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DIE 100 BEDEUTENDSTEN ENTDECKER

Über den Autor

Francis Edward Younghusband

(1863-1942) wurde in Indien in eine britische Militärfamilie hineingeboren und trat bereits mit 19 Jahren dem Militär bei. Younghusband war Mitglied der Royal Geographical Society und überquerte als erster Europäer den Karakorum. Zwischen 1889 und 1895 unternahm er mehrere Reisen nach Asien und wurde 1903 Leiter der britischen Tibet-Expedition, welche letzlich Lhasa eroberte. Ab 1906 war er britischer Gesandter in Kashmir bis er 1910 aus dem Militärdienst austrat.

Zum Buch

»Es galt, einen Weg zu erforschen, den vor mir kein Europäer betreten hatte.« Francis Younghusband

Francis Younghusband bestreitet die ihm anvertraute Tibet-Expedition mit einer Mischung von Forscherdrang und politischen Zielen. Der Marsch von Peking durch die Wüste Gobi und über den Himalaya bis nach Tibet endet in einem Massaker. Die Auswirkungen des Feldzugs auf Younghusband werden in Herz der Natur deutlich: Darin unternimmt er den Versuch, des Wesen der Natur zu ergründen, mit ihr in Verbindung zu treten und ihre wahre Schönheit zu erkennen. Ihn fasziniert die reiche Tier- und Pflanzenwelt Tibets in ihren Details ebenso wie im Gesamteindruck. Geographische Forschung und die Beschreibung der Naturschönheit gelten ihm als unzertrennlich.

Nach mehreren Reisen in Asien vertraut Lord Curzon, britischer Vizekönig in Indien, Francis Younghusband das Kommando über eine Expedition ins Innere von Tibet an. Die eigentlich diplomatische Mission endet in einer Invasion.

Durch überlegene Feuerkraft bahnt sich Younghusband ohne große Verluste seinen Weg bis in die geheimnisvolle „verbotene Stadt“ Lhasa. Hier richtet das Expeditionskorps ein Massaker unter den verteidigenden Mönchen an. Das Mysterium Lhasa ist entzaubert und die Reise hinterlässt Spuren bei Younghusband.

Schon immer war er von der Schönheit der Natur fasziniert gewesen, war Bergsteiger und fertigte auf seinen Reisen geschickt Skizzen von Flora und Fauna an. Nach seiner Rückkehr aus Tibet vollzieht sich eine spirituelle Wende. Das Herz der Natur bezeugt diese Veränderung durch präzise und gleichzeitig mystische Beschreibungen der Himalaya Region.

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Sir Francis Edward Younghusband (Fotografie von 1905)

Francis Edward
Younghusband

Das Herz der
Natur

Natur und Geographie Tibets

1890 – 1906

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Alle Rechte vorbehalten

Copyright © by marixverlag GmbH, Wiesbaden 2014
Der Text wurde behutsam revidiert
nach der Ausgabe Leipzig, 1923
Lektorat: Dietmar Urmes, Bottrop
Covergestaltung: Nicole Ehlers, marixverlag GmbH
nach der Gestaltung von Nele Schütz Design, München
Bildnachweis: Landschaft im Himalaya von Dieter Schütz
eBook-Bearbeitung: Bookwire GmbH, Frankfurt am Main

ISBN: 978-3-8438-0393-9

INHALT

Vorrede

Einleitung

Erstes Kapitel

Der Sikkim-Himalaja

Zweites Kapitel

Das Tistatal

Drittes Kapitel

Der Wald

Viertes Kapitel

Die Bewohner des Waldes

Fünftes Kapitel

Der Gesamteindruck

Sechstes Kapitel

Der Kantschindschanga

Siebtes Kapitel

Einsame Höhen

Achtes Kapitel

Das Himmelsgewölbe

Neuntes Kapitel

Schönheit daheim

Zehntes Kapitel

Das Wesen der Natur

Elftes Kapitel

Das Ideal der Natur

Zwölftes Kapitel

Das Herz der Natur

Naturschönheit und Geographie Zwei Reden

Rede des Präsidenten der Königlichen Geographischen Gesellschaft auf der Jahresversammlung vom 31. Mai 1920

