du da erwarten, dass ich in deiner Gegenwart nicht auf unanständige Gedanken komme?«, flüsterte er an ihrem Ohr. Warmer, nach Pfefferminz duftender Atem streifte ihr Gesicht.

Wider Willen musste Eva lächeln. Allerdings fühlte sie sich nach der langen Reise überhaupt nicht appetitlich und wunderschön, wie ihr Mann behauptete. Wenn sie wenigstens schnell duschen könnte …

»Ralph, warte.«

»Schsch… entspann dich, Liebling«, überging Ralph ihren halbherzigen Protest. »Ich tue nichts, was du nicht willst.« Er löste ihre Haarspange und spielte mit Evas herabwallender, glänzender Mähne. Seine Fingerspitzen fanden und liebkosten ihre erogenen Zonen im Nacken, streichelten sanft ihren Hals und wanderten langsam in den Ausschnitt ihres T-Shirts. Eva spürte, dass ihr Körper auf seine Liebkosungen reagierte. »Du weißt wirklich, wie du eine Frau schwach machen kannst«, flüsterte sie und fühlte ihren Widerstand schwinden. Sie ließ geschehen, was geschehen sollte und erwiderte seine Umarmung mit wachsender Leidenschaft. Wie gut er roch! Sie nahm einen Hauch seines teuren Aftershaves wahr, das er kurz vor dem Rückflug aufgetragen hatte. Erwartungsvoll schloss sie die Augen und bog den Kopf zurück. Als er spielerisch an ihrer Halsbeuge knabberte und ihre Augenlider, ihre Wangen und ihre halbgeöffneten Lippen mit hauchzarten Küssen bedeckte, stöhnte Eva wohlig auf. Seine Fingerspitze zeichnete die Kontur ihrer Unterlippe nach, bevor seine Zungenspitze sich behutsam an den Seiten ihres Mundes vortastete und Eva lustvolle Schauer vom Kopf bis zu den Zehenspitzen bescherte. Ihre Hände fuhren unter sein Shirt und streichelten seinen muskulösen Rücken, während ihr Innerstes sich immer mehr in dem leidenschaftlichen und zärtlichen Spiel ihrer Zungen verlor. Die Zeit hielt inne. Eva konzentrierte sich ganz auf diesen Moment, wollte ihn ins Unendliche ausdehnen. Doch schließlich hielt sie es nicht mehr aus und löste sich atemlos von ihm.

»Komm«, stieß sie hervor und zog ihn ungeduldig Richtung Couch. Vergessen waren Müdigkeit und der Wunsch nach einer Dusche. Es gab nur noch diesen sexy Mann – und sie. Sie wollte ihn. Hier, jetzt, sofort …

 

Mitten in der Nacht erwachte Eva und schaute sich schlaftrunken im Raum um. Fahles, geisterhaftes Mondlicht fiel durch halb geschlossene Rollläden und ließ die Konturen der Möbel nur schemenhaft aus den Schatten treten. Fröstelnd stemmte sie sich auf die Ellenbogen. Sie erkannte, dass sie sich auf dem Teppich vor der Couch im Wohnzimmer befand. Neben ihr lag Ralph, nackt wie Gott ihn schuf. Seine gleichmäßigen Atemzüge zeugten von tiefem, erschöpftem Schlaf. Kein Wunder, er hatte – im Gegensatz zu ihr – während des dreizehnstündigen Fluges von Los Angeles nach München kaum ein Auge zugetan. Und anstatt zuhause sofort todmüde ins Bett zu sinken, beschert er mir die romantischste Liebesnacht seit Monaten, dachte sie glücklich.

 

Sie erhob sich leise und breitete fürsorglich eine Decke über den Schlafenden. Ihr Magen grummelte laut und erinnerte sie daran, seit einer geschätzten Ewigkeit nichts Anständiges mehr zu sich genommen zu haben, von dem geschmacksneutralen Mahl im Flugzeug einmal abgesehen. Auf der Suche nach einem Snack betrat sie die Küche – und schloss mit einem ernüchtertem Seufzer wieder die Tür des abgetauten Kühlschranks. Na gut, mal sehen, was die Vorratsschränke an Essbarem hergeben. Während ihrer Überlegung, was man aus einer Packung Toastbrot, einer Dose Thunfisch und einem angebrochenen Glas Essiggurken zaubern könnte, ertönten hinter ihr tapsende Schritte auf dem Fliesenboden.

»Hey«, grüßte Ralph schlaftrunken und nahm ein Glas aus dem Schrank. Gewohnheitsmäßig öffnete er den Kühlschrank und schloss ihn gleich darauf mit einem undeutlichen Murren. Eva musste lachen.

»Bist also auch darauf reingefallen!«

Aus seiner Richtung ertönte eine einsilbige Antwort, während er das Glas unter dem Wasserhahn füllte. »Was ist denn an Essbarem da?«

»Toast, Toast und nochmals Toast. Wahlweise mit Thunfisch oder Essiggurken.«

»Klingt ja super. Ich glaube, ich verzichte.« Er gähnte herzhaft. »Morgen müssen wir unbedingt einkaufen.«

»Also in wenigen Stunden, meinst du wohl.«

»Sieht so aus«, erwiderte Ralph mit einem Blick auf die Küchenuhr. Er grinste schief. »Die Frage ist, wie nutzen wir die Zeit bis dahin? Schlafen oder …?«

»Ralphie hier lässt uns ja augenscheinlich keine Wahl«, schmunzelte Eva mit Blick auf die offenbar inzwischen wieder unternehmungslustigen unteren Körperregionen ihres Göttergatten.

»Ganz genau. Also, worauf warten wir dann noch?«

Eva drängte sich an ihn und glitt dann betont langsam auf die Knie. Diesmal würde die Küche eingeweiht.

 

2

Der folgende Morgen sah dann ganz anders aus.

»Wie spät ist es denn?«, grummelte Ralph schlaftrunken unter seinem Kissen hervor.

Eva äugte stöhnend zum Digitalwecker. Elf Uhr. Morgens oder abends? Nochmaliges Blinzeln klärte ihren Blick und sie erkannte die Buchstaben AM, die in grüner Leuchtschrift blinkten.

»Fast Mittag«, knurrte sie wortkarg, hin und hergerissen zwischen den Optionen, noch weiterzuschlafen oder aufzustehen. Ihre innere Uhr beharrte auf der Behauptung, es sei erst zwei Uhr nachts.

Lustlos ließ sie sich in die Kissen zurücksinken. Wenn ich jetzt weiterschlafe, werde ich es heute Abend büßen und keinen Schlaf finden, das ist ja wohl klar. Sich auf die Seite wälzend, betrachtete sie zärtlich ihren Mann. Ralph war schon wieder ins Land der Träume abgetaucht. Plötzlich durchflutete sie eine solch immense Vorfreude auf den Ehealltag mit ihrer großen Liebe, dass es ihr beinahe den Atem raubte.

