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Luise Köppen, 1961 in Rendsburg geboren, verbrachte ihre Kindheit unter fünf Geschwistern in Koblenz im Rheinland, studierte in Karlsruhe Biologie. Seit 26 Jahren lebt sie mit ihrem Mann bei Lübeck. Die beiden haben vier Kinder. Sie ist heute Lehrerin für Biologie und Chemie an einem Gymnasium. Ihr Lieblingsehrenamt ist das aushilfsweise Orgelspielen in der katholischen Kirchengemeinde.

Luise Köppen

Das Erwachen des Tänzers
Wie ich meinen Sohn aus
dem Koma begleitete

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Erste Auflage 2017

© Euphelia Verlag UG Hamburg 2017

Alle Rechte vorbehalten,

insbesondere das der Übersetzung, des

öffentlichen Vortrags

sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen,

auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert

oder unter Verwendung elektronischer Systeme

verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlaggestaltung: Judith Hilgenstöhler, Hamburg

Umschlagabbildung: © Carola Bayer

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN 978-3-947123-00-1

Inhalt

Unfallbericht der Polizei

Aus der Mitte gerissen

Aschermittwoch, 22. Februar 2012

In der Kirche

Die Nachricht

Erster Bericht des Unfallarztes

In der Schule

Häschen in der Grube

Psychosoma

Katinka

Chanel No. 5

Hausaufgaben

Mechow

Gedankenreise

Der Spatz

Offenbarungen

Elsa

Auf der Mitte des Styx

Organspende

»ALLES WIRD GUT!«

Auf der Suche nach dem Gedächtnis

Zwischen den Welten

Big Ben

Rituale und Lieder

Anfeuern ist das Wichtigste, Anfeuern!

Talitha kumi

Rückschläge

Zielgerade

Geflügelte Pläne

Glück – die große Summe der kleinen Freuden

Der Wert von Streit und Auseinandersetzung

Wiedereintritt in die Erdatmosphäre

Snoezelraum

Zurück auf dem Heimatplaneten

Das Feuer des Prometheus brennt wieder

Schicksale der Stationen 4 und 5

Was von unserem Sohn noch übrig ist!

Eine Hummel für alle

Anhang

Unfallbericht der Polizei

Am 22.02.2012 um 17.56 Uhr passiert auf der B 206 in Bad Segeberg direkt vor der Feuerwache und der Kreisleitstelle ein Unfall. Ein roter Golf kommt von der Fahrbahn ab und stößt mit einem LKW auf der Gegenfahrbahn zusammen. Der Fahrer ist so in seinem Fahrzeug eingeklemmt, dass er von der Feuerwehr herausgeschnitten werden muss.

Ein sachverständiger Gutachter ermittelt, dass beide Unfallfahrzeuge mit der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h unterwegs waren. Nach Aussagen der Zeugen gab es ein Hupkonzert, auf das der Golffahrer nicht reagiert hat. In einem lang gezogenen Bogen hat er die beiden Spuren nach links verlassen und ist auf den Gegenverkehr zugesteuert. Dort kollidierte er mit dem LKW.

Der Golffahrer ist der einzige Verletzte.

Aus der Mitte gerissen

Katastrophen passieren nicht plötzlich. Sie kündigen sich immer in irgendeiner Form an und das ist der Grund, warum wir, wenn sie dann eintreten, relativ gut damit umgehen können.

Wir sind darauf vorbereitet.

Aschermittwoch, 22. Februar 2012

Wie gewöhnlich für einen Mittwoch in dieser Jahreszeit gehe ich ins Fitnessstudio, es ist kurz vor sechs. Ich starte auf dem Walker.

Highspeed!

Für eine Fünfzigjährige bin ich körperlich ziemlich fit. Drei Mal in der Woche trainiere ich in besagtem Fitnesscenter. Ich habe keine gesundheitlichen Einschränkungen, schlafe nachts gut, rauche nicht und trinke nur zu besonderen Gelegenheiten Alkohol. Leichtes Übergewicht und ein gut eingestellter Bluthochdruck relativieren das positive Bild ein wenig.

Andere in meinem Alter hat es schon dahingerafft, aber das sind eben andere gewesen. Leute, die anscheinend irgendetwas falsch gemacht haben in ihrem Leben. Und aus diesem Grund hat das Fitnesscenter erst neulich einen Defibrillator angeschafft. Denn hier erlitt ein relativ junger Mann einen plötzlichen Herztod. Ich weiß aus sicherer Quelle, dass er wirklich etwas falsch gemacht hat. Er hatte sich trotz einer schweren Erkältung und Medikamenteneinnahme zu sehr verausgabt. Zack – weg war er! So ist das nun einmal.