Rede im University-College in London am 17. März 1921

VORREDE

Der Wert von Wissen und Charakter ist uns hinlänglich eingeprägt worden. Über die Freiheit haben wir so viel gehört, dass wir sie als eigentliches Ziel betrachten und nicht als Mittel zum Zweck oder notwendige Voraussetzung. Schönheit hingegen betrachten wir fast als etwas typisch Feminines. Poesie, Musik und Literatur erscheinen dem gewöhnlichen englischen Schüler äußerst verdächtig, und er möchte sein Männlichkeitsideal mit nichts anderem teilen. Dennoch behauptet sich die Schönheitsliebe trotz aller Entmutigungen, und sie wird sich nicht unterdrücken lassen. Besonders die Schönheit der Natur besteht auf einem festen Platz in unserer Zuneigung, die sich ursprünglich aus der Liebe herleitet; wesentlich und untrennbar mit ihr verknüpft, gesteht die Schönheit der Natur lediglich der Liebe eine Vorrangstellung zu. Und sie verdient unsere großzügige Anerkennung, ist sie doch Wohltat und Erfrischung für unsere Seele.

Die genaue Beobachtung und anschauliche Beschreibung von Naturschönheiten ist zumindest ebenso notwendig für die Lebensfreude wie die Beschäftigung mit der Wissenschaft, der so viel Beachtung gezollt wird. Erstere beschäftigt sich nämlich mit dem Charakter, Letztere nur mit den Ursachen von natürlichen Phänomenen; und von diesen beiden ist der Charakter wichtiger. Es ist in der Tat an der Zeit, dass wir Engländer uns des Wertes von Naturschönheiten bewusster werden. Denn wir werden als Naturliebhaber geboren, und es gibt wohl keine poetischere Rasse als die unsere. Sobald unser Land sich von seiner besten Seite zeigt, etwa an einem Frühsommertag, ist es der wohl lieblichste Ort der Welt. Und wir ziehen von dieser unserer Inselheimat hinaus in jedes andere Land. Wir haben daher unvergleichliche Möglichkeiten, unzählige Arten von Naturgegenständen zu sehen. Indem wir die Natur in so vielen verschiedenen Aspekten betrachten und unsere Eindrücke miteinander vergleichen, sollten wir in der Lage sein, die Natur besser zu verstehen als irgendeine andere lebende Art. Und indem wir bereitwillig mit ihr in eine Gemeinschaft eintreten, sollten wir besser als andere erkennen, welche Schönheit in ihr wohnt.

Ich bin mir bewusst, dass ich selbst nur unangemessenen Gebrauch von den hervorragenden Möglichkeiten gemacht habe, auf all meinen Reisen die Schönheit der Natur zu sehen. Daher liegt mir um so mehr daran, dass alle, die mir nachfolgen, nicht durch ähnliche Unterlassung die gleiche Sünde gegen sich selbst und gegen unser Land begehen. Wir schulden es uns selbst und der ganzen Menschheit, unserer instinktiven Liebe zur Schönheit der Natur freien Lauf zu lassen und jede Neigung und Fähigkeit zu ihrer Wertschätzung einzuüben und zu vervollkommnen, bis wir schließlich ihre Pracht in allen Feinheiten erkennen können, von denen wir jetzt nur das erste schwache Glimmen erfassen.

Und sollte irgendein anderes Land uns an Wertschätzung voraus sein, dann steht es uns gut an, jenem Land nachzueifern und es womöglich zu übertreffen und zu lernen, die Natur besser zu verstehen und mehr Schönheit zu entdecken. Denn in der Liebe zur Schönheit der Natur und der Fähigkeit, mit ihr verbunden zu sein, müsste England eine herausragende Stellung einnehmen. Vor allen anderen Ländern sollte es dem Herzen der Natur am nächsten kommen.

Juni 1921

F.E.Y.