Ihren inneren Schweinehund überwindend stand Eva ächzend auf und schlurfte müde in die Küche. Zum Glück ist wenigstens Kaffeepulver in ausreichender Menge vorhanden, dachte sie. Ansonsten wüsste ich wirklich nicht, wie ich heute in die Gänge kommen sollte. Eine Weile saß sie vor ihrer dampfenden Tasse am Küchentisch und schwelgte in Erinnerungen. Die Flitterwochen waren der Hammer. Einfach unbeschreiblich schön. Zwei Wochen Kalifornien: San Diego, Los Angeles, San Franzisco – das ganze Programm. Der kleine Abstecher nach Las Vegas … Unbarmherziges Klingeln an der Haustür unterbrach ihre Träumereien. Oh Gott, wer ist das denn? Eva gähnte und erwog kurz, einfach nicht zu reagieren.

»Eva? Eva! Hallo? Bist du da?«, ertönte es von draußen. Der rostrote Lockenkopf ihrer quirligen Cousine und Nachbarin Jessica Kessler erschien am Küchenfenster. Ergeben schleppte sich Eva zur Haustür.

»Ha, da ist ja die Flitterwöchnerin! Guten Morgen, Liebes!«

Jess küsste Eva links und rechts auf die Wange, drängte sich unaufgefordert an ihr vorbei und marschierte zielstrebig in Richtung Küche. Dabei wedelte sie mit der mitgebrachten Tageszeitung, während sich in ihrer anderen Hand eine große Bäckertüte befand.

»Wie du siehst, komme ich nicht mit leeren Händen.« Aus der Papiertüte duftete es verlockend nach frischem Brot.

»Oh, Jess, du bist ein Engel!«

»Na ja, ich dachte, nach dem ganzen Toast da drüben würdest du ein schönes knuspriges Bauernbrot zu schätzen wissen. Außerdem habe ich deine geliebten Käsesemmeln, zwei Brezeln und ein paar Vollkornbrötchen mitgebracht.«

»Was wäre ich nur ohne dich?« Eva warf Jess ein Küsschen zu, schnitt das Endstück des großen, noch warmen Brotlaibs ab und biss genussvoll hinein.

»Hmmm … das ist eines der wenigen Dinge, die ich echt vermisst habe. Obwohl wir ja im Hofbräuhaus in Las Vegas was Deutsches gegessen haben. Aber komm, setz dich doch, ich habe gerade frischen Kaffee gekocht.« Sie deutete auf einen freien Stuhl. Flüchtig kam ihr der Gedanke an die vergangene Nacht, als sie und Ralph in der Küche …

»Nein, ich kann leider nicht bleiben. Tom und ich fahren über das Wochenende zu seinen Eltern, mein Schwiegervater feiert doch seinen Siebzigsten. Ich wollte dir nur schnell Hallo sagen und –« Sie schlug sich mit der Hand an die Stirn. »Ich Dussel! Eigentlich wollte ich dir den Hausschlüssel zurückbringen, doch vor lauter Hektik habe ich ihn vergessen.«

»Macht nichts, ich habe sowieso schon überlegt, dir den Schlüssel für den Notfall zu überlassen.«

»Dein Vertrauen ehrt mich.« Jess spähte aus dem Küchenfenster über die Straße zu ihrem Auto. Ihr Mann verstaute soeben eine große Reisetasche im Kofferraum. »Ich muss jetzt auch schon wieder los, bevor Tom ungeduldig wird. Wir müssen uns aber so bald wie möglich zusammensetzen, damit du mir alles über deine Traumhochzeitsreise erzählen kannst. Ich platze nämlich vor Neugier!«

Sie verabschiedete sich überschwänglich und hinterließ eine etwas perplexe Eva sowie eine betörende Duftwolke Chanel Nr. 5.

 

»War etwa unsere wilde Nachbarin da?«, erkundigte sich Ralph schnuppernd, als er frisch geduscht die Küche betrat. »Hier riecht es ja wie in einer Parfümerie.«

»Du hast recht. Jess war tatsächlich hier. Sie hat uns die Tageszeitung und frisches Brot gebracht. Lieb von ihr, oder?«

»Sicher. Total lieb.«

Eva legte den Kopf schief und musterte ihren Mann. »Kannst du mir zuliebe nicht versuchen, ihr eine Chance zu geben? Sie hat immerhin während der letzten zwei Wochen auf unser Haus aufgepasst. Außerdem ist sie meine Cousine.«

»Weiß ich doch, Schatz. Eigentlich ist sie ja nur eine Cousine zweiten Grades, aber lassen wir das. Ich finde die Frau nur irgendwie … übertrieben. Und du weißt ja, was man sagt: Jess am Morgen bringt – au!« Er wich lachend zurück und rieb sein rechtes Ohr, an dem Eva kräftig gezogen hatte. »Tut mir leid, es kam einfach so über mich. Oh Mann, hab ich Hunger«, wechselte er grinsend das Thema. »Weißt du was? Wir essen mittags auswärts und kaufen danach ganz gemütlich ein. Natürlich nur, wenn meine wunderhübsche Gemahlin sich endlich dazu bequemt, sich anzuziehen.«

Eva war schon auf dem Weg nach oben. »Gib mir fünfzehn Minuten! Ach, und Ralph – hol schon mal den Wagen!«, rief sie in bester Derrick-Manier über die Schulter und eilte kichernd ins Bad.

Aus ihrer Einfahrt biegend, fiel Evas Blick auf Jessicas und Toms Haus auf der gegenüber liegenden Straßenseite. Obwohl seine Bewohner erst seit einer guten Stunde verreist waren, machten die geschlossenen Rollläden und die jetzt leere Einfahrt einen geradezu abweisenden Eindruck.

Thomas und Jessica Kessler. Lange Zeit hatten sich Eva und Jess aus den Augen verloren gehabt, doch die fürchterliche Tragödie, die Eva vor gut fünf Jahren traf und fast zerbrechen ließ, führte die beiden Cousinen wieder zusammen. Jess war unter anderem für Evas Umzug von Nürnberg nach Augsburg verantwortlich, da sie ihre von Trauer zerfressene Cousine nicht alleine wähnen mochte. Letztendlich verdankte Eva Jess ihr Leben. Wenn Jess sie an jenem Tag nicht gefunden, und ihr dann ganz allmählich aus dem Scherbenhaufen ihres Lebens heraus geholfen hätte … Kurz betrachtete sie die dünnen, verblassten Narben an ihren Handgelenken.

Nein, besser nicht daran denken. Fabian und Marcel werden für immer in meinem Herzen bleiben, aber ich bin nun bereit, mein eigenes Leben weiterzuleben. Und wie dieses Leben manchmal so spielt, spann Eva ihre Gedanken weiter, niemand hätte zum Beispiel gedacht, dass Jess und Tom es so lange miteinander aushalten.

Es gab nur wenige Paare, die augenscheinlich so wenig zusammen passten wie die Kesslers. Dabei führten sie nun schon seit fünfzehn Jahren eine offenbar liebevolle und harmonische Ehe. Nun ja, es gab wohl kaum jemanden, der nicht auf Anhieb gut mit Tom auskam: Er war einer der unkompliziertesten Menschen, denen Eva je begegnete. Jess hingegen einer der Extrovertiertesten. Daher wohl auch Ralphs Abneigung gegen sie, überlegte Eva und betrachtete unauffällig ihren Mann.

