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Cornel Dimovici

Die eisernen Kreuze

Roman

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Florida 2006

Sein Leben, sein großes Abenteuer ging dem Ende entgegen. Vielleicht war es gar kein großes, aber es war sein Abenteuer. Er war erleichtert. Nicht wegen der Schmerzen. Damit hatte er sich ganz gut arrangiert. Er hatte einfach keine Lust mehr. Es wurde langweilig, und er hatte keine Angst. Dieser reglementierte, monotone Tagesablauf ohne Spannung, ohne Überraschungen, ohne Freude und ohne Verrücktheiten, dieses flache Dahinvegetieren zwischen Schlafen und Essen und wieder Schlafen und Essen machte ihn müde, sodass der Ritt in den Tod ohne Hoffnung auf den Himmel und so weiter eine Erlösung sein würde …

»Je ne regrette rien«, wie damals in der Stadt der Liebe, in dem kleinen ärmlichen Club die kleine, gequälte Sängerin mit Schmerz aus ihrem Leib herausriss.

Das Morphium, das herrliche Morphium fing endlich an zu wirken: Es wurde heller, fröhlicher, die Schmerzen lösten sich allmählich auf und ließen lediglich einen bitteren, süßlichen, komischen Druck, irgendetwas Undefinierbares zurück …

Stephan war vorübergehend – er wusste das, er war schon erfahren darin – von all diesen bestialischen, ständigen, hartnäckigen, zerreißenden Schmerzen, die in der Harnblase und der Harnröhre wüteten und ihn zerquetschten, befreit, besser gesagt, er vergaß sie … Der Katheter bohrte sich nicht mehr so heiß, bitter, feucht und animalisch in sein Fleisch, und das Brennen ließ nach. Er betrachtete den Ozean, die verschwommene neblige Kontur der Wellen, und er reiste fort, immer weiter, immer mutiger und ahnungsloser, in Richtung seiner Kindheit und seiner Jugend, in das Weinland zwischen den transsylvanischen Weinbergen und den zwei Kokeln, in die kleinen Städtchen, wo er vor sehr vielen Jahren alles verlassen hatte, sich selbst und alles andere, und jetzt, verloren in dieser kosmischen Einsamkeit, verkrampft und verbittert in diesem Vorraum zur Hölle, er sehnte sich, er liebte süchtig die Chimäre, den schizophrenen Traum und wollte unbedingt zurückkehren, jetzt, schnellstens, hoffnungslos, demütigt, wissend, dass er sterben wird und dass er nirgends mehr hinreisen wird – außer in irgendein Krematorium und dann in das Fegefeuer oder direkt in die Hölle. Aber jetzt, in diesem Bruchteil des Augenblicks (oder war es noch weniger, noch kürzer: der Bruchteil eines Bruchteils?) kehrte er zurück. Er kehrte in dieses Land seiner Kindheit, seiner Träume und der immer verlorenen Illusionen, in diese verratene Heimat, die er schon längst seit Hunderten von Jahren (oder waren es nur Jahrzehnte?) vergessen hatte, zurück. Er belog sich wieder. Wie immer. Er hatte sich immer – naiv, blind und hartnäckig – belogen. Stephan musste sich belügen. Immer! Um zu überleben … Alles war doch ein verrücktes Spiel! Du musstest alt werden und den Tod riechen und dann konntest du verstehen: Dass alles, dein Leben, ob kurz oder lang, eigentlich nur ein Tröpfchen, mit allen seinen Höhen und Erniedrigungen, Kämpfen, Hoffnungen, verrückten Leidenschaften und Illusionen eine maßlos traurige, billige Operette war. Sonst nichts! Und so geht es vielleicht allen! Oder sehr vielen. So geht es auch denen, die große Träume gebastelt hatten und irgendwie im fröhlichen Rausch gelebt oder sich eingebildet hatten, dass sie leben, und so geht es auch den armen, hilflosen Schweinen, die gar nicht träumen konnten oder gar nicht zu träumen wagten …

