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Ingrid Hayek

Doña Laura

spielt Bingo
und gewinnt ein Huhn

Reiseerzählungen aus Ecuador

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Für Konrad Hayek

2017

ENTREMÉS – VORSPEISE

Dies sind die Aufzeichnungen aus einem Land, in dem ich

imageDistanzen in Dollar messe

imageeinen Monokini trage

imageTortillas um 25 Cent das Stück verkaufe

imageLebensbeichten anhöre und aufschreibe

imageTigermilch trinke

imageeinen Gummistiefel im Schlamm verliere

imageNelson, Nixon, Kelvin und Chávez persönlich kennenlerne

imagekeine schwarzen Bananen essen möchte

imagemit Don Victor in einem Bett schlafe

imagebeinahe eine Schamanin werde

imageeinen Knochenbruch mit gefrorenem Fleisch behandle

imagevergeblich Kakerlaken in Kühlschränken jage

imagein zwei Tagen 1018 Wörter Quichua lerne

imagenicht ganz katholische Predigten halte

imagein der Disco mit drei Bäuerinnen sitzend tanze

imageKaffee esse

imagenackt im Fernsehen schwimme

imageTöpfe mitgehen lasse

imagevor verrückten Kühen davonlaufe

imageim Internet-Café immer einen Schuh ausziehe

imagebeim Bezahlen einer Stromrechnung fast in Ohnmacht falle

imageschwanger Rechtsanwälte verspeise

imagevon Torten gebissen werde

imageLiebesschwüre am Computer korrigiere

imagemit schlafenden Kakaobauern verhandle

imagedas Leid von Flüchtlings-Hinterbliebenen hautnah erlebe

imageeinem eingeseiften Hund nachlaufe

imagein der Sauna unter Wolldecken mit Flöhen kämpfe

imageeinen bitteren Nachgeschmack von Kakao habe

und Gringa loca (verrückte Weiße) heiße

INHALT

2010: ENTDECKEN

Ankunft

Lourdes

Padre Teodoro

Doña Laura

Reine Seele in beflecktem Körper

Schulstart

Computerprobleme

Alltag in La Florida

Hundeleben

Fiestas in Pijilí

Amigos de Austria

Ein ökologischer Spaziergang

Fiesta de Despedida

2011: WIEDERKEHREN

Wiederkehr

Dialog: Richtige und falsche Freunde

Eine heiße Stromrechnung

Ein Bauernmarkt, eine gebrochene Hand und eine verrückte Kuh

Ein Diplomzeugnis, viele Kilometer und wenig Schlaf

Drei Lagunen, vier Flüsse und ein Goldschatz

Schlagkräftige Frauen

Dialog

Ein Geisterdorf

Ein Märchen (?)

Eine Mariengeschichte

Magdalena

Immigration ist auch Emigration

Erzählung einer Migrantin

2012: NACH HAUSE KOMMEN

Bingo

Waldbesitz in Pahuancay

Bittere Schokolade

Eine lebensgefährliche Ernte

Reuniones de Cacao inklusive Gringa

Eine Kakaofabrik in Cuenca

Hermann Svetnik, der Grindio

Der Arqui und die Mühle

Kakaobohnen, Brandblasen und ein kurzer Hebel

Reise einer Carishina mit drei Dirigentinnen und Don Victor

Schmuck und Schmutz

Erwartete Preise, eine unerwartete Taufe und langes Warten auf eine Fiesta

Maschinen kaufen

Happy End?

Dank

2010:
ENTDECKEN

Hoy comienza una nueva etapa.
(
Heute beginnt eine neue Etappe.)
Che Guevara, Bolivianisches Tagebuch

ANKUNFT

Juli 2010: Eine lange Menschenschlange wälzt sich in gemächlichem Tempo vom Gepäckausgabeband zum Zoll. Es ist früh am Morgen, die Luftistwarm, aber nicht unangenehm. 17 Stunden Flugreise liegen hinter mir. Nun bin ich in Guayaquil, der größten Stadt Ecuadors, deren Namen kaum jemand kennt, der noch nicht hier war. Auch mir wurde die Stadt erst vor einem Jahr zu einem, wenn auch abstrakten, Begriff.

Wäre nicht mein Sohn im Sommer 2009 mit einer kleinen Gruppe von Österreichern hierhergefahren, um in einem Dorf in der Küstengegend eine Schule zu errichten, dann hätte ich ihn beim Abschied nicht beiläufig gebeten, zu erkunden, ob es nicht auch für mich eine Möglichkeit gäbe, mich dort sozial zu engagieren.