Was für ein markantes Profil er hat! Ich sollte ihn unbedingt mal zeichnen. Sie ließ ihre Augen auf Ralphs maskulinen Gesichtszügen ruhen und sog wie ein Schwamm jedes noch so kleine Detail auf: Sein von der kalifornischen Sonne gebräunter Teint mit dem leichten Bartschatten, den sie so unheimlich erotisch fand. Die zum Teil von störrischen, dunklen Haarsträhnen verdeckte Stirn und seine geraden, definierten Augenbrauen, welche in Zusammenhang mit den langen Wimpern seine eisblauen Augen erst richtig zur Geltung brachten. Obwohl Ralph gerne selbstironisch über seine feminin angehauchte Nase witzelte, fand Eva diese gerade wegen der leicht nach oben zeigenden Spitze so anziehend. Sein ausgeprägter Unterkiefer mit dem kleinen Kinngrübchen war nicht so breit, dass das Gesicht eckig wirkte. Und diese feinen, nicht zu vollen Lippen könnte sie wirklich ununterbrochen küssen! Obwohl er konzentriert vor sich auf die Straße blickte, sang er lauthals Grenade von Bruno Mars mit und trommelte rhythmisch mit den Fingern auf das Lenkrad. Dann schien er zu spüren, dass ihre Augen auf ihm ruhten, und wandte grinsend den Kopf in ihre Richtung. Einem inneren Impuls gehorchend, beugte sich Eva hinüber und drückte einen schnellen Kuss auf seinen Mund.

»Wohin fährst du eigentlich? Essen wir nicht beim Italiener?«

»Doch, aber einer meiner Klienten hat erst kürzlich ein weiteres Restaurant in einem anderen Stadtteil eröffnet. Er liegt mir schon seit Wochen in den Ohren, ich solle doch mal mit meiner bezaubernden Frau Gemahlin vorbeikommen, deshalb fahren wir jetzt hin. Oder möchtest du unbedingt zur Villa Cupido

»Nein, nein. Deine ›bezaubernde Gemahlin‹ möchte das neue Etablissement unbedingt kennenlernen.«

Ralph nahm ihre Hand und führte sie an seine Lippen.

»Ganz wie es Euch gefällt.«

 

3

»Wir hätten wirklich was mitbringen sollen, meinst du nicht?«, raunte Ralph Eva zu, als sie quer über die Straße zum Haus der Kesslers eilten.

Leises Gelächter perlte aus dem hinteren Garten. Eva fragte sich automatisch, ob sie beide wohl als Letzte zu der Gartenparty eintrudeln würden. Die Pforte stand einladend offen. Flackernde Fackeln säumten den Steinweg hinauf zum Haus. »Jess ist sich darüber im Klaren, dass ihre Einladung sehr kurzfristig war. Sie wird es verstehen«, meinte Eva leise. Gleichzeitig ärgerte sie sich jedoch, nicht wenigstens eine Flasche Prosecco gekauft zu haben. In diesem Augenblick schwebte ihnen auch schon die Gastgeberin entgegen.

»Hallo, meine Lieben! Genau richtig zur Blauen Stunde!« Nach den obligatorischen Küsschen hakte sie sich bei Eva und Ralph unter und ging mit ihnen unter und in den hinteren Gartenbereich, wo sich bereits etliche Leute aufhielten und angeregt miteinander plauderten. »Sieh mal, Tom, wen wir da haben!«

»Na, wer sagt’s denn? Je später der Abend, desto schöner die Gäste!« Tom legte sein Grillbesteck beiseite, drückte Eva herzlich an sich und klopfte Ralph freundschaftlich auf die Schulter. »Alles klar?«

»Ja, danke. Ich hatte im Büro nur so viel aufzuholen, da habe ich völlig die Zeit vergessen. Kann ich dir helfen?« Ralph krempelte bereits die Hemdsärmel hoch und musterte die auf dem Grillrost brutzelnden Würstchen und Rippchen, deren Saft zischend auf die Glut tropfte.

»Während unsere beiden Goldschätze so fleißig sind, könntest du mir ja inzwischen von deinen Flitterwochen berichten«, flötete Jess und hakte sich erneut bei Eva unter. »Jetzt bist du schon seit fast einer Woche zurück, und trotzdem haben wir uns kaum gesehen. Los, sag schnell Hallo in die Runde – und dann komm mit mir in die Küche.«

 

Während Eva von einem Personengrüppchen zum anderen schweifte und sich mit den Eingeladenen unterhielt, suchte ihr Blick immer wieder ihren frisch angetrauten Ehemann. Er scherzte mit Tom und Bastian Holl, einem ihrer Nachbarn am Ende der Straße, während er gleichzeitig eifrig mit der Grillzange hantierte.

Sein Lachen klang wie Musik in ihren Ohren. Inzwischen trug er Toms Grillschürze. Mr Good Looking is Cooking, stand in weißer Schrift auf schwarzem Untergrund. Wie passend! Eva schmunzelte und angelte sich einen weiteren Becher Sangria von einem der Tabletts.

»Gut, nicht? Hab das Rezept aus dem Internet.« Jess stand auf einmal wieder neben ihr und prostete ihr zu. Eva registrierte erst jetzt das bezaubernde Outfit ihrer Cousine: Sie trug heute Abend ein cremefarbenes, enganliegendes Jeanskleid, dessen nur zur Hälfte geschlossene Knopfleiste perfekt die wohlgeformten Beine zur Geltung brachte. Als fantasievoller Gürtel diente ein umfunktionierter aquamarinblauer Seidenschal. Das lange Haar hatte sie tizianrot getönt und lässig hochgesteckt, so dass einzelne widerspenstige Strähnchen verspielt ihr hübsches Gesicht umschmeichelten.

Man würde nie auf die Idee kommen, dass Jess sieben Jahre älter als ich ist und erst vor kurzem ihren vierzigsten Geburtstag gefeiert hat, dachte Eva und musterte ihre Verwandte liebevoll. Deren strahlender Pfirsich–Teint nahm bereits eine zarte Röte an. In Gesellschaft trank Jess gerne ein bisschen mehr, wusste aber immer genau, wann es aufzuhören galt.

»Du siehst einfach toll aus heute Abend! Und übrigens Kompliment für die tolle Location«, schwärmte Eva aufrichtig und sah sich bewundernd um. Jess und Tom hatten sich mit der Gestaltung des Gartenfests wirklich alle Mühe gegeben: Laternen, Windlichter und bunte Lampions vergoldeten mit ihrem romantischen Licht Terrasse und Blumenbeete. Alles wirkte sehr warm und atmosphärisch.

»Ja, ist ganz gut geworden«, winkte ihre Cousine ab und geleitete Eva ins Haus. »Also, ich höre, und lass kein Detail aus!«

»Nun, ich weiß eigentlich gar nicht, wo ich am besten anfange. Das Ganze war einfach – ups! Soll ich dir helfen?« Eva, die hinter Jess die Küche betrat, musterte das darin herrschende Chaos mit großen Augen.