EINLEITUNG

Lasst Stadtkinder auf eine Wiese springen. Mit hellem Freudenruf stürzen sie sich auf die nächsten Blumen und pflücken sie. Heißhungrig pflücken sie Hände voll, Arme voll, als könnten sie nie genug bekommen. Sie sind genau wie Tiere, die in der Wüste zur Tränke stürzen. Sie löschen einen gewaltigen Durst ihrer Seele, den Durst nach Schönheit. Einige unter uns erinnern sich, wie wir in den Alpen oder im Himalaja zum ersten Mal Schneeberge erblickten. Wir rufen uns ins Gedächtnis zurück, wie unser Herz den Bergen entgegensprang, wie wir mit verhaltenem Atem staunten, wie unsere Augen sich gierig volltranken an dem herrlichen Schauspiel.

In Fällen dieser Art ist in der Naturerscheinung irgendetwas, das an etwas in unserem Wesen rührt. Etwas in uns stürmt dem Etwas in der Naturerscheinung entgegen. Eine verwandte Saite ist angeschlagen, eine Beziehung ist hergestellt. Es ist zum Zusammenklang zwischen uns und der Naturerscheinung gekommen. In der Blume, in dem Berg, in der Landschaft haben wir etwas erkannt, was wir in uns selbst wiederfinden. Eine leidenschaftliche Liebe zu der Naturerscheinung erfasst uns. Eine Verbindung findet statt. Unsere Seele vermählt sich der Seele der Naturerscheinung. Und im Augenblick dieser Verbindung wird die Schönheit geboren. Sie entspringt der Liebe, wie die Liebe selbst ihren Ursprung hatte in der Verbindung von Mann und Frau der Vorzeit.

Bei diesem Vorgang hängt alles von der Stimmung ab. Sind wir nicht in der richtigen Stimmung, so sind wir für Natureindrücke unempfänglich, und es bleibt stumm in uns. Wir kommen daher nicht zur Berührung mit der Natur. Darum sehen wir auch keine Schönheit. Sind wir dagegen feinfühlig und empfänglich gestimmt, sind unsere Gedanken nicht mit anderem beschäftigt, liegt unsere Seele den Eindrücken offen, die die Natur immerwährend auf sie niederträufeln lässt, dann antworten wir auf den Ruf der Natur. Wir fühlen uns mit ihr im Einklang, wir kommen zur Gemeinschaft mit ihr, und nun sehen wir die Schönheit.

Wenn wir in Stunden der Sorge und Betrübnis auf die Natur blicken, während sie gerade vor Licht und Heiterkeit strahlt, werden wir uns mit ihr nicht im Einklang finden, wir werden ohne Fühlung mit ihr sein und darum die Schönheit nicht schauen können.

In überquellender, froher Stimmung dagegen werden wir den Ruf der Natur außergewöhnlich empfänglich aufnehmen, und auch in einer knorrigen, entblätterten Eiche, in einer ärmlichen Alten an der Ecke einer armseligen Straße werden wir noch Schönheit finden können. Wenn in einer solchen Stimmung die Natur sich uns auch noch gerade in ihrem schönsten, strahlenden Licht zeigt, an einem Frühlingsmorgen etwa, wird die Schönheit, die wir dann erblicken, überwältigend groß sein, und wir werden uns, hingerissen von Freude, kaum zu fassen wissen.

Wir haben dann eine Übereinstimmung entdeckt zwischen dem, was in der Natur lebt, und dem, was in uns selbst lebt. Von der Betrachtung der Natur sind wir vor das Antlitz einer Macht geleitet worden, die größer ist als wir, jedoch uns gleicht; sie ruft die Gefühle hervor, die sich jetzt in uns regen. Wenn wir die Schönheit in der Natur erkennen, machen wir zugleich die Entdeckung, dass die Natur nicht bloß Körper ist, dass sie eine Seele hat oder eine Seele ist. Und die Freude in uns entspringt der Befriedigung, die unsere Seele im harmonischen Zusammenklang mit dieser Naturseele empfindet. Unsere Seele entdeckt die Wesensgleichheit in sich und in der Naturseele und empfindet Freude an dieser Erkenntnis.

Der Trieb zur Gemeinschaft aber mit unserer Art drängt uns, anderen das mitzuteilen, was wir selbst empfunden haben. Wir möchten den anderen erzählen, was wir gesehen und was wir erfahren haben.