Von irgendwo, bestimmt vom Garten oder vom Haus oder vielleicht sogar vom Himmel her, drängten Stimmen zu ihm herüber, Frauenstimmen. Er erkannte sie nicht mehr. Bestimmt waren es seine lieben Margaretas, die große und die kleine. Vielleicht … Sie hatten viel Spaß, erzählten sich Lustiges und lachten. Stephan war weit weg. Weit weg von dieser vergänglichen Welt und von seinen Margareten … Er liebte sie … Noch. Oder wiederum nicht. Sie, er und die beiden, waren in den letzten Jahren allmählich und leise weit voneinander fortgegangen, sie hatten sich irgendwie entfremdet. Sie, alle drei, waren anders … Und er dachte jetzt wieder verträumt und vernebelt darüber nach: Wieso hatte er immer so viele Margareten um sich herum? Die Mutter hieß Margareta, die Großmutter, die kleine Schwester. Und irgendwann heiratete er eine, die schöne, große, blonde, blauäugige Margareta, und die einzige Tochter wurde, er wusste gar nicht, wie es dazu kam beziehungsweise es hatte ihn keiner gefragt, einfach ebenfalls auf den Namen »Margareta« getauft. Und eine Cousine hieß Margareta. Und alle anderen, die vielen Margaretas, lagen zerstreut auf den Friedhöfen Transsylvaniens. Seine Margareten … Und die beiden, seine Lieben, seine Teuersten, hatten jetzt Spaß. Sie lachten da draußen in Garten … Und es war gut so. Er liebte die beiden verzweifelt und barbarisch und hoffnungslos und verbissen, maßlos traurig, so, wie man liebt und hasst, wenn das Urteil gesprochen wurde und wenn man zweifelsohne weiß, dass alles gelaufen ist, dass man sterben muss und es keine Zuflucht mehr gibt und man niemals wieder die Liebe treffen wird. War das Liebe? Genau wusste er es nicht einmal jetzt. War es Zufall, war es notgedrungen aus Sehnsucht nach Normalität, Wärme und Familie, oder war es einfach akzeptiertes Schicksal, oder was glaubte er, was Schicksal sei? Aber er hoffte und wollte sie, er musste sie geliebt haben, die beiden, verdammt und verrückt! Und trotz allem: Sie entfernten sich im Laufe der Jahren, ganz diskret und leise, vielleicht ungewollt, und waren auf einmal ganz weit weg, in einer anderen Zeit, in einer anderen Welt. Irgendwann konnten sie nicht mehr richtig kommunizieren, sie redeten aneinander vorbei, sie sprachen irgendwie verschiedene Sprachen oder vielleicht nur Dialekte, sie lebten in einem unpersönlichen, kalten Labyrinth oder Schloss mit zehn oder Hunderten von unbewohnten Zimmern oder wie in einem Stundenhotel. Oder es war doch er, der nie Zeit für die beiden Frauen hatte … Vielleicht! Immer diese verdammte Eile … Er wurde mit den Jahren immer einsamer. Einsamer in seinem kleinen Haus mit seinen Liebsten, er merkte nichts, keiner merkte etwas, aber er hatte immer öfter den Drang zu reden, zu erzählen, sich auszusprechen und vielleicht zu weinen. Keine wollte zuhören, und er fand keine Zeit und keinen Raum dafür, er konnte einfach nicht oder hatte nie den Mut gehabt … Oder er fühlte sich eingeschüchtert, schwach, weich wie ein kleinen Kind … Er hatte das Bedürfnis, es war schon Sucht, es war stärker als Hunger oder der quälende Durst in der Wüste, seine Seele weinte, und er litt. Er musste über seine Verdammnis und über seinen Fluch, über seine Gespenster, die ihm all diese Jahre wie Schatten begleitet hatten, und sein schweres Kreuz, das er alleine schleppen musste, traurig, erniedrigt und verbissen, zerschlagen und trotzdem voller Hoffnung, reden; er musste, er wollte, er sehnte sich nach Befreiung, nach der Erlösung. Allmählich, im Laufe der Jahre, sehr vieler Jahre, verstand er, dass Kommunizieren so eine Sache sei: Die meisten Menschen sprechen und reden gern miteinander, ohne sich etwas zu sagen, sie wollen sich manchmal aussprechen, etwas erklären, aber selten kommt etwas dabei heraus, und sie babbeln einfach automatisch weiter, sie reden ins Leere. Er musste beichten, er wollte reden, sprechen über seine Geister, über seine Alpträume, über seine Sünden, über wahre und unwahre Einbildungen, über schizophrene Phantasien, über die verlorenen Jahre bei der Waffen-SS und in der Fremdenlegion, über den unwichtigen, vergessenen Agenten, der vielleicht nur eine Einbildung war, und über seine Wahrheit, die es gar nicht gab. Alles vermischte sich gewaltig. Die Sprachen – war seine Muttersprache die, die er fast vergessen hatte, oder doch das Deutsche? Wasserfälle – ist das Niagara? Er dachte nicht englisch … Oder doch? Er erinnerte sich, sah sein Leben und sein verdammtes Hin und Her auf Deutsch. Nein, das war ungarisch. Oder doch rumänisch … französisch? Er wusste gar nicht mehr, wer und was er war. Aber er glaubte jetzt zu verstehen, er kapierte allmählich, dass es in seinem Leben nichts Wahres gab. Ob das überhaupt ein Leben war? Es war ein Spiel, ein sehr kompliziertes, absurdes und groteskes Stück. Gehetzt, getrieben von Geistern, Henkern und Rächern. Er verstand jetzt gar nichts mehr … Alles war so verworren … Vielleicht hatte er sich all diese traurigen Ereignisse, Alpträume, diese zerfetzenden Abenteuer eingebildet, und alles war nur Fiktion, wilde, zerrissene, expressionistische Farben, verschwommen, zweideutig … Stephan hätte so gern versucht, das zu klären, er hätte so gern über Illusionen und Träume, über Lügen, Verrat und Fluch geredet. Was für Illusionen? Hattest du welche? Du fliegst jetzt hellwach in deinen Welten und Chimären und Schatten herum, seit Langem wissend, dass alles Einbildung war … Fiktion. Vor sehr viele Jahren (zehn oder Hunderte oder Tausende) bekamst du von deiner Kleinen, der kleinsten Margareta, zum Geburtstag eine Karte. Darauf stand: »Nenne dich nicht arm, weil deine Illusionen nicht in Erfüllung gegangen sind, wirklich arm ist nur der, der nie Illusionen hatte.« Das konnte er nie mehr vergessen. Hatte die Kleine damals etwas gespürt? Hatte sie seine frühere Seele, sein kindliches Universum irgendwie entdeckt, gefühlt? Er dachte so oft an diese Geburtstagskarte … Sie schien damals irgendwie mit ihrem kindlichen Gespür geahnt zu haben, dass ihr Vater seine unerfüllte und traurige Kindheit und die verlorenen Jugendillusionen und alle anderen unerfüllten Träume irgendwo in seinen dunklen, abyssalen Tiefen mitschleppte. Er trug sein Kreuz versteckt in seinem gekrümmten Herz und nicht wie die anderen auf den Schultern. Er versuchte irgendwann einmal, über all diese unglaublichen und traurigen Erlebnisse, Niederlagen und Enttäuschungen zu sprechen. Dann zu schreiben. Er musste sich befreien.