Und hätte der Projektkoordinator Padre Teodoro nicht für eben diese Schule jemanden mit Englisch- und Computerkenntnissen gesucht … ja, dann würde ich jetzt wohl nicht halb belustigt, halb ungeduldig mit mehreren Laptops als Mitbringsel im schweren Koffer in der inzwischen zum Stillstand gekommenen Warteschlange stehen.

Der Scanner für die Gepäckskontrolle hat genau, als ich an der Reihe bin, den Geist aufgegeben. Der mitleidige Zöllner reiht mich in der Warteschlange des zweiten Scanners hinter einer Großfamilie mit 17 Koffern ein. Als ich endlich an die Reihe komme, geht alles sehr schnell. Meine drei Laptops werden entweder nicht bemerkt oder einfach ignoriert.

Draußen wartet schon, wie angekündigt, der Padre mit einem Schild „Ingrid“ auf mich. Nachdem er mich herzlich mit Umarmung, einem Wangenküsschen und einer Abwehrbewegung bei der zweiten Wangenberührung begrüßt hat, stellt sich heraus, dass es nicht der Padre Teodoro ist, sondern Antonio, ein Mitarbeiter aus Spanien, der vom Padre beauftragt wurde, mich beim Ausgang zu erwarten. Nach einer Weile kommt dann der echte Teodoro. Die Begrüßungszeremonie wiederholt sich: Umarmung, Wangenberührung mit Abwehrhaltung.

In einem alten Mazda-Pickup geht es bei Nieselregen erst durchs Verkehrschaos von Guayaquil, dann durch die schlammige Pampa, gesäumt von Zuckerrohr, Teak-, Bananen- und Kakaobäumen, in drei Stunden nach La Florida, einem kleinen Dorf am Fuße der Anden.

Während der slalomartigen Zick-Zack-Fahrt um die vielen Schlaglöcher führen wir eine angeregte Diskussion über die Wirtschaft in Ecuador und der Welt.

Die Ecuadorianer machen sich rührenderweise große Sorgen über Europas Wirtschaftskrise, beklagen aber auch die dolarización in ihrem eigenen Land, die ihrer Meinung nach auf schwachen Beinen steht, sollten die amerikanischen Ölfirmen Ecuador den Rücken kehren.

Dolarización – Offizielle Dollarisierung

Von offizieller Dollarisierung spricht man, wenn die ausländische Währung die 100-prozentige Rolle des Geldes übernimmt. Zurzeit haben neben Ecuador nur Panama und El Salvador in Lateinamerika den US-Dollar als Währungsersatz eingeführt. Der US-Dollar ist seit September 2000 die offizielle Landeswährung Ecuadors.

Bei der Dollarisierung verlor die ursprüngliche Währung Ecuadors, der Sucre, innerhalb kürzester Zeit drastisch an Wert. Für 25.000 Sucres bekam man 1 USD. Ich habe Leute kennengelernt, die kurz vor der Dollarisierung ihr Haus verkauften, das Geld aber erst nach der Währungsumstellung erhielten und durch die Entwertung so ihr gesamtes Vermögen verloren.

Die Münzen heißen Centavos, werden in Ecuador geprägt und sind außerhalb Ecuadors nicht gültig. Dollarscheine hingegen dürfen nicht in Ecuador gedruckt, sondern müssen direkt von der US-amerikanischen Nationalbank bezogen werden.

Andererseits scheint die Dollarisierung doch unbestreitbar zur Stabilisierung der Wirtschaft in Ecuador beigetragen zu haben.

Zwischen den Wirtschaftsdiskussionen versucht der Padre immer wieder per Handy Lourdes, die Koordinatorin der Pfarre für die Schule in meiner Wirkungsstätte La Florida, zu erreichen, allerdings vergeblich. Schließlich erreichen wir La Florida und stellen auch ohne elektronische Hilfsmittel fest, dass sie nicht zuhause ist. Durch die schlammige Dorfstraße, vorbei an aggressiv kläffenden Hundemeuten vor jedem Haus, fahren wir 100 Meter weiter zur Schule, wo Lourdes mit einigen Halbwüchsigen eine riesige österreichische Fahne mit der Aufschrift bienvenida (willkommen) hochhält.