Wir haben auch Sehnsucht danach, an der Freude teilzunehmen, die andere bei der Betrachtung der Natur gefühlt haben müssen. Wir möchten vor allem wissen und nachfühlen können, was jene empfunden haben, deren Seelen weit feinfühliger sind als die unsere, die großen Dichter, Maler, Musiker. Darum teilen wir unsere Gefühle anderen mit und darum suchen wir mit anderen die Verbindung, entweder unmittelbar oder durch Vermittlung der Bücher, der Bilder, der Tonschöpfungen, um von ihnen zu erfahren, was wir noch weiter suchen sollen, und um besser zu erkennen, wie wir es suchen sollen. Indem wir das tun, wird unsere Seele empfänglicher für die Eindrücke, die von der Natur ausgehen; wir werden fähiger, diese Eindrücke wiederzugeben. Unser Sehvermögen nimmt zu. Unser seelisches Auge kommt zu schärferem Einblick, zu tieferem Schauen in die Seele der Natur. Wir können uns inniger in den Geist der Natur einfühlen, und leichter findet dieser Geist Eingang in uns. Wir gelangen zu vollkommenerem Einvernehmen mit der Natur, zu innigerem Zusammenklang mit ihr und sehen darum ein Mehr an Schönheit.

Wir sehen das, was die Natur tatsächlich ist. Wir sehen die Wirklichkeit hinter der Erscheinung, den Gehalt, den die Außenform umschließt. Für den Augenblick haben wir es nicht mit dem Ursächlichen der Natur, sondern mit ihrer Wesensart zu tun. Wir sehen das »Ich« hinter der äußeren Erscheinung. Und wenn wir Mitempfinden und Verständnis genug besitzen, wenn uns wirkliche Einfühlung in die Seele der Natur gelingt, so werden wir hinter ihrem gewöhnlichen Alltags-Ich ihr wahres Ich erblicken, ebenso wie die wenigen, die von einem Großen vertrautere Kenntnisse haben, den wahren Menschen erblicken hinter dem Mann, wie er der Allgemeinheit erscheint – den wahren Beaconsfield oder Kitchener hinter dem Beaconsfield oder Kitchener der Tagespresse. Und in dem Maß, wie wir mehr von diesem wahren Ich der Natur erkennen und es uns besser gelingt, in harmonischen Zusammenhang mit ihr zu kommen, werden wir auch höhere Schönheit in ihr erblicken.

Ist unsere Seele klein und armselig, so werden wir mit der großen Naturseele nur wenig Gemeinsames besitzen und infolgedessen auch nur eine oberflächliche Schönheit sehen. Haben wir eine große Seele, so wird mehr Gemeinsames zwischen uns bestehen, und wir werden mehr Schönheit erkennen. Um aber zum vollen Verständnis der wahren Natur zu gelangen, müssen wir sie unter jedem Gesichtspunkt betrachten und sie von allen Seiten sehen.

So nur werden wir ihr wahres Selbst erfassen und ihre volle Schönheit schauen können. Ihr Bild aber und die Gesichtspunkte, unter denen es zu betrachten ist, wechseln so unaufhörlich, dass auch der Größte unter uns verzagt. Je mehr wir von der Natur sehen, desto mehr, entdecken wir, gilt es in ihr zu begreifen.

Und je tiefer wir sie erfassen und mit ihr Zwiesprache halten, desto mehr Schönheit gilt es zu schauen. Aber zu vollem Verständnis der Natur zu gelangen, ihre ganze Schönheit zu schauen, geht über die Befähigung von uns Sterblichen hinaus.

Dennoch treibt es uns, fort und fort danach zu streben, dass wir so viel sehen wie nur möglich. Auf den folgenden Seiten soll versucht werden zu zeigen, wie sich noch mehr Schönheit in der Natur entdecken lässt.