Irgendwann, bestimmt in einem anderen Leben, gab es mal diese Frau mit ihren riesengroßen blauen Augen (warum hatten eigentlich alle Frauen in seinem Leben blaue Augen und blonde Haare?), die ihn so verrückt liebte, sich so hartnäckig in sein Leben eingefädelt hatte, die an sein Schicksal, an seinen Stern glaubte und besessen hinter ihm her war und die wollte, dass er alles herunterschrieb, dass er in einem Buch erzählte, wie es wirklich war, was er so alles durchgemacht und gesehen und erlebt hatte. Sie hoffte, dass es viele lesen würden und von seinen verkrampften Niederlagen etwas lernen könnten. Sie wartete bestimmt noch immer auf ihn, in ihrer großartigen Stadt oder irgendwo … Er lachte. Wie dumm! Wie konnte sie noch warten? Wieso liebte sie ihn so verrückt, was dachte sie, was glaubte sie, wer er überhaupt war? Was für Hoffnungen sie sich gemacht hatte! Jede Liebe ist verrückt! War das Paris? Oder Berlin? Nein, das war in Paris, da hatte er noch träumen können. Und danach auch, in Vietnam, in diesem farbigen, duftigen, lasziven Paradies. Nein, es stimmt nicht! Du hast nie aufgehört zu träumen und zu hoffen! Auch jetzt nicht, in der Zeit des Sterbens, in der du den Tod definitiv in Augenschein genommen hast. Nur dass die Illusionen mit der Zeit unschärfer, blässer, löchriger wurden und irgendwann, unbemerkt, schmerzlos, sich auflösten und verschwanden. Irgendwo … Es blieben nur unscharfe Schatten. Du vergaßt sie einfach und dachtest nicht mehr daran.

Stephan glaubte zu verstehen. Er hatte irgendwann als Kind geträumt, Gedichte und Bücher zu schreiben, nach alten Burgen zu graben, und sogar geträumt, auf einer Bühne Theater zu spielen … Eigentlich wie alle Kinder dieser Welt, die fest an ihre gemeinsame Illusionen glauben und träumen und sich hoffnungsvoll in ihrer kurzen, abgemessenen Zeit herumtummeln. Er lebte in seiner Kindheit und Jugend in einer selbst geschaffenen, widersprüchlichen, künstlichen Welt, er hatte Träume und Hoffnungen, er wurde gequält von Sehnsüchten nach Ausbrechen, nach Weglaufen, mit einer verrückten Leidenschaft für die Seefahrerei, nach Entdeckungen und Abenteuern. Er musste immer ausreißen, er war getrieben, und er wollte immer weg. Alle seine Schulfreunde hatten auch verrückte, aus ihren Bücher entnommene sprudelnde Träume und Illusionen, und sie haben das alles und ihre Hoffnungen, vielleicht, im Laufe der Jahre auch begraben, vergessen, aufgegeben … Oder auch nicht? Wer wusste es schon?

Seine Tochter hat nie mehr mit ihm geredet, nie irgendetwas über ihre Träume erzählt. Sie hatte bestimmt auch ihre Hoffnungen, ihre Illusionen gehabt, und sie wie er wahrscheinlich niemandem verraten. Oder vielleicht doch, ihrer Mutter … Und ausgerechnet jetzt machte ihn diese Ungewissheit maßlos traurig … Das alles ist gar nicht wahr … Seine Krankheit, sein Krebs, sein krankes, angegriffenes und bestimmt schon zerstörtes Gehirn … Eigentlich hatten seine lieben Margareten nie Zeit gehabt. Er aber auch nicht. Oder nur sehr wenig … Sie haben immer alles verschoben, alles verdrängt. Später! Immer später … Die Kleine, seine Tochter, lachte laut und unbeherrscht: »Warst du bei der Waffen-SS? Und hast du auf unsere amerikanischen Soldaten geschossen? Auf unsere Soldaten? Das ist doch ein Witz! Angeber! Wir reden ein anderes Mal … Wenn du nicht so viel getrunken hast.« Und es blieb ein Witz. Ein verlorener Satz, in etwa so wie ein vom Wind verwehtes Blatt. Sie hat nie mehr nachgefragt. Er wurde einsamer und glaubte beziehunsgweise bildete sich ein, die beiden Frauen immer noch zu lieben. Vielleicht weil die Welt, seine Welt, schrumpfte und zunehmend kleiner und ärmer wurde und er maßlos dankbar war, dass er sie lieben durfte. Sonst hatte er nämlich nichts. Er hatte niemanden mehr gehabt. Keine Freunde, keine Verwanden … vielleicht auch keine Feinde mehr. Hatte er überhaupt irgendwann mal welche? Der Kreis schloss sich. Und jetzt, wissend, dass er sterben würde, war er glücklich! Komisch! Er war tatsächlich glücklich. Ausgeglichen und erleichtert. Er hatte keine Lust mehr. Gar keine. Er bedauerte nichts. Und er lag jetzt da, in seinem Bett, in seinem Haus, einsam, alleine, vergessen … Er wusste auch nichts über seine Mutter, wer sie war, welche Illusionen sie hatte … Nichts über seinen Vater. Er kannte die beiden überhaupt nicht. Alle seine Verwandten waren so fremd und so weit weg. Und seine Freunde waren längst verschwunden, in Luft aufgelöst. Warum müssen die Menschen so einsam durch ihre Leben irren?