»Ach was, sieht schlimmer aus, als es ist«, wehrte Jess ab. »Das Wichtigste ist ja vorbereitet. Die Platten mit dem gegrillten Gemüse habe ich ja schon draußen auf die Tische gestellt, ebenso die verschiedenen Salate und die Brotkörbchen. Nur zum Abspülen bin ich noch nicht gekommen, was ich aber gleich erledige, während du von deinen Abenteuern in Amerika erzählst.« Nachdem sie Eva zu einem Barhocker an der Küchentheke dirigiert hatte, wollte sie wissen: »Habt ihr in L.A. irgendwelche Promis gesehen?« Jess entnahm dem Kühlschrank eine große Schüssel Kartoffelsalat und stellte sie vor Eva. »Den hätte ich fast vergessen. Hier, koste mal. Ich vertue mich immer mit dem Salz.« Sie reichte ihrer Cousine einen kleinen Löffel.

»Perfekt. Hast du keine Zwiebeln genommen?«

»Wenige. Die Kinder meines Schwagers hassen den Geschmack von Zwiebeln. Also?«

Eva blinzelte kurz. »Ach so, Promis! Eigentlich nicht. Obwohl ich ja quasi sicher bin, Jared Leto bei Starbucks gesehen zu haben. Aber Ralph meint, ich hätte mich geirrt. Mittlerweile glaube ich jedoch, dass er es wirklich war. Ich hätte hingehen und ihn um ein Autogramm bitten sollen … »

»Ein Autogramm? Meine Liebe, heutzutage macht man doch Selfies!«

»Stimmt, da hätte ich mich schön blamiert«, gluckste Eva. »Und dann waren wir natürlich auf dem Hollywoodboulevard. Wirklich beeindruckend, sage ich dir! Über zwei Kilometer hinweg verläuft der Gehweg mit den eingelassenen Sternen. Mehr als 2500 – bis jetzt. Vor dem Chinese Grauman Theater sind übrigens die bekanntesten Stars im Walk of fame verewigt. Im Vorhof des Theaters kannst du die Hand- und Fußabdrücke der Promis bewundern. Und … »

»Ach, hier steckt ihr! Essen ist fertig, Ladys. Kommt ihr?« Tom betrat die Küche und gab seiner Frau rasch einen liebevollen Klaps auf die Kehrseite. »Na, quasselst du die arme Eva wieder voll?«

»Überhaupt nicht! Heute ist sie zur Abwechslung die Quasseltante«, erwiderte Jess locker und beobachtete, wie ihr Mann etliche eiskalte Bierflaschen aus dem Gefrierfach zog »Und glaub mir, Eva hat Interessantes zu berichten. Stell dich schon mal darauf ein, dass wir unseren nächsten Urlaub auch in Kalifornien verbringen.«

»Nur, wenn du mir verrätst, wie ich als Raucher den Langstreckenflug überstehen soll.«

»Ganz einfach, Tom: aufhören!«

»Ist aber nicht geplant, meine Schöne«, sagte er und lachte gutmütig, als Jess mit einem Geschirrtuch nach ihm schlug. Mit der freien Hand schnappte er sich die Salatschüssel. »Also kommt, ihr beiden. Und bringt Getränke mit, die Meute hat Durst«, orderte er im Hinausgehen an.

»Na, dann wollen wir mal«, entschied Eva und hopste vom Barhocker. »Ich habe schon einen Mordshunger.«

Jess zog Bier und zwei große Flaschen Cola aus dem Gefrierfach. »Oh gut, die sind schön kalt. Nimmst du das Mineralwasser?«

»Am besten hat es mir jedenfalls in San Francisco gefallen«, griff Eva den Faden wieder auf, während sie gemeinsam die verschiedenen Getränke hinaus auf die Terrasse trugen und auf den Tischen verteilten. »Ich könnte mir gut vorstellen, dort zu leben. Mein Gott, die Seelöwen am Pier 39! Das muss man gesehen haben. Da lebt seit vielen Jahren eine riesige Kolonie. Weißt du, dass praktisch einen Tag vor unserer Abreise alle 400 Tiere vom Pier verschwunden sind? Das ist schon einmal vor ein paar Jahren passiert. Bin gespannt, ob sie wiederkommen. Und die Pelikane am Mission Bay hättest du sehen sollen! Ich musste immer wieder hochschauen, als sie so über unsere Köpfe hinweg segelten. Sie sehen von unten aus wie Flugsaurier! Warte ab, bis ich dir die Fotos zeige … Wo sind denn die Gläser?«

»Keine Gläser und Porzellanteller heute Abend, meine kleine Tiernärrin. Heute ist ausnahmsweise Plastik angesagt. Mein Geschirrspüler ist kaputt und ich habe nicht vor, bis morgen früh in der Küche zu stehen und abzuspülen. Und außerdem trinkt man Bier doch aus der Flasche, oder?«

Auf der Terrasse herrschte eine ausgelassene Stimmung. Die hungrigen Gäste umlagerten bereits die beiden Biertische.

»Nachschub kommt sofort!«, rief Jess und eilte mit großen Schritten zurück ins Haus. Eva schnappte sich zwei Corona und suchte mit den Augen nach Ralph, konnte ihn aber nirgendwo entdecken. Vielleicht war er ins Bad gegangen? Sie legte ihren Seidenschal neben sich auf die Sitzbank, um einen Platz für ihn freizuhalten. Zerstreut beobachtete sie Tom, der den Gästen die garen Würstchen und Steaks in einer großen Aluminiumschale servierte.

»Achtung, heiß und fettig!«

»Wo hast du denn deinen Gehilfen gelassen?«, erkundigte sich Eva neugierig. Sie spießte ein Würstchen auf ihre Gabel und ließ es auf den Ralph zugedachten Plastikteller gleiten.

»Gute Frage! Dein Mann hat wirklich Talent, sich im richtigen Augenblick aus dem Staub zu machen. In einem Moment wendet er noch ganz unschuldig die Rippchen, im nächsten ist er plötzlich verschwunden.«

»Wie meinst du das?«

»Na ja, er löste sich praktisch in Luft auf. Zuerst verschlug es ihn hinten in die Büsche – dann sah ich ihn zum Gartentor hinaus spurten. Susanne, nimm für die Kids noch Würstchen«, wandte er sich an seine Schwester. »Ketchup und Senf sind dort drüben. Nehmt euch auch von dem Kartoffelsalat, Jungs. Tante Jess hat ihn extra für euch gemacht.«

»Und wohin ist Ralph gegangen?«, fragte Eva stirnrunzelnd und scannte die Umgebung mit ihren Blicken.

Tom zuckte die Achseln und widmete sich den anderen Gästen am Tisch. Dann aber tippte er Eva kurz auf die Schulter.

»Da schau. Da kommt sie ja schon angetrabt, deine bessere Hälfte! Guten Abend, der Herr!«, rief er Ralph spöttisch zu und zog mit seiner Würstchenplatte weiter. Ralph eilte über den Gartenweg herauf und ließ sich ein wenig atemlos eben Eva nieder.