LOURDES

Lourdes ist Albino und fällt mit ihren hellblonden Haaren und ihrem weißen Gesicht mindestens so auf wie ich; das gibt mir irgendwie ein Gefühl von Geborgenheit. Sie begrüßt mich besonders herzlich und leistet beim zweiten Wangenkuss kaum Widerstand. Mit ihrem Hund Randú, einem treuherzigen Mischling mit melancholischen Augen, schließe ich gleich Freundschaft. Zumindest ein Hund weniger, der mich einmal beißen wird. Lourdes betet viel und erzählt ohne Unterlass zweideutige Witze, sodass die Witze notgedrungen Gefahr laufen, in die Gebete einzufließen. Dann lacht sie unschuldig verschmitzt und schaut kindlich treuherzig drein, während der Schalk aus ihren Augen funkelt.

Wir werden bei einer Familie im „Zentrum“ von La Florida zum Essen eingeladen. In einem kahlen Raum mit rohen Betonwänden steht schon ein Plastiktisch mit geblümter Plastiktischdecke und einigen Plastiksesseln bereit. Es gibt gebratene Tilapia, einen lokalen Süßwasserfisch. In der Tischmitte steht ein Behälter mit Gabeln und Papierservietten. Ich gewöhne mich sofort an die einhändige Esstechnik: In einer Hand hält man ein Besteck (Messer, Gabel oder Löffel), die andere Hand wird als Hand benutzt. Der Fisch schmeckt köstlich, meine Tischgenossen nagen Gräte für Gräte säuberlich ab. Beinahe bekomme ich ein schlechtes Gewissen, als ich den Fischkopf verschämt auf den Abfallteller lege. Großzügig, ja verschwenderisch sind die Leute hingegen bei Bananen, die hier im Überfluss gedeihen. Jede kleinste bräunliche Stelle an den Früchten wird herausgeschnitten und gleich als Dünger in die Natur geworfen.

Nach Besichtigung der Kirche, in der die Dorfkinder kreischend Fangen spielen, geht es wieder zur Schule, diesmal zum centro de computación. Don Gato, der Elektriker und Alleskönner des Dorfes, begrüßt mich herzlich mit Schraubenzieher und Beißzange. Der Padre erklärt ihm, wo der Nullleiter montiert werden muss, wenn er den Strom von der Straßenlaterne abzwackt und in das Computerzentrum leitet. Computer kann man jetzt noch gar nicht anstecken und benutzen. Aha, also deshalb hat Padre Teodoro vorher mehrmals zu mir gemeint, ich brauche ein paar Tage Erholung und Ruhe, um mich an das Klima und die Leute zu gewöhnen. Und: Der Padre erstaunt mich immer mehr, denn neben Religion, Politik und Wirtschaft scheint er auch von Technik einiges zu verstehen!

PADRE TEODORO

Padre Teodoro ist der Pfarrer für eine flächenmäßig riesige Region von Bergdörfern in der Provinz Azuay im Südwesten Ecuadors. Neben Theologie hat er auch Philosophie studiert und eine Mechanikerlehre gemacht. Er setzt sich laut protestierend für die Umwelt ein, singt selbstkomponierte Lieder, tröstet Greisinnen, animiert Kinder, verzehrt alle vorgesetzten Riesenmahlzeiten ohne mit der Wimper zu zucken, liebt philosophische Gespräche bei langen Autofahrten, vergisst dauernd irgendetwas, ist genial-chaotisch und gibt nie klare Antworten auf die praktischen und naiven Fragen einer ebenfalls etwas chaotischen Gringa.

Im Pfarrhaus neben der Kirche werde ich für die nächsten Wochen Lourdes’ Zimmernachbarin sein. Die Einrichtung meines Zimmers ist eher spartanisch: ein Stockbett und ein Plastiksessel. Das obere Bett wird mir als Kleiderablage dienen, der Sessel als Schreibtisch. Viel werde ich hier ohnehin nicht brauchen.

Nun verabschiedet sich der Padre von mir mit zwei Wangenküssen und von Lourdes mit der Bemerkung „Lourdes kriegt nur ein Küsschen“, und endlich werde ich aufgeklärt: In Ecuador küsst man nur einmal! Beherrschung ist angesagt – zumindest für die nächsten acht Wochen.