Endlich durfte er in aller Ruhe auf den ewigen, ungestörten Schlaf warten. Und das große Geheimnis, das ihn seit so vielen Jahren begleitete, seinen Schatten, seinen Fluch – oder doch sein Glück, seine Chance und seine Freiheit? –, den er mit niemanden teilen durfte und konnte, wird er nach da drüben in die andere Welt oder wohin auch immer mitnehmen. Und niemand, nicht einmal seine letzten zwei Margareten, nicht einmal der mächtige Auftraggeber, der »große Chef«, der »graue General«, ja, nicht einmal der liebe Gott, der ihn seit Langem verlassen hatte (oder war es umgekehrt?), wird eine Ahnung haben, wie er das alles, diese ungeheure Last, ganz alleine in seinem zerbrochenen Herzen getragen hatte. Und jetzt endlich war er glücklich! Und frei! Versöhnt mit sich selbst. Solitär.

Er wollte fliehen und fliegen, er wollte zurück, jetzt sofort. Er hatte keine Zeit mehr, er wusste das; er war jetzt einfach besessen, er wollte die wenigen, glücklichen, heiteren, gedankenlosen Augenblicke seines Lebens füllen … nein, das ging bestimmt nicht mehr … er wollte diese zerrissenen Fragmente mindestens betrachten und genießen aus dieser Höhe, von diesem Gipfel, auf dem er jetzt angelangt war … Er hätte gerne geklärt, was nicht zu klären war … Oder war es das doch? Und wozu eigentlich?

Er tobte sich jetzt plötzlich wieder aus, frei, frei wie ein Vogel, und er genoss nur das Glück, rennend und wegrennend vor der eisigen, blendenden, weißen Kälte Russlands (oder war das Kanada oder China oder doch Sibirien?), vor der ekligen heißen Feuchtigkeit der Dschungel, vor dem Dreck und Gestank der Baracken und der unzähligen Arbeitslager … China und Sibirien, diese bestialische, unmenschliche Kälte … wie er sie hasste und immer gehasst hatte! Er rannte, er floh … wie immer … Jetzt aber, äußerlich sehr ruhig, war er entspannt und konzentriert. Damals war er voller Hass gegen alle und sich selbst, hektisch und unbeholfen, einsam, verdammt einsam, so wie ein ausgestoßener, verletzter Wolf, der sich in der sibirischen Tundra verlaufen hat.

Die Kälte vermischte alles. Was suchte er, verdammt noch mal, wieder in dieser weißen, eisigen Kälte Russlands, wo das ganze Unglück angefangen hatte? Und Markus? Nein, das war längst nicht mehr in Russland. Er hatte ihn, seinen Kameraden und Freund, seinen einzigen Freund und Bruder, in dieser ekelhaften, feuchten Hitze des Dschungels verlassen, er ließ ihn zurück, verletzt, blutend, jämmerlich, unwürdig und unmenschlich, in der anderen Hölle, in der heißen … Seine Augen, hoffnungslos, fluchend, feucht und traurig oder voll mit Hass bohrten sich jetzt noch brennend in seine Nacht, in sein Vergessen … »Erschieß mich, bitte! Bitte!« – »Sei verflucht!« – »Mein Bruder!« Er lebt, er will leben, er atmet, und seine Augen sind wie Feuer, nur, dass er sich nicht mehr bewegen kann, doch er hebt die beiden Arme und versucht aufzustehen, als ein Vietnamese mit dem Stiefel gegen seinen Kopf tritt und er in den Dreck zurückfällt, und du verlässt ihn da, in dieser barbarischen, verdammten, unwirklichen, heißen, grünen Hölle. Er lag mit anderen Verletzten auf dem Boden zwischen schwarzgrünen Blättern im feuchten Dreck, in seiner blutigen Uniform, verschmutzt, erniedrigt, verloren … Stephan und die anderen, die laufen konnten, mussten gedrängt von Bajonetten gehen … Und plötzlich stand Markus jetzt lachend direkt vor seinem Bett, wie damals in Paris … war das tatsächlich Paris? Wohin sind all die schönen Mädchen von damals verschwunden? Markus betrachtete ihn mit seinem traurigen Lächeln und jetzt, zu spät, wie immer zu spät, verstand er, dass Markus der einzige Freund und Mensch in seinem Leben war … Aber jetzt war sowieso alles zu spät. Zu spät! Trotzdem, er lebt, er ist da, bei dir im Zimmer, und er betrachtet dich, er ist jung geblieben, kräftig und schön … Er ist doch nicht dort geblieben, in diesem ekelhaften, feuchten, stinkenden Dschungel … Markus lebte … Oder du bist schon tot, und alles spielt sich in dieser anderen Welt ab, an die du nicht glauben wolltest, nie glauben konntest …?