Oft habe ich im Himalaja zugeschaut, wie ein Adler über mir kreiste. Ich habe am Berghang gesessen und seinen hoheitsvollen Segelflug verfolgt, die vollendete Leichtigkeit und Ausgeglichenheit in seinem anmutsvollen Kreisen und Schwingen. Himmelhoch über der Erde zog sein Flug, und scheinbar mühelos glitt er über Landstriche hinweg, die zu betreten uns armen Menschenwesen nur durch ungeheure Kräfteanspannung möglich wäre. Von der Anmut seiner Bewegungen gefesselt, um seine Freiheit ihn beneidend, konnte ich ihm stundenlang zuschauen. Und diesem Adler – ich konnte es an der Höhe und der Entfernung sehen, aus der er immer niederstieß auf seine Beute – war neben seiner Bewegungsfähigkeit eine Sehkraft von unerreichter Schärfe gegeben.

So eigneten also diesem Vogel Möglichkeiten, die Erde zu sehen und was auf ihr ist, wie sie keinem Menschen, nicht einmal einem Fliegen zuteilwerden. Nach Belieben konnte er über die höchsten Bergketten hingleiten, nach Belieben konnte er über den lieblichsten Tälern schweben. Nach Belieben konnte er sich auf irgendeinem Punkt niederlassen und die Dinge ganz in der Nähe betrachten. An einem einzigen Tag konnte dieser eine Adler die größten landschaftlichen Schönheiten der Welt geschaut haben – das höchste Gebirge, die abwechslungsreichsten Wälder, dicht bevölkerte Niederungen ebenso wie kahle und weite Ebenen, Völkerschaften, Tiere, Vögel, Insekten, Bäume, Blumen, alles von der mannigfaltigsten Art. An einem Tag und im gewohnten Verlauf seines Kreisens und Schwebens mochte er gesehen haben, was Menschen vom anderen Ende der Welt zu schauen kommen, befriedigt, wenn sie nur den hundertsten Teil dessen erblicken, was der Adler alle Tage sehen kann.

Von seinem Berghorst im oberen Sikkim mochte er gesehen haben, wie im Morgenrot die Schneegipfel des Kantschindschanga aufglühten und in weiter Ferne der Mount Everest. Im Aufsteigen mochte der Adler dann über die volkreichen Ebenen Indiens hinausgeschaut haben und die Ströme erblicken, die wie Silberstraßen vom Himalaja hinabfließen, um weit in der Ferne sich mit dem Ganges zu vereinigen, der mächtigen Mutter. Dann mochte sein Auge über die endlosen Wälder hin schweifen, die die Ebene am Fuß der Berge, von Nepal bis Bhutan und Assam, wie in einen dichten, grünen Mantel hüllen und die von der Ebene aus sich über die Berghänge hin aufwärts nach der Höhe zu ausbreiten und bis dicht an die Grenze des ewigen Schnees reichen. Über diese ungeheuren Wälder mit ihrem Reichtum an Bäumen und anderen Pflanzen, an Tier- und Insektenleben von tropischer, gemäßigter und alpiner Art mochte der Adler schweben und dann, wenn er die Wasserscheide des Himalajas überflog, auf die baumlose, offene, wellige, fast unbewohnte Ebene von Tibet hinausschauen und in der Ferne den gewaltigen Brahmaputra erblicken, der nach einem Lauf rund um Bhutan herum den Himalaja scharf durchbricht und, sich nach Westen wendend, ebenfalls in den Ganges mündet.

In der ganzen Welt ist kein wundervolleres Natur- und Landschaftsbild zu finden. Unser Adler könnte dies alles ohne sonderliche Anstrengung in einem einzigen Tag sehen, mit einer Schärfe und Deutlichkeit, wie es kein Mensch vermag. Aber wie scharf auch sein Auge sein und wie weit es reichen mag, in diesem ganzen so herrlichen Gebiet würde der Adler nicht eine einzige Schönheit erblicken. Weder im Sonnenaufgang noch in den schneebedeckten Bergen noch im üppigen Tropenwald, nicht in den Blumen, den Vögeln, den Schmetterlingen, nicht in den Menschen und Tieren, und auch nicht in den Sturzbächen und Abgründen würde der Adler irgendwelche Schönheit sehen. Für ihn wäre das Gebirge nichts als ein Umriss, die Wälder wären ein grüner Fleck, die Ströme weiße Striche und die Tiere nur eben Einzelheiten seiner Nahrung. Viel würde der Adler erblicken, aber die Schönheit würde er nicht schauen.