Begrüßung und Anrede

Händeschütteln ist in Ecuador gebräuchlicher als in Europa. Werden zwei Personen einander vorgestellt oder stellt man sich selbst anderen Leuten vor, ist es selbstverständlich, sämtlichen Betroffenen die Hand zu geben. Ebenso geben bereits miteinander bekannte Personen bei jedem Treffen einander die Hände. Bei reuniones (Versammlungen) im kleineren Kreis, also bis zu 30 Personen, macht jeder neu Hinzugekommene die Runde und schüttelt jedem bereits Anwesenden die Hand. Da Pünktlichkeit keinesfalls zu den Tugenden der Ecuadorianer zählt, zieht sich die Dauer der zu allen möglichen Anlässen stattfindenden reuniones in ungeahnte Länge, weil Besprechungen laufend durch Zuspätkommende, die händeschüttelnd die Runde machen, unterbrochen werden.

Die Standard-Begrüßungsformel lautet „Guten Tag, wie geht’s?“, wobei die Antwort auf die Frage nach dem Wohlbefinden nicht wirklich interessiert. Dieses Manko umgeht man als geübter Ecuadorianer, indem man die Antwort gleich selbst in die Frage integriert. Eine typische vollständige Begrüßung klingt also so: Buenas días cómo está muy bien gracias (Guten Tag wie geht’s gut danke).

Das Ganze läuft ohne Komma, mit der Geschwindigkeit einer Maschinengewehrsalve ab und lässt keine Zeit zum Überlegen, wie es einem eigentlich selbst geht. Vielmehr schießt man gleichzeitig mit derselben Frage zurück. Und das ist gut so, denn sonst würden die Begrüßungsrituale den ohnehin schon enormen Zeitrahmen der Zusammenkünfte sprengen.

Unter Freunden ist es üblich, sich bei Begrüßung und Abschied auf die Wange zu küssen, eigentlich Wange an Wange zu legen, wie in Europa. Dabei „küsst“ man ausnahmslos nur einmal, und zwar auf die rechte Wange. Allerdings kommt es auch vor, dass jemand die linke Wange darbietet und die zwei Begrüßenden sich so aus Versehen Mund an Mund berühren (angeblich nicht immer nur versehentlich). Lernt man neue Leute kennen und wird mit einem „Wangenkuss“ begrüßt oder verabschiedet, darf man das getrost als Sympathiebeweis werten.

Die Anrede unter Fremden beginnt offiziell mit Señor beziehungsweise Señora und dem Nachnamen. Persönlich habe ich das in Ecuador aber so nie erlebt. Nur dritte, nicht anwesende Personen wurden manchmal als „Señor Soundso“ bezeichnet, meist eher in negativem Zusammenhang.

Normalerweise sprechen sich auch flüchtige Bekannte förmlich mit Don/ Doña und dem Vornamen an. Wird Don/Doña durch Amigo/Amiga oder gar durch Hermanito/Hermanita ersetzt, kann sich der Angesprochene über ein freundschaftliches Verhältnisfreuen. Bei Respektspersonen wird der entsprechende Titel vorgesetzt, also zum Beispiel Padre Marco oder el doctor Alberto. (Ich habe von Anfang an ausdrücklich betont, dass ich keine Respektsperson bin.)

Ecuadorianer verwenden wie alle Lateinamerikaner bei der Anrede im Plural ausnahmslos die Form ustedes, also „Sie“. Das spanische vosotros (ihr) existiert nicht. Auch bei der Anrede einzelner Personen überwiegt das usted. Geduzt wird nur im engsten Familien- und Freundeskreis sowie unter Kindern und jungen Jugendlichen. Am Land ist es durchaus üblich, dass Ehepaare einander mit usted anreden. Sogar Hunde werden per Sie verscheucht! („Da, fressen Sie, und dann marsch, verschwinden Sie!“).

In größeren Städten und touristischen Gebieten haben sich die Einheimischen durch den Umgang mit den gringos bereits an das Du gewöhnt.

Ich schlafe durch bis vier Uhr früh. Als Lourdes merkt, dass ich wach bin, beginnt sie gleich ein Morgengespräch über zwei Wände hinweg. Die Wände reichen nicht bis zur Decke, was die Konversation ungemein erleichtert. Abgesehen davon gehört Lourdes nicht zu der kaum existenten Gruppe schweigsamer Ecuadorianer.