Unsere biologische Daseinsberechtigung ist für jeden irgendwann abgelaufen. Für mich und meine Altersklasse gilt: Es macht nichts, wenn wir tot zusammenbrechen. Die Natur will es so und so muss es auch sein. Das individuelle Leben muss nach einer gewissen Zeit vergehen, um der nächsten Generation Platz zu machen. Neue Stammzellen bilden junge, vitale Zellen. Dafür habe ich mit vier Kindern gesorgt. In Gedanken gehe ich sie nacheinander durch und komme zu dem Schluss, dass sie alle groß und selbständig sind und meiner nicht mehr bedürfen. Ich rekapituliere das Ergebnis, weil ich gerade nicht glauben kann, was für ein Gedanke da in meinem Kopf herumwabert, sich festsetzt und partout nicht verfliegen will:

Deine Aufgabe ist noch nicht erfüllt.

Es ist gespenstisch!

Frederik, unser ältester Sohn, ist zweiundzwanzig Jahre alt. Vor drei Jahren hat er Abitur gemacht, ist dann für ein Jahr nach Palästina gegangen, um Ersatzdienst zu leisten. Wir haben Ängste um ihn ausgestanden, denn damals tobte der Gaza-Konflikt ziemlich heftig, aber jetzt ist er wieder in Deutschland, studiert in Halle an der Saale Geschichte und Arabisch und hat sein vorläufiges Ziel im Grunde erreicht. Das Berufsbild ist noch nicht fest, aber das wird sich finden. Da ist also alles in Ordnung.

Carla, unsere Tochter, ist zwanzig Jahre alt. Sie hat vor zwei Jahren Abitur gemacht und danach ein Freiwilliges Soziales Jahr in Frankreich, in Taizé, absolviert. Danach hat sie ihr Musikstudium begonnen, zufällig ebenfalls in Halle. Französisch hat vorerst nicht geklappt, aber auch das wird sich noch finden. Sie ist die geborene Lehrerin und auch sie wird ihr Ziel erreichen. Das ist also auch in Ordnung.

Ludwig ist neunzehn Jahre alt, hat im letzten Jahr Abitur gemacht und dann direkt seine Ausbildung zum Tanzlehrer begonnen. Sein größter Traum! Gerade ist er Norddeutscher Meister im Discofox geworden. Mein Mann und ich mussten damals etwas schlucken, als er uns seine Entscheidung hinsichtlich seines Berufswunsches mitteilte. Wenn ein Kind von zwei Akademikern Tanzlehrer werden will, dann gibt es Gesprächsbedarf! Aber er hat sich selbst und seinen Traum so hartnäckig vertreten, dass wir schließlich nur zustimmen konnten. Unser heimlicher Trost ist die Hoffnung, dass er im Anschluss an die Lehre vielleicht noch ein BWL Studium anhängen wird. Und damit ist auch das in Ordnung.

Bruno, unser Nesthäkchen, geht mit fünfzehn Jahren zwar noch zur Schule, aber alles läuft problemlos. Er ist ein guter Leichtathlet, Speerwerfen ist seine Königsdisziplin. Das Gitarre spielen hat er vor einigen Monaten für sich entdeckt. Momentan nimmt er am Firmvorbereitungskurs in der Kirche teil. Ja, er wäre über sehr gute Freunde, Sport- und Musikvereine sozial so fest und sicher integriert, dass es für meinen Mann kein Problem wäre, ihn tagsüber alleine zu lassen, wenn es mich nicht mehr gäbe.

Das ist ebenfalls in Ordnung.

Mein Mann Martin arbeitet in Hamburg. Jeden Tag fährt er mit Bus oder Bahn morgens aus unserer malerischen norddeutschen Kleinstadt mit dem Zug dorthin und kommt abends wieder zurück. Ein- bis zweimal pro Woche übernachtet er in Hamburg, wo er mit Ludwig zusammen eine Art Wohngemeinschaft führt. Eigentlich ist es so, dass Ludwig dort wohnt und Martin den Luxus genießt, gelegentlich dort aufzuschlagen und immer etwas im Kühlschrank und eine warme Heizung vorzufinden. Wir haben einen festen, verlässlichen Freundeskreis, sind gut in unsere evangelische und katholische Kirchengemeinde eingebunden und sind alle Mitglieder beim örtlichen Sportverein. Es gäbe keine unlösbaren Probleme. Ja, es wäre alles machbar ohne mich. Ich habe mein Soll hier erfüllt!