Vielleicht werden wir verstehen, wie es kommt, dass der Adler bei so unbegrenzten Möglichkeiten keine Schönheit wahrnimmt, wenn wir ein Mücklein betrachten, das den Körper eines Menschen umschwirrt. Die Mücke steht ungefähr im selben Größenverhältnis zum menschlichen Körper wie der Adler zum Körper der Erde. Sie erblickt bei ihrem Schwirren unendliche Strecken des menschlichen Körpers; sie sieht die Gesichtszüge, die Nase, das Auge, den Mund; sie sieht den Rumpf und die Glieder und das Haupt. Aber selbst im schönsten aller Menschen würde sie keine Schönheit erkennen. Sie würde sie darum nicht erkennen, weil sie keine Seele hätte, um den seelischen Ausdruck zu deuten. Sie könnte die Züge des Menschen umschwirren, wenn gerade das Lächeln auf seinen Lippen, das Leuchten der Begeisterung in seinen Augen den höchsten Aufschwung der Seele kündete, aber die Mücke sähe in jenen Zügen keine Schönheit, weil sie die Seele nicht hätte, um sich in die Menschenseele einzufühlen und den Ausdruck auf dem Menschenantlitz zu erfassen. All die kleinen Schattierungen und Abstufungen, das Hell und Dunkel in den Zügen des Menschen wären für die Mücke völlig ohne Sinn, weil sie nichts von seiner Seele wüsste, von der die Gesichtszüge und ihr wechselvolles Spiel nach außen Kunde geben. Die Mücke wüsste nichts von der Wirklichkeit, die hinter der Erscheinung des Menschen verborgen liegt.

Der Adler verhält sich gegenüber den charakteristischen Zügen der Natur genauso wie die Mücke gegenüber den Gesichtszügen des Menschen. Er sieht nur die leere äußere Erscheinung der Natur und er erkennt nicht den Sinn in ihren Zügen. Er hat keine Seele, die mit der ihren sich berühren und die so verstehen könnte, was in ihren Zügen zum Ausdruck kommt. Für ihn ist das zarte Hell und Dunkel, der leichte Ausdruckswechsel auf ihrem Antlitz ohne Sinn. Er sieht nur die Erscheinung und erkennt nichts von der Wirklichkeit dahinter. Er hat keine Seele, die sich mit der Naturseele zu vereinigen vermöchte. Darum sieht er keine Schönheit.

Nun aber angenommen, es befände sich zufällig unter all den Mücken, die einen Menschen umschwirren, eine Mücke von ganz besonders feinfühligem Wesen, eine Mücke, die zwischen sich selbst und dem Menschen eine grundlegende Lebensübereinstimmung, eine Gleichartigkeit des Fühlens, des Gemütslebens und des Strebens zu erkennen vermöchte und die durch das Erkennen des Gleichartigen in ihnen beiden dem innersten Sinn und Wesen des Menschen nahezukommen imstande wäre: Dann wäre eine solche Mücke imstande, den wechselnden Ausdruck des Menschenantlitzes zu erfassen und beim Erfassen dieses Ausdrucks auch seine Schönheit zu sehen.

Von einem Adler dürfen wir nicht erwarten, eine genügend empfindliche Seele zu haben, die es ihm ermöglichte, sich in die Seele der Natur hineinzufühlen, die Natur zu begreifen und ihre Schönheit zu schauen. Aber was vom Adler nicht zu erwarten ist, das dürfen wir vom Menschen erwarten. Wir können erwarten, dass ein Künstler erscheint, der für die Erde das sein wird, was die Künstlermücke für den Menschen war.