»Markus, sieh mich mal an! Wie sehe ich aus?« Markus betrachtete ihn ironisch und traurig: »Merkst du gar nicht, dass wir schon lange weit weg sind und dass alles nur ein Spiel ist?« – »Wo?« – »Hier, in dieser anderen Parallelwelt, oder wie manche es nennen: ›Paradies‹ … Wir sind vollkommen frei und leben genauso wie in unserem alten Leben. Nur ein bisschen anders, mit anderen Sorgen … Und es kann sein, dass sich die beiden Welten vermischen. Aber wir leben weiter.« Stephan lachte, dann wurde er ernst, traurig und misstrauisch … Er betrachtete Markus, der jung geblieben war und sich wie ein Tänzer bewegte, er schien irgendwie zu schweben. Stephan wollte es nicht wahrhaben … In diesem Augenblick wurde ihm klar, jetzt erst verstand er oder glaubte zu verstehen, dass er schon längst tot war. Oder nicht? Er war jetzt weit weg von seinem Haus in Florida, weg von seinen Margareten … Es war doch ein Witz! Du bist tot, und es geht dir doch besser als vorher. Die Schmerzen sind weg, du kannst aufstehen und Markus umarmen. Es gibt ihn doch nicht! Du bist tot. Und diese andere Welt existiert trotzdem. Viel einfacher … Ist doch schön, angenehm. Diese andere Welt, die du immer abgelehnt hast, ist gar nicht so kompliziert und heimlich. Es ist eine Wiederholung. Eine einfachere Variante, eine verbesserte. Bequem und unkompliziert! Alles ist umsonst gewesen: die Zweifel, die Ängste … der lange Marsch durch die klebrige, grüne Hitze … der Marsch ins Verderben, in die ewige Lüge … Russland … wieder zurück dahin? Das willst du gar nicht mehr! Oder ist das die Bedingung, die Prüfung? Hier und jetzt in Florida wieder mit Markus in der schöneren Welt der Illusionen, hier im »Paradies« ist es wunderbar, bequem und ruhig … Ist schöner so! Hier kann man alles vergessen. Alles! Auch diese bedrückenden, bedrohlichen Auszeichnungen aus Russland, dieses unverdiente und unsinnige Blech, das dich wie ein Schatten, wie ein böser und immer bedrohlicher Schatten überallhin begleitet hat, wie geschriebene Mahnungen, die sich überall befinden, auf den Seiten der vielen Ordner, die dein Leben festhalten sollten, die wie Wanzen an dir klebten und dich verfolgten. Dein Gedächtnis versuchte immer, all das abzuschütteln, wegzuradieren, zu vergessen, und diese »Eisernen Kreuze« trübten die Tage und die Nächte, und kein Mensch wollte dir glauben, niemand wollte annehmen, dass du diese Auszeichnungen nur durch reines Glück, verrückten Zufall, gar durch Feigheit und vollkommen unverdient bekommen hast. Aber es ist schon so lange her … Damals, bei deinem ersten militärischen Kriegseinsatz, bei deiner Feuerprobe in dieser hässlichen, weißen Kälte, in diesem apokalyptischen Kugelregen, in dem blutigen, frischen Schnee, hast du nur versucht, dich von den Partisanen und vor dem Tod zu verstecken. Die ganze Kompanie lag auf dem Boden, und du hast nur versucht, dich unter deinem Kommandanten zu verstecken, dich zu retten, in dem Glauben, dass er tot war … Und so wurdest du ein Held, weil du ihn gerettet hast!

Stephan wollte, er musste jetzt alles organisieren, klassifizieren, einordnen … Alles war so durcheinander, und er hatte keine Zeit mehr! Nicht mehr viel. Oder doch? War das jetzt die Unendlichkeit? Aber wer wusste das schon? Er wollte gerade Markus fragen, was er dazu meinte, wie er das sah, ob das alles überhaupt wahr war, aber als er sich umdrehte, war Markus plötzlich weit weg. Er war trotzdem da, er musste noch da sein, vielleicht in einem anderem Raum … Oder? Er sah seinen Rücken, er erklärte etwas und rief ihn an und redete und redete, irgendwie erschrocken, wollte die Zeit anhalten, und dann drückte sich etwas an sein Bein, ganz leise wie eine Katze: Nat, sein Lieblingshund … Aber er war doch schon so lange tot … Da verstand er: Alles war ein Traum. Oder doch sein neues Leben nach dem Tod? Stephan zog Nat auf seinen Schoß, roch seinen Geruch, spürte seine Weichheit und die Freude des Hundes, der die Nähe genoss. Das Tier mit seinen astral riesenblauen Augen liebte ihn, und er lebte, er lebte in dieser neuen Welt, das wusste er jetzt; es war doch eine ganz andere Welt und kein Traum. Es wurde ruhig … angenehm warm … Der Hund war glücklich, Markus erzählte weiter, und plötzlich der Klang dieser Stimme, ein verrücktes, kräftiges, lautes Lachen … Die Frau, die Schöne mit den riesenblauen Augen war plötzlich wieder da, diese unglaublich blonde Schönheit, die ihn eigentlich sein ganzes Leben im Hintergrund wie ein Schatten jahrzehntelang begleitet hatte, ohne dass er etwas merkte. Stephan war wieder verwirrt … Wer war sie doch gleich? Nach so vielen Nächten … wie kann man nur eine Frau vergessen? Nach so vielen Nächten und Tagen und so vielen Erläuterungen … Nicht mal ein Name! Nicht mal der Körper, die Gesichtszüge … Und sie, diese wunderschöne Frau ist wieder da. Bei dir. In diesem Traum. Oder doch in dem zweiten oder dritten Leben. Das alles so verrückt sein kann! Und alle Schmerzen sind einfach weg … Und warum haben all wir Idioten so viel Angst vorm Sterben? Es ist doch so einfach! Wir rutschen einfach, wir gleiten, lassen alle Problemen hinter uns, und dann sind wir frei! Alles wird nun langsam einfacher … Glaubte er.