Da kommt dieser geisterhafte Gedanke wieder. Glasklar, stärker als zuvor und mit genau derselben Botschaft:

Nein, du kannst nicht gehen, du musst für Ludwig überleben!

Das Unheimliche ist, dass sich dieser Gedanke einfach nicht abschütteln lässt.

Automatisch verlangsame ich meine Schritte. Ich kann es noch immer nicht begreifen.

Ludwig ist von all unseren Kindern das zielstrebigste. Er hat eine feste Vorstellung von seiner Zukunft, einen starken Willen, ist gesund, Leistungssportler und lässt sich am allerwenigsten verunsichern. Vorsichtshalber überanstrenge ich mich nicht. Ich mache heute sowieso etwas früher Schluss, denn heute ist Aschermittwoch und um sieben Uhr ist der Gottesdienst.

In der Kirche

Mensch gedenke, dass du aus Staub bist und wieder zu Staub zurückkehren wirst.

(Genesis 3, 19)

Es sind Worte, die einen mehr als 1000 Jahre alten Geist atmen. Eigentlich handelt es sich um eine Erinnerung an die Endlichkeit des menschlichen Lebens, die gläubige Katholiken in aller Welt während der abendlichen Messfeiern am Aschermittwoch vom Priester mit auf den Weg bekommen. Denselben Vers spricht der Priester auch als Segen, während er einem Verstorbenen Erde ins offene Grab wirft. Dabei gilt die Asche nicht nur als Symbol der Vergänglichkeit, sondern auch der Reinigung. Seit meiner Kindheit kenne ich diesen Spruch, der uns Katholiken beim Auftragen des Aschenkreuzes an unsere Endlichkeit erinnern soll und uns in eine vierzigtägige Fastenzeit entlässt. Eine Zeit der besonderen Selbstreflexion, einer tiefen Bewusstheit, die uns auf das Osterfest vorbereitet, auf den Tod und die Auferstehung Jesu Christi.

Meine bizarren und verstörenden Gedanken habe ich längst weit weggeschoben. Das ist auch gut so, denn Clara ist heute schon für ein verlängertes Wochenende aus Halle angereist. Wir haben uns viel zu erzählen und müssen den Kopf frei haben, um die nächsten Tage zu planen. Sie und Bruno treffe ich wie verabredet in der Kirche.

Mein Handy klingelt. Peinlich! Gott sei Dank mitten im Schlusslied, da fällt es nicht so auf. Dennoch dreht sich eine gute Bekannte aus dem Frauenclub unserer Gemeinde natürlich empört nach mir um. Auf dem Display sehe ich, dass es Martin ist. Ich lasse ihn gar nicht zu Wort kommen, sondern baue darauf, dass er den dominanten Orgelklängen im Hintergrund entnimmt wo ich bin und sage nur ganz kurz, dass wir bald zu Hause sein werden.

Clara, Bruno und ich sind mit dem Fahrrad unterwegs. Der Heimweg dauert nicht lange. Einmal über den kleinen Hügel, auf dem Damm zwischen den Seen entlang und dann den Berg hoch. Noch zehn Minuten vielleicht, dann sind wir da, decken den Tisch und freuen uns darauf, mal wieder in größerer Runde zu Abend zu essen.

Ein Polizeiauto kommt uns aus unserer Straße entgegen. Ich wähne uns alle in Sicherheit.

Die Nachricht

Ungewöhnlich früh ist Martin an diesem Tag zu Hause. Am kommenden Wochenende wollen wir feiern, denn wir haben gleich mehrere gute Gründe:

Der erste gute Grund ist Markus, Claras neuer Freund. Er kommt aus dem Thüringer Wald und macht gerade mit seiner Familie Urlaub an der Ostsee. Morgen früh soll er bei uns eintreffen.

Der zweite gute Grund ist Miok. Denn auch Frederik möchte uns seine Freundin vorstellen. Sie wohnt zwar in Halle, ist aber gebürtige Südkoreanerin. Wir erwarten die beiden ebenfalls morgen.

Und schließlich hat Martin am kommenden Sonntag und Bruno am kommenden Montag Geburtstag. Martin und Bruno haben sich jeder eine Geburtstagsgesellschaft eingeladen, mit der wir groß feiern wollen.

Ja, wir sind alle guter Dinge.

Als wir nach Hause kommen, ist der Eingang dunkel. Martin sitzt am Tisch. Er sieht blass und schmallippig aus.