Der Mensch vermag sich einigermaßen in die Seele der Natur einzufühlen. Etwas Verständnis hat er für die Natur. Er erkennt Schönheit, und sooft er sie in der Natur erblickt, hat er Berührung mit der Seele der Natur. Selbst Durchschnittsmenschen sehen einiges von der Schönheit der Natur und haben ein Gefühl von Verwandtschaft mit ihr. Ihre Seele hat etwas mit der Naturseele gemein. Sie empfinden zwischen sich selbst und der Natur mehr Gemeinsames, als dies eine Mücke in Hinsicht auf einen Menschen vermag.

Dieses Gefühl einer Verwandtschaft mit der Natur ist in einem Menschen von der feinen Empfindlichkeit des Künstlers – des Malers, Dichters oder Musikers – hoch entwickelt. Er nimmt der Natur gegenüber eine ähnliche Stellung ein wie jene feinfühlige und höher entwickelte Künstlermücke dem Menschen gegenüber, jene Mücke, deren Verstehen des innersten Wesens des Menschen und seines Charakters ihr seine Züge erkennen und seine Schönheit schauen ließ.

Was uns Durchschnittsmenschen obliegt, was wir vor allem von solchen verlangen möchten, die mit besonders feinfühliger Seele begabt sind, ist: sich vor Augen zu halten, welche Schwierigkeiten für die Mücke bestehen, uns zu begreifen und irgendeine Schönheit in uns zu sehen – wie jene ihre Fähigkeiten schulen und pflegen müsste, ehe sie jemals hoffen könnte, den Ausdruck unserer Züge zu erfassen; dies im Auge zu behalten und dann uns selber in die Hand zu nehmen und die Seele in uns zu entwickeln, bis sie reif genug und groß genug ist, sich in die große Seele der Natur zu versenken.

Der Schönheitssinn, den wir alle in einem, wenn auch geringen Maß besitzen, ist an sich schon ein Beweis für eine geistige Wirklichkeit, die hinter der äußeren Erscheinung der Natur sich erhebt – ein »Ich« –, ebenso wie hinter der äußeren Erscheinung des Menschen, wie sie der Künstlermücke erschien, das Ich dieses Menschen stand. Und indem wir diesen Sinn pflegen, indem wir also unsere Befähigung entwickeln, tiefer in das Herz der Natur zu schauen, mehr Sinn und vertiefte Bedeutung in jeder Schattierung ihres wechselnden Mienenspiels zu erkennen, verständnisvoller zu lesen, was in der Tiefe ihrer Seele vorgeht, werden wir uns in den Stand setzen, die Schönheit der Natur voller und reicher zu schauen.

Erwartungsvoll sehen wir dem Erscheinen eines großen Künstlers unter uns entgegen. Die ihm angeborene besondere Feinfühligkeit der Seele wird er mit bewusster Überlegung erhöhen und steigern, die Erfahrungen anderer wird er kennenlernen, seine Erlebnisse mit den ihren vergleichen und er wird sich schulen, die Bedeutung jeder noch so leichten Andeutung zu erspähen, die die Natur von den Äußerungen der Seele in ihrem Inneren gewährt. Und schließlich wird er das Verwandte seines Fühlens mit dem der Natur erkennen und, von tiefer Leidenschaft für sie erfasst, sich ihr gänzlich hingeben, mit ihr sich vermählen, und in der Verbindung mit ihr Schönheit von überreicher Fülle und Kraft erzeugen.

Wir harren eines Künstlers, dessen Seele würdig ist, der Natur sich zu vermählen. Schwächliche seichte Künstler werden nicht viel mehr von der Natur wahrnehmen können als die Mücke von einem Menschen. Was uns nottut, ist ein Mann, wie es Julian Grenfell war, von seiner Körperbeschaffenheit, von seiner strotzenden Gesundheit und Lebensfreude, voll von tiefem Verständnis, dichterischer Kraft und Phantasie, erfüllt von Liebe zu den Tieren und zu seinen Mitmenschen, begabt mit Geschicklichkeit, körperlicher Tüchtigkeit und frohem Mut. Wir brauchen einen Mann, der Gelegenheiten nutzen kann, wie sie Grenfell hatte, der von Kindheit an, in London und auf Landsitzen, mit Menschen jedes Standes und aller Schichten verkehrte, mit Staatsmännern, Militärs, Künstlern, mit Freunden der Jagd und des Rennsports, mit Schuljungen, Studenten, Literaten, Jagdhütern, mit alter vertrauter Dienerschaft, kurz, mit Menschen jeder Art und jedes Standes. Wir brauchen einen Mann, der mit solcher Eignung auch die Eigenschaften eines Darwin verbände – seine Liebe zur Naturwissenschaft, seine Fähigkeit zu scharfer und genauer Beobachtung, seine geniale Befähigung, aus seinen Beobachtungen richtige Schlüsse zu ziehen, seine umfassende Kenntnis der Natur in ihren vielgestaltigen Äußerungen, seine verständnisvolle Einstellung jeder Pflanze und jedem Tier gegenüber und schließlich sein warmherziges liebevolles Wesen im ganzen Verkehr mit den Menschen.