Als Stephan nach Amerika kam, lief alles wie geschmiert. Er war frei, bekam ganz schnell gute Arbeit, und bereits nach kurzer Zeit traf er Margareta. Sie war blond, blond, wie alle Frauen, die er liebte, und schön, und sie lachte, sie lachte mit ihrem ganzen Körper und den hellblauen Augen … Wieso waren alle Frauen in seinem Leben blond? Eine ganz blöde Frage! Wie seine Mutter. Das stellte er aber erst ziemlich spät fest – als er merkte, dass alles zu Ende ging … Kurz darauf kam die kleine Margareta, und alles wurde noch schöner, leichter, wundervoller. Sie lebten sorglos den wunderbaren amerikanischen Traum. Sie gehörten zu dem oberflächlichen, sehr zufriedenen, selbstbewussten Amerikanern, sie kreisten nur um sich selbst in ihrem hellen, strahlenden, farbenprächtigen Universum, und alles, was sich außerhalb davon befand, war ihnen fremd und wurde einfach ignoriert … Er merkte gar nicht, wie die Liebe oder das kurze ruhige Feuer allmählich eingeschlafen war. Margareta hatte ihre Haushaltssorgen und die Liebe zu ihrer kleinen Tochter und ihren Job, und sie war damit vollkommen ausgelastet. Er fühlte sich im Laufe der Jahre zunehmend freier: Keiner kümmerte sich um seine Person, und niemand suchte den Kontakt zu ihm. Er war viel auf Reisen für seine Firma, machte seinen Job gewissenhaft, und er war glücklich, wenn er nach Hause kam. Margareta organisierte hier alles, besorgte alles, und die Jahre lösten sich auf wie Pulver, wie Zucker, Tropfen in der Unendlichkeit … Manchmal, immer seltener, suchten ihn in schlaflosen Nächten oder beim Autofahren seine vergessen geglaubten Albträume heim: eine Mixtur aus der bestialischen Weißheit des russischen Schnees, der morbiden, erstickenden, feuchten, grünen Hitze des vietnamesischen Dschungels und der riesigen, grausamen, kalten, atlantischen Wellen, die das Schiff geschluckt hatten … Stephan konnte gut vergessen. Er hatte keine Skrupel, er schuldete niemandem etwas, er hatte nichts verbrochen. Er war frei! Er warf stückchenweise alles über Bord, verlor in mehreren Abschnitten irgendwie alles und gewann trotzdem immer scheibenweise ein Paar Reste. Aber nur Reste. Es war immer etwas. Er tröstete sich selbst und dachte an die vielen, die auf den Kampffeldern geblieben waren, oder an seine Kameraden, die in irgendeinem sowjetischen Lager gelandet waren und nichts mehr von diesem kapitalistischen »Scheißleben« hatten. Er konnte gut lachen. So viel Glück! Und die Befreiung von den Ängsten … Aber sein ständig unterdrückter »Verfolgungswahn« kratzte an ihm. Aber nur manchmal … Und kurz. Und danach war alles wieder vergessen.

Von Transsylvanien
ans Schwarze Meer

Und plötzlich wurde alles hell: Er war wieder da! Die gelben Weinberge im Herbst auf den vielen grünen, roten, rostigen Hügeln, der klare, blaue Himmel, der Sonnenuntergang versteckt von ein paar ungekämmten weißen Wolken … Er lebte doch ein zweites Mal, er war schon tot, und trotzdem konnte er auf denselben Straßen laufen, in dem kleinen Städtchen. Er war nun endlich zurück, nach vielen Tausenden von Kilometern und Hunderten oder Dekaden von Jahren, zurück in Blasendorf, in dem Ort seiner Kindheit – ob er überhaupt eine Kindheit hatte? –, egal, er hatte eine, aber es war doch keine richtige: nichts Schönes, nichts Heiteres, keine Liebe, keine Geborgenheit, nur Hass und Angst und Einsamkeit … Und trotzdem: Er sehnte sich nach dieser Zeit, warum auch immer … Vielleicht gibt es eine genetische Sehnsucht nach den vergessenen, unschuldigen Jahren, das quält bestimmt jeden. Und jetzt lief er trotzt allem in der kleinen Ödnis da, in dem geheimnisvollen Transsylvanien, auf dem Schulweg, den schweren Ranzen schleppend, träumend und auf Freiheit und große Reisen hoffend, zu den Meeren und Ozeanen, nach Afrika und Brasilien, in den Dschungel und zu exotischen Häfen … Er las die Nächte durch, alte Bücher über Trajans dakische Kriege und Apollodor von Damaskus, der die große Donaubrücke für des Kaisers Legionen baute, und er hoffte, seinen Geschichtslehrer, Herrn Luca, mit seinem Fleiß und seinem Wissen zu beeindrucken. Es war ihm eine große Freude, den Lehrern zu zeigen, dass er immer mehr las als verlangt war und in den Schulbüchern stand und dass er eine große Leidenschaft für Literatur und Geschichte und Geographie hatte; und er wollte damit irgendwie und vielleicht unbewusst seine Schwäche in Mathematik ausgleichen oder entschuldigen. Ein paar Mal bekam er von seinen Lehrern Lob, aber den großen Durchbruch, den Sieg, die Anerkennung hatte er nie erlangt.