Tonlos und einsilbig erzählt er uns, dass Abdol, Ludwigs Tanzlehrer, und die Polizei ihn davon in Kenntnis gesetzt haben, dass Ludwig einen Unfall hatte, dass er aber »nicht in Lebensgefahr« und »momentan stabil« sei.

Hm, das sind zwei allgemeine Phrasen, die so harmlos daherkommen wie zwei weiße Kaninchen. Phrasen, die ich benutzen würde, wenn ich nichts sagen will …

›Warum kommt extra die Polizei, wenn jemand außer Lebensgefahr und stabil ist‹, denke ich gerade, als Clara und ich spontan anfangen zu weinen.

Martin und Bruno sind beide gefasst.

Martin: »Wir fahren erst los, wenn wir etwas gegessen haben. Nach dem Unfall ist vor dem Unfall!«

Bruno: »Brüderchen wird das schon schaffen.«

Später werde ich erkennen, dass sie beide jeder wie ein Baum für mich waren.

Ohne viele Worte zu verlieren fahren Martin und ich los. Über die B 207 Richtung Lübeck.

Alles unspektakulär. Keiner von uns sagt ein Wort. An dem Kreisel über der Autobahnanschlussstelle kommt mir eine glasklare Eingebung. Wieder so ein zäher, aber glasklarer Gedanke wie vorhin im Fitnessstudio. Doch jetzt beruhigt mich dieser Gedanke:

Jetzt wird es richtig lange dauern, bis wir wieder mit Ludwig sprechen können.

Nicht mehr und nicht weniger.

Irgendwie aus einem anderen Orbit.

Im Krankenhaus dürfen wir Ludwig nicht sehen, nur mit einem Arzt sprechen.

Erster Bericht des Unfallarztes

Fakten bleiben Fakten und nur ein warmer Mantel der Naivität und unsere Intuition, wenn wir sie denn wahrnehmen, ermöglichen uns, zu hoffen.

»Ihr Sohn hat linksseitig eine Unterarm-, Oberarm- und Schulterfraktur. Die Milz ist gerissen. Der linke Hauptbronchus ist von der Lunge fast vollständig abgerissen. Momentan liegt ein Stent und wir hoffen, dass das Gewebe wieder zusammenwächst. Vielleicht ist der linke Lungenflügel noch zu retten. Man kann sich das so wie bei einem Baukastensystem von Fischertechnik vorstellen: Ein Röhrchen verbindet die beiden abgerissenen Bronchusteile miteinander. Bronchien sind ja gewissermaßen auch Röhren, die die Luft in die Lunge leiten. Mit ein bisschen Glück wachsen sie wieder zusammen und der linke Lungenflügel kann erhalten bleiben. Einige Rippen sind gebrochen. Der Schädel ist an fünf Stellen gebrochen. Es liegt ein Schädel-Hirn-Trauma dritten Grades vor. Ihr Sohn wurde uns mit einem GSC 4 übergeben. Die Glasgow Coma Scala ist ein Bewertungsschema, das beschreibt, wie stark das Bewusstsein eines Patienten eingeschränkt ist. Sie reicht von 3 Punkten im schlechtesten Fall bis zu 15 Punkten im besten Fall. Bei einer Punktzahl von 8 oder weniger besteht eine schwere Funktionsstörung des Gehirns. Es besteht akute Lebensgefahr wegen einer Atmungsstörung, deswegen wird ihr Sohn zur Zeit künstlich beatmet.«

Er macht eine kleine Pause für uns, denn das sind viele Informationen, die wir verarbeiten müssen. Würde man jede einzelne dieser Diagnosen gleichmäßig auf Ludwigs ganzes Leben verteilen, wäre jede von ihnen schon für sich allein genommen ein Grund zu echter Besorgnis.

Der Arzt beginnt wieder zu sprechen:

»Am kritischsten aber ist, dass eine Arterie, die zum Schädel führt, durchtrennt war. Wir konnten dieses Gefäß zwar wieder zusammennähen, aber seine linke Gehirnhälfte hat vierzig Minuten lang keinen Sauerstoff bekommen. Die gesamte linke Hemisphäre ist damit komplett abgestorben. Ein Aufwachen ist mit einer derartigen Verletzung zwar nicht ausgeschlossen, aber äußerst unwahrscheinlich.«

»Was ist mit der Wirbelsäule?«, höre ich mich fragen.

»Die ist in Ordnung, bis auf ein paar abgebrochene Dornfortsätze.«

›Gut, dann ist alles möglich!‹, denke ich langsam.