»Was war denn los?«, fragte sie irritiert und zupfte einen kleinen trockenen Zweig von seinem Pullover.

»Ach nichts«, wiegelte er ab und klatschte einen großen Löffel Kartoffelsalat auf seinen Teller.

»Nun sag schon.«

»Es ist nichts, wirklich.«

»Du hast also einfach so ohne besonderen Grund beschlossen, in der Ligusterhecke Verstecken zu spielen und danach einen kleinen Spaziergang um den Block zu machen, ja?«

»So ungefähr.«

»Ralph …«

»Also gut. Ich dachte, ich hätte jemanden herumspionieren sehen. Aber ich habe mich getäuscht, da war niemand.«

»Herumspionieren?« Eva spürte zwar seine wachsende Gereiztheit, wollte ihn aber noch nicht vom Haken lassen. »Was meinst du damit?«

Er atmete geräuschvoll aus. »Damit meine ich herumlungern, rumschnüffeln, spionieren – such dir was aus! Was ist das hier eigentlich, ein Verhör?« Eva riss erstaunt die Augen auf. Sofort senkte er die Stimme. »Schau, ich mag es eben nicht, heimlich beobachtet zu werden. Ich dachte, da wäre jemand hinter der Hecke und –«

»Durchaus möglich, dies ist schließlich eine öffentliche Straße«, versetzte Eva schnippisch. Was war nur in ihn gefahren, sie vor den Leuten so anzufahren? Sie hatte durchaus die neugierigen Blicke ihrer Tischnachbarn wahrgenommen, die unfreiwillig Ohrenzeugen ihrer kleinen Meinungsverschiedenheit geworden waren.

Ralph schien etwas entgegnen zu wollen, entschied sich aber anders und leerte in einem Zug die halbe Bierflasche. Warum verhielt sich ihr Mann derart nervös?

»Und, hast du die Person gesehen?«

»Nein. Als ich um die Ecke bog, war da kein Mensch weit und breit. Vielleicht habe ich mich einfach geirrt. Ende der Geschichte, jetzt wird gegessen.«

Demonstrativ biss er von seinem Würstchen ab und kaute genussvoll.

Eva zuckte die Achseln und häufte Salat und gegrilltes Gemüse auf ihren Teller, während sie gleichzeitig aus den Augenwinkeln bemerkte, dass Ralph immer wieder einen argwöhnischen Blick zu der immergrünen Hecke warf.

Gegen Mitternacht löste sich die Partygesellschaft langsam auf. Ralph war schon vor einer halben Stunde nach Hause gegangen, doch Eva hatte darauf bestanden, Jess noch beim Aufräumen zu helfen.

»Nichts da«, wehrte diese jedoch ab. »Geh ruhig nach Hause, dein Mann wartet sicher schon auf dich.«

»Das wage ich zu bezweifeln. Außerdem helfe ich dir gerne. Wo sind die Abfalltüten?«

Jess ging in die Küche und kehrte mit einer Rolle schwarzer Plastiksäcke zurück. »Sag mal, alles in Ordnung bei euch? Ralph wirkte heute Abend irgendwie abwesend.«

Eva seufzte und warf die gebrauchten Plastikteller in einen großen Müllsack. »Er wirkte nicht nur abwesend, er war es auch.«

»Häh?«

»Hast du nicht mitbekommen, dass er auf Phantomjagd ging?«

»Keine Ahnung wovon du sprichst. Igitt! Warte, nehmen wir einen neuen Sack. Der hier tropft.«

»Oh, stimmt. Pass auf deine Schuhe auf!« Eva reichte Jess eine neue Mülltüte. »Als du und ich mit den Getränken auf die Terrasse kamen, war Ralph spurlos verschwunden. Einige Minuten später tauchte er dann wieder auf und behauptete, er habe jemanden hinter der Hecke herumschleichen sehen und hätte die Person stellen wollen. Als ich fragte, ob er erfolgreich gewesen sei, wurde er regelrecht giftig.«

»Und was ist daran seltsam? Überlege doch mal: Der große Häuptling wollte sein Weibchen beeindrucken und musste stattdessen unverrichteter Dinge vor seiner Angebeteten antanzen. Da reagiert man als Mann schon mal gereizt!« Jess konnte nur mit Mühe ein Kichern unterdrücken. »Wirklich Eva, ich dachte immer, du wärst so einfühlsam!«

»Hahaha. Mach dich nur lustig. Ich mag es nun mal nicht, vor anderen Leuten von meinem Mann angepflaumt zu werden. Irgendetwas ist ihm heute anscheinend über die Leber gelaufen, und ich habe nicht die geringste Ahnung, was es gewesen sein könnte. Und um ehrlich zu sein, es ist mir auch egal.« Eva zuckte scheinbar gleichgültig die Achseln.

»Ja, sicher. Hör mal, ich erledige das hier alleine. Nein, keine Widerrede! Geh jetzt nach Hause und sprich mit ihm. Oder tu, was auch immer zwei frisch Verheiratete eben so tun, wenn sie alleine sind. Ich glaube, du weißt, was ich meine … Na los, das ist ein Befehl!«

Eva lächelte. Jess fand einfach immer die richtigen Worte, um sie aufzumuntern. Sie gab sich einen Ruck.

»Na gut, dann mach ich das. Schlaf gut, meine Hübsche. Und danke für das schöne Fest.«

Sie umarmten sich kurz und Eva eilte über die Straße zu ihrem Haus. Ralph sah sich im Wohnzimmer einen Film im Spätprogramm an. Als sie eintrat, stand er auf und kam auf sie zu. An seiner zerknirschten Miene ließ sich sofort erkennen, dass er sich wieder gefangen hatte.

»Schatz, komm mal her,« bat er und zog sie an sich. »Tut mir leid, ich habe mich heute Abend wie ein Idiot benommen. Keine Ahnung, was in mich gefahren ist, meine schlechte Laune an dir auszulassen. Kannst du mir verzeihen?« Er nahm Evas Hand und küsste zart ihre Handfläche.

Sie dachte an Jessicas letzte Worte und lächelte in sich hinein. Keine Frage, sie wusste haargenau, wie ihr Göttlicher am besten um Verzeihung bitten konnte …

 

4

Dutzende von Fotos lagen ausgebreitet auf dem großen rechteckigen Tisch in Evas Arbeitszimmer und bedeckten die Rauchglasplatte bis auf den letzten Zentimeter. Sie zog sich einen Stuhl heran, musterte die Bilder aufmerksam und ließ sich von den bunten Urlaubserinnerungen zu einer neuen Handlung für Kelly inspirieren.