Um sechs Uhr wird es innerhalb von drei Minuten „hell”, das heißt düster-hell. Hace frío (es ist kalt) sagen die Einheimischen bedauernd zu mir, para mí agradable (für mich ist es angenehm) ist meine Standard-Antwort. Tatsächlich bewegt sich die Temperatur Tag und Nacht konstant zwischen 22 und 26 Grad. Trotzdem ist das Wetter recht abwechslungsreich: Meist nieselt es, manchmal auch so fein, dass man die wie ein Schleier sich lautlos herabsenkenden Tropfen nicht sieht, sondern nur spürt. Dazwischen schüttet, plätschert oder gießt es; genauso gut kann es aber auch normal regnen, und zeitweilig beschränkt sich die Luft auf diesige 100 Prozent Feuchtigkeit.

Schon bald klopft es an der Tür: etwas schüchtern fragt ein kleines Mädchen nach hermanita (Schwesterchen) Lourdes. Wir beginnen eine ausführliche Konversation über meine Familienverhältnisse. Ein mitleidiger Blick streift mich, als ich gestehe, dass ich nur einen Vornamen und zwei Kinder habe. Triumphierend zählt sie ihre sämtlichen Familienmitglieder mit sämtlichen Namen auf, jedes Familienmitglied hat mindestens drei. Ihr Name ist Blanca Xiomara Chávez, und sie lächelt geschmeichelt, als ich ihr sage, dass sie so heißt wie der Präsident von Venezuela. Wir schieben eine kleine Mathematikstunde ein, in der wir abklären, ob es möglich ist, dass sie fünf Schwestern und sechs Brüder hat und sie insgesamt acht Geschwister sind. Sie lässt sich auf drei Brüder herunterhandeln und gibt dann zu, dass es sich insgesamt vermutlich um neun Geschwister handelt.

Schließlich machen wir uns gemeinsam auf den Weg zum colegio.

Die Schule wurde letztes Jahr von den Amigos de Austria errichtet, einer Gruppe Österreicher um den Innsbrucker Konrad Piok, die jedes Jahr ein anderes Dorf in der Provinz besucht, um dort Gebäude für soziale Zwecke aufzustellen oder herzurichten. Mein Sohn war dabei und fragte aufgrund meines Interesses, ob sich ein Tätigkeitsfeld für mich ergeben würde. Mit der Aussage des Padre „Jetzt haben wir eine Schule und keinen Lehrer für Englisch und Computer“ bot sich die Gelegenheit, wie aus der Pistole geschossen zu sagen: „Meine Mama macht das gern!“, und deshalb bin ich jetzt hier.

Ich platze mitten in die Abschlussprüfungen, die erste Prüfung ist gerade fertig. Der 64-jährige Seniorschüler Don Florencio (der die Prüfung mitmacht) begrüßt mich überschwänglich mit einem Wangenkuss (ich habe schon dazugelernt).

Lourdes möchte, dass ich die Religion- und Sozialkunde- Prüfungen anhand ihres Musterexemplars korrigiere. Allerdings gibt es da mehrere Probleme, zunächst einmal wieder ein mathematisches: Pro Aufgabe werden maximal 20 Punkte vergeben. Lourdes möchte, dass man pro Frage bei richtiger Beantwortung zwei Punkte bekommt, einen für die Antwort und einen für die Begründung der Antwort. Da jede Aufgabe fünf Teilfragen hat, kommt man allerdings höchstens auf eine Gesamtpunkteanzahl von zehn. Nach erfolgter Korrektur der Maximalpunktezahl taucht das nächste Problem auf: Woher soll ich wissen, wie weit eine Begründung abweichen darf?

Inzwischen drängen sich jede Menge Schüler um mich. Sie lugen in das Musterexemplar von Lourdes und wollen ihre Prüfungszettel wieder haben, um die Begründung nachträglich draufzuschreiben. Tatsächlich hat Lourdes auf dem Prüfungsblatt nicht explizit eine Begründung verlangt. Das Chaos ist perfekt. Die Zettel werden wieder ausgeteilt und nochmals eingesammelt. Die Schüler drängen sich alle um mich, ich kann die Arme kaum bewegen.

Gleich bei der ersten Frage stolpere ich: Sind die Menschen höherwertig als die übrigen von Gott erschaffenen Kreaturen, ja oder nein und warum?