Draußen auf dem Gang treffen wir Abdol, den Ausbilder von Ludwig. Mit seiner Mitarbeiterin Paula, die er als Ludwigs Schwester ausgegeben hat, hat er versucht zu Ludwig vorzudringen. Vergeblich. Es tut gut, dass er da ist, denn das bedeutet, dass sich noch jemand um Ludwig bemüht und dass wir nicht alleine sind.

In der Schule

Ich bin Lehrerin für Biologie und Chemie an einer Privatschule in Bad Schwartau. Ludwig hat vor einigen Jahren hier seinen Realschulabschluss gemacht und momentan besucht auch sein jüngerer Bruder Bruno an dieser Schule die neunte Klasse. Wir sind hier also einschlägig bekannt. Für Bruno und seine Klassenkameraden beginnt jetzt eine schwierige Zeit. Sie wissen es noch nicht.

Clara, Bruno und ich fahren am zweiten Tag nach dem Unfall morgens los zur Schule. Mein Chef, selbst auch Lehrer für Biologie und Chemie, erfasst das Ausmaß der Katastrophe sofort und reagiert sehr verständnisvoll. Ohne lange zu zögern und anstandslos gibt er mir frei: »Jede Zeit, die Ludwig jetzt braucht!« Glücklicherweise bin ich mit allen Vorbereitungen zur Prüfung, die im Mai beginnt, schon fertig. So kann ich auch wirklich jede freie Minute für Ludwig erübrigen.

Kurz vor dem Klingeln zur ersten Stunde, also wenn möglichst viele Kollegen im Lehrerzimmer anwesend sind, gebe ich meine neue Situation bekannt.

»Ludwig ist vorgestern Abend schwer verunglückt. Die meisten von euch kennen ihn ja persönlich. Momentan liegt er im Koma. Ob er überleben wird, wissen wir noch nicht.« Alles schweigt.

Beim Verlassen des Lehrerzimmers kommen von einigen Kollegen großer Zuspruch und Hilfsangebote. Einer erzählt mir, dass er in dem Stau gestanden hat, den der Unfall verursacht hat. Einige geraten in eine Art Betroffenheitstaumel, andere reagieren gar nicht. Schlimme Nachrichten lähmen, machen hilflos, lassen uns dummes Zeug reden.

Dann kommt der für mich schwierigste Teil, nämlich meine Klasse zu informieren.

Zurzeit bin ich Klassenlehrerin einer zehnten Klasse, die im Frühsommer den Realschulabschluss machen soll. Es hat also gerade die Zeit begonnen, in der es langsam ernst wird. Probeklausuren, Abgabe der Referate, Vorzensuren und ähnliche Stressfaktoren belasten die Schülerkreisläufe. Das Verhältnis zwischen meinen Schülern und mir ist sehr vertraut, sehr entspannt, obwohl ich sicher nicht der Typ Lehrer bin, der als cool bezeichnet werden kann. Ich würde zum Beispiel niemals Pokemon Go oder ähnlichen Blödsinn mit ihnen spielen. Aber welcher Schüler will das überhaupt? Wenn ich mich dann und wann zu einem Handcheck mit einem Schüler hinreißen lasse, dann eigentlich nur, um mich zu versichern, dass ich mir noch mehr als drei Bewegungsabläufe hintereinander von einem auf den anderen Tag merken kann (klappt meistens). Nein, ich verlange viel, bin streng und versuche, gerecht zu sein; wobei mir die Sache mit der Gerechtigkeit einfach nicht so richtig einleuchtet. Wie kann man zu über zwanzig Schülern gleichzeitig gerecht sein? Mir erscheint das unmöglich! Darum lasse ich sie einfach, nachdem sie ihre Leistungen – und damit auch ihren Respekt mir gegenüber – erbracht haben, in Ruhe. Ich belohne sie großzügig, wenn ich merke, dass sie ihr Bestes gegeben haben. Bringen sie keine guten Leistungen und bemühen sie sich nicht, drücke ich ihnen nur kurz mein Bedauern aus. Immer nach dem Motto: Bei den Intelligenten kommt es auf das Ergebnis an, bei den Dummen auf die ehrliche Bemühung. Ich glaube sie erfahren recht selten den Luxus, nicht nur ergebnisorientiert bewertet zu werden. So sind mir auch die einfältigen Schüler sehr nahe, vielleicht gerade diese. Häufig paart sich diese nachteilige Eigenschaft auch noch mit sonderbarem Verhalten, man könnte es auch so ausdrücken, dass diese Kinder völlig neben der Spur sind und diese Schüler stellen für mich dann eine besonders große Herausforderung dar. Ich liebe diese großen Aufgaben.