Durch ihren Beruf als Reiseverkehrskauffrau wurde vor Jahren die Idee zu ihrer Kinder– und Jugendbuchreihe »Kellys Abenteuer« geboren. Die Geschichten der vorwitzigen Diplomatentochter Kelly Miller, die aufgrund des Berufs ihres Vaters alle zwei Jahre den Wohnort wechseln musste und mit ihrer Familie die ganze Welt bereiste, umfasste mittlerweile fünf Bände und erfreute sich von Anfang an großer Beliebtheit. Das nächste Buch, das in ihrer Fantasie bereits zunehmend Gestalt annahm, sollte die inzwischen vierzehnjährige Protagonistin dieses Mal nach Kalifornien führen. Insbesondere in die Metropole San Francisco. In Gedanken sah sie Kelly bereits in ein Cable Car springen, oder zusammen mit ihren Eltern durch den riesigen Golden Gate Park flanieren.

Von jeher zeichnete Eva gerne, und gestaltete – seit einem professionellen Malkurs an der Volkshochschule – die Illustrationen zu ihren Büchern mit Zustimmung des Verlages selbst.

Jetzt nahm sie das Foto der Seelöwen am Bay und heftete es an die neben dem Fenster aufgestellte Staffelei. Dieses Motiv würde sich bestimmt gut als Buchcover eignen.

 

»Ach, hier bist du.« Ralph steckte seinen Kopf zur Tür herein. »Hör zu, ich muss noch mal auf einen Sprung ins Büro, um das Projekt für Kellermann fertig zu stellen. Die liegen mir schon die ganze Zeit damit in den Ohren. Ich werde aber bis sieben Uhr wieder zurück sein.«

»Oh, okay.«

»Du bist nicht böse, oder? Ich weiß, es ist Samstag, aber …«

»Nein, ist in Ordnung, wirklich. Ich habe auch noch einiges zu tun.«

Ralph schritt ins Zimmer und besah die Fotos auf dem Tisch. »Sie sind wunderschön geworden. Du hast ein gutes Auge«, urteilte er anerkennend. »Will meine kleine Künstlerin heute Abend ausgehen?«

Eva zögerte, sie hatte als Abendessen für Ralph bereits Steak mit Salat geplant und für sich eine Gemüselasagne. Doch verlockte die Aussicht, nicht kochen zu müssen. Das Steak konnte man einfrieren, und das Gemüse wäre morgen auch noch frisch. Somit wäre mindestens eine Stunde gewonnen, die der Realisierung ihres neuen Buchs zugutekäme.

»Gerne, warum nicht?«, willigte sie deshalb ein und warf ihrem Mann zerstreut einen Luftkuss zu, während sie in einem Reiseprospekt über San Francisco blätterte. Dann nickte sie und ergriff ihren Notizblock. Erste Ideen zur Handlung formten sich in ihren Gedanken und lechzten danach, zu Papier gebracht zu werden.

»So wie es scheint, wirst du mich bestimmt nicht vermissen«, meinte Ralph. »Den feurigen Ausdruck in deinen wunderschönen Augen kenne ich nur zu gut. Früher mal, vor langer Zeit, hat er mir gegolten …«

Seine Stimme sank zu einem traurigen Flüstern.

»Oh, du Armer! Fühlst du dich vernachlässigt?«

»Hm, ein bisschen vielleicht«, grummelte er theatralisch.

»Heute Abend mache ich es wieder gut, versprochen«, lachte Eva. Sie küssten sich zärtlich, dann warf Ralph einen Blick auf seine Armbanduhr und löste sich widerstrebend.

»Schatz, ich muss jetzt wirklich gehen.« Er küsste sie noch einmal auf die Nasenspitze und rief im Hinausgehen: »Ich freue mich schon auf heute Abend!«

Pfeifend polterte er die Treppe hinunter. Eva schüttelte grinsend den Kopf und vertiefte sich wieder in ihre Arbeit.

 

Drei Stunden später, frisch geduscht und nur mit einem Handtuch bekleidet, stand Eva vor dem geöffneten Schlafzimmerschrank und wühlte unschlüssig zwischen den aufgehängten Kleidungsstücken. Auf dem Bett hinter ihr lagen bereits einige Röcke, Hosen und Kleider – doch nichts davon kam in die engere Wahl für heute Abend.

Normalerweise kleidete sie sich am liebsten ganz leger in Jeans und T-Shirt. Stöckelschuhe waren ihr verhasst, was natürlich unter anderem an ihrer Größe lag. Mit ihren ein Meter achtundsiebzig kam sie sich in High Heels wie eine Bohnenstange vor, da sie damit die meisten ihr bekannten Männer wie ein Turm überragte. Glücklicherweise war Ralph sogar um einiges größer, so dass ab und zu die hochhackigen Pumps aus den Tiefen ihres Kleiderschranks infrage kamen.

Endlich traf sie ihre Kleiderwahl und legte mit zufriedenem Nicken das sonnengelbe, schulterfreie Oberteil mit dem an den Hüften ausgestelltem Saum, sowie eine hautenge schwarze Jeans heraus. Gelb war ihre Lieblingsfarbe und harmonierte perfekt mit ihrer dunkelbraunen Mähne.

Vor dem Badezimmerspiegel ihre Haarpracht trocknend, glaubte sie die Türklingel zu hören. Hastig schaltete sie den Fön aus und lauschte einige Sekunden – doch offenbar hatte sie sich geirrt. Erneut warf Eva ihr langes Haar vornüber und schaltete den Fön wieder ein. Da, schon wieder! Sicher, sich diesmal nicht getäuscht zu haben, eilte sie die Treppe hinunter. Ralph hatte wahrscheinlich wieder seinen Schlüssel vergessen. Ohne durch den Spion zu schauen, riss sie lächelnd die Tür auf.

Vor ihr stand ein unbekanntes junges Mädchen von ungefähr zwanzig Jahren. Eva bemerkte ein wartendes Taxi auf der Straße.

»Ja, bitte?«

Das Mädchen lächelte schüchtern. »Hi, mein Name ist Viola. Sie kennen mich nicht, aber ich bin die Nichte ihres Mannes … Sie sind doch mit meinem Onkel Ralph Lessing verheiratet, richtig?«

Eva starrte die junge Frau verblüfft an. Von einer Nichte hörte sie zum ersten Mal. Ihr wurde schlagartig bewusst, wie wenig sie eigentlich über ihren Ehemann wusste. Er hatte ihr lediglich erzählt, verwitwet zu sein – und dass seine Familie in aller Herren Länder verstreut lebe. Nicht einmal anlässlich ihrer Hochzeit waren seine Verwandten anwesend, worüber sie insgeheim doch etwas verärgert war. Aber Ralph bestand darauf, dass seine betagten Eltern die Reise aufgrund gesundheitlicher Probleme unmöglich auf sich nehmen könnten. Sie sprach ein einziges Mal kurz am Telefon mit ihnen – das war alles. Eine seiner beiden Schwestern lebte Ralphs Auskunft zufolge mit ihrer Familie in Dänemark, die andere sei Nonne in einem Kloster in Uruguay. Ralph unterhielt seit vielen Jahren keinen Kontakt mehr zu ihr.