Seine Stiefmutter, diese schreckliche, hässliche Frau, hasste ihn, er wusste das, er fühlte es, und für sie war er nur dämlich und faul, weil er die algebraischen Gleichungen und geometrischen Formeln nicht mochte und nicht verstand oder weil er sich darüber nicht seinen Kopf zerbrach. Vielleicht hatte sie recht, aber er widersetzte sich immer wieder und wollte nie das tun, was sie von ihm verlangte. Sie hatten immer Krach, und sie beschwerte sich ständig beim Vater. Irgendwann kam sie sogar in die Schule und bat den Schulrektor, Stephan in ein Erziehungsheim zu schicken, weil sie mit ihm und seinen Aggressionen nicht mehr zurechtkommen würde. Der Rektor und Herr Luca haben danach versucht, ihm in einem langen Gespräch klarzumachen, dass sie ihn verstehen und Mitleid mit ihm haben, dass sie zu ihm halten, und sollte er wieder Probleme haben, sollte er sich unbedingt bei Herrn Pop, seinem Klassenlehrer, melden, sie würden dann versuchen, ihm zu helfen. Der Vater wurde zum Klassenlehrer gebeten, aber er hat nie erfahren, was die beiden geredet haben. Sein Vater wurde danach noch trauriger, irgendwie bedrückt, nachdenklich. Nach dem ganzen Theater wurde Stephan wütend und aggressiv, er rebellierte und schrie der Stiefmutter ins Gesicht, dass er alles wüsste, dass die Lehrer ihm alles erzählt hätten und zu ihm hielten, und dann ist er nach ein paar Tagen einfach von Zuhause abgehauen. Er kaufte sich von geliehenem Geld, das er von Augustin, seinem Freund, bekommen hatte, eine Fahrtkarte bis Deva, da das Geld bis Arad nicht reichte, und war auf gut Glück einfach in einen Zug eingestiegen. Als der Zugbegleiter ihn weit hinter Deva erwischte und aus dem Zug werfen wollte, erzählte er ihm, dass sein Vater der Bahnhofsvorsteher von Blasendorf sei und dass er wegen der Stiefmutter die Nase voll von seiner Familie hatte, von Zuhause weggelaufen sei und zu seiner Mutter nach Arad flüchten wollte. Der Zugbegleiter hörte sich das alles auf dem Flur nachdenklich an und ließ ihn einfach weiter bis Arad fahren.

Nach etwa einer Woche erschien der Vater bei der Mutter in Arad, traurig, niedergeschlagen und mitgenommen, und versuchte verlegen und mit zittriger und schwacher Stimme, seiner Mutter zu erklären, dass ihm die ganze Geschichte sehr weh tue und er es bedauere, dass er unglücklich sei, und sich alles ändern wird, wohlwissend, dass sich nichts ändern würde und alles beim Alten bleiben wird. Aber Stephan hatte zumindest Widerstand geleistet, er hatte protestiert und gezeigt, dass er die Schnauze voll hatte und chancenlos und hoffnungslos, besiegt und erniedrigt, weil seine liebe Mutter auch keine Alternative, keine Lösung hatte und keinen Widerstand leistete, fuhr er mit seinem Vatter zurück nach Blasendorf. Im Zug, in diesen endlosen, langen Stunden, der Vater sagte nur: »Es tut mir leid.« Vielleicht konnte er einfach nicht reden, konnte sich nicht aussprechen. Oder er schämte sich. Und danach, nach dieser Reise, hat der Vater nie mehr versucht, mit Stephan zu reden. Früher, vor seiner Flucht, hatte er manchmal versucht, mit ihm zu sprechen, immer verlegen, unbeholfen, und hatte ihm linkisch, gequält, mit traurigen und feuchten Augen erklärt, dass er ihn sehr liebe, dass er sehr stolz sei, dass er sein Sohn sei; aber Stephan hatte gefühlt, dass es nur leere, gequälte, schattenlose Worte waren. Und Stephan wird niemals erfahren, nicht einmal jetzt vor der Pforte der Hölle, wer sein Vater wirklich war und was er in seiner sicherlich zerrissenen Seele mitschleppen musste. Ein Fremder … Sein Vater blieb für ihn ein Fremder. Und das ein Leben lang. Jetzt schmerzte ihn das. Sehr. Er verstand jetzt oder meinte zu verstehen, er glaubte, dass sein Vater nicht reden konnte, dass er sich nicht aussprechen konnte, weil er es selbst auch nicht konnte; wenn er das Gespräch mit seinen lieben Margareten suchte, hatte er unerklärliche, komische Hemmungen und konnte nicht über existenzielle und seelische Fragen reden. Aber es war sowieso zu spät. Niemand konnte irgendetwas wiedergutmachen. Die Scherben lagen weit zerstreut …

Stephan dachte immer, dass sein Vater nur meckern und schimpfen konnte, dass er nur das Schlechte und das Negative sah. Immer dieselben Vorwürfe: »Du hast wieder schlechte Noten! Du wirst sitzen bleiben! Du wirst es zu nichts bringen! Du wirst kriminell!«