Die richtige Antwort soll lauten: Ja, der Mensch ist das höchste aller erschaffenen Wesen. Die Antwort des ersten Schülers lautet: Nein, alle Kreaturen sind gleichermaßen von Gott erschaffen. Ich möchte die Antwort gelten lassen; Lourdes aber verweist auf das, was sie im Unterricht gebracht hat. Die Frage ist im Grunde philosophischer Natur. Ich finde, zunächst einmal müsste man den Ausdruck „höchste Kreatur“ definieren. Mit einem Schlag ergattere ich die Sympathie nicht nur des betroffenen Schülers. Trotzdem erkläre ich, dass ich mich der verantwortungsvollen Aufgabe des Korrigierens nicht gewachsen fühle, weil ich ja nicht wissen kann, was im Unterricht besprochen wurde.

DOÑA LAURA

Doña Laura lädt mich zum almuerzo (Mittagessen) ein.

Doña Laura! Sie ist die Seele des Dorfes, ihr Lachen bringt die Welt in Ordnung. Ich nenne sie la risa personificada (das personifizierte Lachen). Doña Laura betreibt einen kleinen Laden im Dorf, zusammen mit ihrem Mann Luis. Doña Laura erntet Kakao und Bananen, schlachtet Meerschweinchen und Hühner, schläft während der Messe ein und weckt ihren Mann beim Essen auf. Doña Laura sorgt dafür, dass die Kirche geputzt wird, dass Glühbirnen in der Schule ausgetauscht werden und dass ich auf keinen Fall verhungere, während ich in La Florida weile.

Ihre Küche ist zugleich Ess- und Wohnzimmer mit der Standardausstattung in diesem Dorf: ein Plastiktisch und ein paar Plastikstühle in einem Raum mit rohen Betonwänden und einem kleinen Fenster, welches das ohnehin düstere Tageslicht kaum in die Höhle dringen lässt; eine schwache Spar-Glühbirne ersetzt das Tageslicht. Ein paar kitschige Fotomontagen von fiktiven Alpenlandschaften kaschieren die nackten Wände kaum, und eine ausgebleichte blaue Kunststoff-Hängematte versucht vergeblich, dem Ambiente etwas Farbe zu geben. Trotzdem vermittelt dieser kahle Raum ein unglaubliches Gefühl von Behaglichkeit: Doña Laura werkt fröhlich plaudernd am Küchenherd, ihre Hunde tollen um und unter dem Tisch herum, ständig auf der Suche nach ein paar Essensabfällen. Nachbarinnen gehen ein und aus und nehmen dazwischen einen cafecito zu sich. Luis schlurft vom nebenan liegenden Geschäftsraum herein und fragt mich „Wie ist es denn so bei euch da drüben?“ Während ich versuche, ein bisschen von Österreich und Europa zu erzählen, nickt Luis am Tisch sitzend ein. Laura setzt sich zu uns und prustet vor Lachen „Schauen Sie, Amiga Ingrid, schauen Sie nur, er ist schon wieder eingeschlafen!“

Lourdes ist hier Dauergast und erzählt einen schlüpfrigen Witz nach dem anderen.

Nach dem Verzehr einiger leckerer empanadas (Teigtaschen) überquere ich die „Straße“ zur Kirche. Die Kirche ist hier nicht nur das religiöse Zentrum, sondern dient auch als Versammlungsraum, Kinderspielplatz, Hunderaststätte, Disco und vieles mehr.

Jetzt zum Beispiel geht es um die Inskription zu den von mir angebotenen Englisch- und Computerkursen. Das halbe Dorf meldet sich an, Alt und Jung, Arbeiter und Hausfrauen, Schüler und Kleinkinder (ab drei); mein Stundenplan wird immer dichter: Montag bis Sonntag 10:00 bis 21:30 Uhr. Wann soll ich mich vorbereiten? Wie soll ich mir an die 100 Namen merken?

Plötzlich werde ich aufgefordert, eine Antrittsrede vor der versammelten Kirchengemeinde zu halten und bekomme auch schon das Mikrofon in die Hand gedrückt. Was soll ich jetzt aus dem Stegreif sagen?

Drei Dinge gehen mir rasend schnell durch den Kopf:

1. In den zwei Tagen, die ich jetzt in Ecuador bin, habe ich festgestellt: Gefühle werden hier offener, blumiger und inniger ausgedrückt – für europäische Ohren ein wenig kitschig.

2. Die Leute in diesem Dorf lachen gern und scheinen Humor zu haben. Darf ich da vielleicht sogar ein bisschen ironisch sein?

3. Ich stehe hier, in der vollen Kirche, habe ein Mikrofon in der Hand und über 100 Augenpaare schauen mich erwartungsvoll an – da bleibt nicht viel Zeit zum Überlegen …