Das Mädchen drehte sich unschlüssig zu dem Taxi um. »Ich komme bestimmt ungelegen. Es tut mir leid, ich hätte vorher anrufen sollen, aber ich kenne ja Ihre Nummer nicht. Zum Glück habe ich den Fahrer gebeten zu warten, doch er lässt bestimmt die Uhr weiterlaufen …«

Eva blinzelte und kam sich auf einmal ziemlich unhöflich vor. »O nein«, wehrte sie ab. »Ich muss mich entschuldigen. Ich war nur so überrascht – mein Mann hat mir bisher nur sehr wenig über seine Familie erzählt.« Sie lächelte herzlich und reichte Viola die Hand. »Ich bin Eva. Bitte, kommen Sie doch herein.«

Viola bezahlte den Taxifahrer und folgte Eva ins Haus. Als wenig später eine Autotür in der Einfahrt zuschlug, zwinkerte Eva Viola verschwörerisch zu. Sie freute sich auf Ralphs Gesichtsausdruck beim Anblick seiner Nichte und stand auf, um ihren Mann an der Haustür zu begrüßen.

»Hallo mein Engel, entschuldige die Verspätung, aber auf der Hauptstraße stadtauswärts gab es einen Auffahrunfall und ich stand eine halbe Stunde lang im Stau. Ich hätte dich angerufen, aber wie es der Teufel so will, ist der Akku meines Handys leer.«

»Macht nichts«, wehrte Eva gutgelaunt ab. »Ich habe mich zwischenzeitlich nämlich bestens amüsiert.« Sie hauchte ihm einen Kuss auf die Lippen und fasste ihn an der Hand. »Komm mal mit in die Küche. Ich habe eine Überraschung für dich.«

Viola sprang bei seinem Eintreten von ihrem Stuhl auf, schien einen Moment zu zögern und strahlte dann über das ganze Gesicht.

»Onkel Ralph, Onkel Ralphie!« Sie hüpfte wie ein verspielter Welpe zu ihm, küsste ihn stürmisch auf die Wangen und trat dann einen Schritt zurück. »Da staunst du, was?«

Ralph stand da wie vom Donner gerührt, und traf keine Anstalten, die Umarmung zu erwidern. Eva beobachtete ihn irritiert und hob fragend die Augenbrauen. Auch seiner Nichte schien diese seltsame Reaktion aufzufallen.

»Was ist, erkennst du mich nicht mehr? Ich bin´s, Viola!«

Ralph schien sich aus seiner Erstarrung zu lösen und brachte eine Art Haifischlächeln zustande.

»Natürlich erkenne ich dich, Dummerchen. Was für eine wunderbare Überraschung. Was machst du denn hier?« Eva folgte seinem Blick, der an Violas Reisetaschen hängen blieb. Was soll das, schienen seine Augen zu fragen.

»Ich bin eigentlich nur auf der Durchreise«, erklärte Viola rasch. »Und da dachte ich mir, ich schaue mal, wie es meinem Lieblingsonkel so geht. Wir haben uns ja ewig nicht mehr gesehen. Sogar meine neue Tante wolltest du mir vorenthalten!« Sie drohte ihm neckend mit dem Finger.

»Nun, jetzt haben wir uns ja kennengelernt«, mischte sich Eva gewollt fröhlich ein, als sie Ralphs Unbehagen bemerkte. »Besser spät als nie, nicht wahr, Liebling?«

»Ja, da hast du recht«, bestätigte er und nahm eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank. »Mea Culpa. Damals, nach dem Tod meiner Frau, zog ich mich sehr zurück und habe sogar meine Angehörigen vernachlässigt. Ein Fehler. Entschuldige bitte, Viola.«

»Das ist doch verständlich«, winkte Viola ab und ließ sich wieder auf ihrem Stuhl nieder.

»Ein furchtbarer Schock für uns alle, Tante Claire auf so tragische Weise zu verlieren. Und noch dazu das Baby …«

Welches Baby, dachte Eva überrascht und sah einen schmerzlichen Schatten über Ralphs Miene huschen. War seine verstorbene Frau zum Zeitpunkt des Unfalls etwa schwanger? Er hat niemals ein Sterbenswörtchen darüber verloren.

Viola biss sich auf die Unterlippe. »Sorry, ich wollte das nicht wieder aufwärmen. Du hast bestimmt lange gebraucht, das alles endlich hinter dir zu lassen. Jedenfalls bin ich sehr froh zu sehen, dass es dir wieder gut geht. Wir waren alle schrecklich besorgt um dich.«

Eine peinliche Pause entstand. Ralph trank in großen Schlucken aus der Flasche und blickte stur auf die gegenüberliegende Wand. Es war offensichtlich, dass er sich in der Situation nicht wohl fühlte. Eva überlegte fieberhaft, wie die angespannte Stimmung aufgelockert werden könnte. Schließlich ist es meine Schuld, ich habe das Mädchen ins Haus gelassen. Doch woher hätte ich wissen sollen, dass es Ralph eventuell nicht recht sein könnte? Beruhigend legte sie den Arm um ihn, tätschelte seine Schulter und zwinkerte Viola zu. »Hey, ihr beiden, was haltet ihr davon, wenn wir Pizza essen gehen? Ralph? Wir wollten doch sowieso ausgehen. Das wird bestimmt ein schöner Abend.«

»Oh, seid ihr sicher? Ich meine, ich möchte euch ja nicht den Abend vermasseln. Ich glaube, ich rufe mir besser ein Taxi und übernachte in einem Hotel.« Viola sah zweifelnd von Eva zu Ralph.

»Unsinn! Wir gehen jetzt schön essen und amüsieren uns ein bisschen. Und du bleibst selbstverständlich hier. Kein Wort mehr von einem Hotel.« Sie zwickte Ralph leicht in die Seite. »Stimmt´s, Schatz? Der Meinung bist du doch auch?«

»Sicher«, bestätigte er nach einem Sekundenbruchteil. »Also los, Leute. Ich habe einen Tisch für acht Uhr reserviert. Abmarsch.«

 

»Liebling, hör auf damit. Viola kann uns doch hören …«

Eva wand sich kichernd aus Ralphs Armen und zog ihr Schlafshirt wieder über die entblößte Brust.

»Sie liegt eine Etage unter uns. Außerdem schläft sie bestimmt schon.«

Er zog sie wieder an sich und packte besitzergreifend ihre Pobacken.

»Trotzdem … ich kann mich unter diesen Umständen einfach nicht fallen lassen.« Eva befreite sich aus seinem Griff und rollte zurück auf ihre Bettseite.

Ralph seufzte beleidigt. »Na, das fängt ja gut an. Wie lange, sagtest du, bleibt sie bei uns?«

»Pst …«, flüsterte Eva warnend. »Sie kann bleiben, solange sie will. Was ist eigentlich los mit dir? Du warst den ganzen Abend über so ruhig. Freust du dich denn gar nicht, deine Nichte hier zu haben? Sie ist doch ein total liebes Mädchen.«

»Ich mag einfach keine Überraschungsbesuche. Ich platze ja auch nicht einfach bei Leuten herein und bringe ihren Alltag durcheinander.«

»Also, wenn man dich so hört, kann man wirklich nicht nachvollziehen, warum gerade du alter Brummbär ihr Lieblingsonkel sein sollst«, neckte Eva und kuschelte sich an seine Seite.