Sein Vater war als Bahnhofsvorsteher bekannt, eine wichtige Person in Blasendorf, aber Stephan hatte nie erfahren, was die Menschen im Ort wirklich über ihn dachten. Er hatte Stephans Mutter verlassen und ihn einfach mit nach Blasendorf genommen, wie einen Koffer, ohne mit ihm zu reden oder ihn zu fragen, ob er überhaupt ohne seine Mutter leben möchte. Und bereits nach kurze Zeit landete Rosa im Haus, jung, dick und hässlich, und irgendwann gebar sie ein Mädchen, Margareta, seine Schwester, und dann kam noch die Großmutter dazu, die Mutter von Rosa, und die Wohnung im Bahnhof wurde voll. Stephan wollte immer zu seiner Mutter, hier fühlte er sich fremd und ungeliebt, aber der Vater wollte seinen einzigen Sohn aus Ehrgeiz, nur aus Ehrgeiz, glaubte er, selbst erziehen, und Stephan hat nie erfahren, was der wirkliche Grund war. Er zog sich in all diesen Jahren immer mehr zurück, vergrub sich in seinem kleinen Zimmer, voll mit gestapelten Büchern. Da hatte er seine Ruhe, seinen Trost, allein mit seinen Dichtern und seinen Helden, da konnte er ungestört alles durcheinanderlesen und durch die Welt und in längst vergangene Zeiten reisen. Als er seine ersten Gedichte schrieb, nahm ihm der Lehrer für Literatur, Herr Pop, in den »Club der Dichter« auf, und da verliebte er sich zum ersten Mal hoffnungslos: in Monika, die schon in der Oberstufe war, die aber hochnäsig und schön war und die für ihn keine Augen hatte. Er liebte sie trotzdem, weiterhin heimlich, er widmete ihr ein paar Gedichte, die er im Club las, die sie aber nicht verstand oder nicht verstehen wollte und bei denen sie alles sehr witzig fand. Er war für sie ein Kind, auch wenn sie nur zwei Jahre älter war. Es war nun einmal so … Er war verliebt und musste leiden, und ausgerechnet jetzt lasen sie DIE LEIDEN DES JUNGEN WERTHER in der Klasse … Dann spielte Stephan den Don Carlos im Schultheater und dachte, er hoffte, dass er Talent habe und Schauspieler werden könnte und dass das seine Berufung sei, aber Herr Pop versuchte ihm klarzumachen, dass er besser Medizin oder Jura studieren solle. Oder etwas ähnliches …

Jetzt, mit dem Tod als Zeuge, oder besser nicht, die Schmerzen waren weg (war er doch im Paradies?), sehnte er sich nach einem Gespräch mit seinem Vater. Und mit seiner Mutter. Ausgerechnet jetzt! Nach so vielen Jahren … Er hätte gerne gewusst, wer seine Mutter war, die schöne, kühle, blonde Frau (in seiner relativen und verschwommenen Erinnerung), wie sie dachte und wovon sie in ihrer Jugend geträumt hatte. In seiner Seele oder in seinem Gehirn trug er ein sehr altes Bild von ihr: seine Mutter, sie war vielleicht siebzehn oder zwanzig, mit ihren Eltern auf einem Schiff, ihr Vater blickt irgendwie trotzig auf seine Tochter herab, und ihre Mutter schaut in die Ferne, gleichgültig und gelangweilt. Er hätte so gerne gewusst, was die Kleine, seine Mutter, damals gerade gedacht oder geträumt hatte. Wie ihr Leben war, wer seine Eltern waren und wie sie waren … Er wusste überhaupt nichts über seinen Vater und seine Mutter, über ihr Leben und ihre Seelen, und ausgerechnet jetzt schmerzte ihn das; es tat ihm richtig weh. Warum um Gottes willen jetzt und all die vielen Jahre nicht? Vieleicht ist es immer so! Ein jeder rennt blindlings durch die Zeit, durch die Jahre und durch die Materie. Und die Fragen werden immer verschoben. Er wuchs von klein auf ohne Liebe, ohne Eltern, ohne Familie auf, er konnte sich gar nicht daran erinnern, wann er von seiner Mutter weggerissen wurde, war er drei oder fünf Jahre alt gewesen? Er hatte praktisch keine Kindheit gehabt, er hatte sie einfach übersprungen. Er hatte nie seine Großeltern gesehen. Sie wohnten weit weg, und die Mutter, das dachte Stephan zumindest, hatte sich irgendwie von ihren Eltern entfremdet, oder sie war einfach ausgestoßen worden. Wegen des Vaters … Sie wollten ihn nicht als Schwiegersohn haben. Stephan wusste auch, dass die Eltern seines Vaters nicht mehr zusammenlebten, aber mehr wusste er nicht und auch nicht warum; er hatte auch erfahren, dass die Mutter seines Vaters anders hieß als der Großvater … Waren sie nie verheiratet gewesen? Komisch! Das hatte ihn bis jetzt noch nie interessiert! Und warum ausgerechnet jetzt? Und trotzdem: Sein Vater trug den Namen seiner Mutter und nicht den Namen seines Vaters? War sein Vater ein Bastard? Die Mutter erzählte ihm, dass sie ihre Schwiegereltern nie gesehen hatte und nichts über die beiden wusste. Warum tauchen plötzlich so viele Fragen, so viele Geheimnisse auf, die ihm früher gleichgültig gewesen waren? Wieder gewaltige Kaskaden, Katarakte von Bildern und Geschichten und Sprachen und Geschrei …

So war es vielleicht hier, in dieser Welt nach dem Tod: Alles muss geklärt werden … Fragen, die jahrelang verdrängt wurden, liegen jetzt blank auf dem Tisch …