Er ging nicht darauf ein, sondern presste sie enger an sich und knurrte spielerisch in ihre Halsbeuge.

»So, ich bin also ein alter Brummbär, was? Ich zeig dir jetzt mal, was wir Bären so alles drauf haben …«

Schon befassten sich seine Finger wieder mit ihrem Oberteil.

»Hey, nur nicht gleich übermütig werden.« Kichernd fischte Eva seine Hand aus ihrem Shirt und küsste seine Fingerspitzen. Sie war jetzt wirklich nicht zu Sex aufgelegt. Das stand weniger im Zusammenhang mit Viola als mit Ralphs Familie – und vor allem mit seiner schwangeren ersten Frau.

Ich würde gerne mehr über seine Vergangenheit erfahren. Aber wie das Thema unverfänglich zur Sprache bringen? Schließlich reifte ihr Entschluss, den Stier einfach bei den Hörnern zu packen.

»Liebling, darf ich dich etwas fragen?«

»Hm …«

Ein Moment des Zögerns trat ein, in dem Eva überlegte, wie sie ihre Gedanken am besten in Worte kleiden konnte.

»Schau, wir sind jetzt schon einige Zeit zusammen, aber … in gewisser Weise bist du mir immer noch fremd. Warum erzählst du mir nie von deiner Familie? Ich meine, ich weiß weder, wie du als Kind ausgesehen hast, noch hast du mir Fotos deiner Eltern gezeigt. Und bis heute wusste ich nicht einmal, dass du eine erwachsene Nichte namens Viola hast. Hattest du Streit mit deinen Angehörigen, oder was ist los?«

»Mensch, Eva! Ich habe heute Abend keine Lust mehr, mich über meine Familie auszulassen. Sie spielt keine große Rolle in meinem Leben, also lassen wir das, ja? Komm, lass uns schlafen.«

Er drehte sich auf die andere Seite, so dass er ihr den Rücken zuwandte, und stopfte augenscheinlich verärgert sein Kissen unter dem Kopf zurecht.

Na toll. Super Timing, Eva! Trotzdem, jetzt habe ich schon mal damit angefangen. Vielleicht beruhigt er sich ja wieder und klärt mich ein bisschen über sein Leben auf. Ihre Neugierde wollte befriedigt werden. Wider besseres Wissen ignorierte sie seine deutliche Abwehrreaktion.

»Nein Ralph, ich kann jetzt nicht schlafen. Da sind viele Fragen offen. Deine Familie ist jetzt auch meine Familie, schon vergessen? Ich habe das Recht, mehr über sie zu erfahren. Warum sprichst du nicht mit ihnen?«

Ralph drehte sich auf den Rücken und seufzte. »Entsteht wieder mal ein Film in deinem Köpfchen? Ich kann dich beruhigen, es steckt kein großes Geheimnis dahinter. Ich habe einfach keine besonders herzliche Beziehung zu meinen Leuten, das ist alles. Wahrscheinlich weil ich laut Familienchronik sozusagen ein ›Unfall war. Meine Eltern – damals schon über vierzig und überhaupt nicht auf mich vorbereitet. Meine Schwestern – zum Zeitpunkt meiner Geburt bereits Teenager. Der Altersunterschied erwies sich einfach als zu groß, um eine liebevolle Bruder-Schwester-Beziehung aufzubauen.«

»Na ja, aber immerhin war Viola oft bei dir und Claire zu Gast, wenn ich das richtig verstanden habe. Also musst du ja doch mit deiner Schwester in Verbindung gestanden haben. Und mit Claire scheint Viola ja super ausgekommen zu sein …«

Trotz der im Zimmer herrschenden Dunkelheit spürte sie augenblicklich seine Anspannung bei der Erwähnung von Claires Namen.

»Was soll das, Eva?«, erfolgte dann auch umgehend seine Frage in schneidendem Tonfall. »Willst du jetzt auch noch über meine verstorbene Frau reden, ja? Entsprach das von Anfang an deinem Plan? Was du wissen musst, habe ich dir gesagt. Mehr gibt es nicht hinzuzufügen.«

»Sprich doch bitte etwas leiser.« Ein wenig von Ralph abrückend, tastete Eva nach dem Lichtschalter und knipste das Nachtlicht an. Durch seinen groben Ton verletzt, brachte sie unauffällig noch mehr Abstand zwischen sich und ihn. »Was ist denn nur in dich gefahren? Ich stelle dir eine ganz normale Frage und du gehst gleich so auf …«

Bereits einen Kloß im Hals spürend, befürchtete sie, gleich in Tränen auszubrechen.

»Schau, ich spreche nun einmal nicht gerne darüber. Kannst du das denn nicht verstehen?« Er seufzte tief und wandte sich in ihre Richtung. »Aber gut, frag. Bringen wir es hinter uns. Was möchtest du wissen?«

»Wieso hast du mir nicht gesagt, dass Claire bei ihrem Tod schwanger war?«, begann Eva, ermutigt von seiner plötzlichen Bereitschaft.

Er warf sich herum, stützte sich auf die Ellenbogen und starrte auf seine Füße, als ob er in eine ferne Vergangenheit blickte. »Warum? Hat diese Information irgendeinen Einfluss auf unsere Ehe?«, erwiderte er knapp. »Tatsache ist, dass ich es selbst nicht gewusst habe. Es wurde durch die Autopsie festgestellt. Claire befand sich im dritten Monat. Vielleicht hat sie es selbst auch noch nicht gewusst, keine Ahnung. Wir haben uns so sehr ein Kind gewünscht. Mein Gott …«

Der Schmerz in seiner Stimme war nicht zu überhören. Von Mitleid überwältigt, schossen Eva Tränen in die Augen. »Oh Liebling, das ist schrecklich. Es tut mir so leid«, flüsterte sie und wischte sich die Wangen.

»Das braucht es nicht. Ist ja nicht deine Schuld«, sagte er und seufzte. »Eine entsetzliche Zeit. Nicht nur, dass ich meine Frau und mein ungeborenes Kind verloren hatte, man wollte mir auch noch einen Mord anhängen.« Sein Gesicht bekam einen harten Ausdruck und er ballte die Fäuste.

Eva zuckte ob dieser jüngsten Information zusammen. »Was?«

»Claires Familie. Sie war überzeugt, ich hätte meine Frau auf dem Gewissen. Sie glauben es wahrscheinlich immer noch.«

»Aber wieso … das verstehe ich nicht.«

»Was verstehst du nicht, Eva? Du bist doch eine intelligente Frau. So schwer ist es eigentlich gar nicht: Mittelloser Mann heiratet wohlhabendes Mädchen, Mädchen stirbt bei tragischem Autounfall, armer Witwer gilt plötzlich als reicher Mann – und gleichzeitig als Tatverdächtiger Nummer eins. Was ist daran schwer zu verstehen?« Ralph sprang auf und starrte in den Spiegel über der Kommode. Seine Stimme klirrte wie ein Eiszapfen. Eva schauderte.

»Aber du …«