Wir brauchen, kurz gesagt, einen Naturforscher-Künstler – eine Vereinigung von Julian Grenfell und Darwin. Dies wäre durchaus keine unerhörte, vielmehr eine äußerst wahrscheinliche und passende Vereinigung. Denn Julian Grenfell schuf große Dichtungen sogar in den Schützengräben Flanderns zwischen den beiden Ypernschlachten. Und bei seiner Liebe zum Landleben, zum Fischen und Jagen hätte seine Neigung sehr leicht der Naturgeschichte zugewendet werden können. Wäre es geschehen und hätte sich die Gelegenheit geboten, so hätten wir vielleicht gerade den Naturforscher-Künstler bekommen, auf den wir jetzt warten. Er hätte die körperliche Tüchtigkeit und Fähigkeit zum Ertragen von Strapazen gehabt, die das Bereisen jener Teile der Erde erfordert, in denen die Schönheit der Natur am größten ist, er hätte die Feinfühligkeit der Seele besessen, um Eindrücke aufzunehmen, und dazu die Fähigkeit des Ausdrucks, damit andere teilhaben können an dem, was er empfunden hat. Nach der anfänglichen Zeit der Jagd auf Vögel und vierfüßige Tiere hätte er das lohnendere Stadium der Beobachtung der Tierwelt erreicht, und er hätte an die Beobachtung ihrer Lebensgewohnheiten und ihrer Lebensweise die gleiche Geschicklichkeit, das gleiche scharfe Unterscheidungsvermögen gewendet wie bei der Jagd auf sie. Bei seiner angeborenen echten Liebe zur Tierwelt hätte Grenfell als Naturforscher recht wohl ebenso bedeutend werden können, wie er es als Sportsfreund und als großer Dichter schon war.

Des Kommens eines solchen Naturforscher-Künstlers harren wir. Wir müssen ihm jedoch den Weg bereiten und an unserem Teil mithelfen, ihn hervorzubringen. Dabei mitzuwirken, soll mein Bestreben sein, denn das Schicksal wollte es, dass ich gesegnet war mit Gelegenheiten – die ich teils selbst geschaffen, teils geboten erhielt –, wechselvollere Bilder zu sehen, als es sonst den meisten Menschen beschieden ist. Ich denke mit Beschämung daran, welch schwachen Gebrauch ich von diesen Gelegenheiten gemacht habe, wie wenig ich vorbereitet und geschult war, sie möglichst auszunützen. Das eine aber vermag ich wenigstens zu tun: Ich kann den kommenden Künstler auf jene Gegenden der Erde hinweisen, wo sich ihm die Wahrscheinlichkeit bietet, die Schönheit der Natur in vollster Entfaltung und im reichsten Wechsel zu schauen.

In dieser Absicht will ich mit dem Sikkim-Himalaja beginnen, den der Adler überflog, denn er bietet auf kleinem Raum ein wahres Handbuch der Natur. Unmittelbar aus den Ebenen Indiens aufsteigend, eigentlich noch in den Tropen, erhebt sich dieses Gebirge hoch über die Grenze des ewigen Schnees hinaus. Seinen Fuß überzieht eine üppige Pflanzendecke von wahrhaft tropischer Art, und diese Pflanzendecke erstreckt sich durch alle Zonen, von der tropischen über die gemäßigte zur polaren. Ebenso ist es mit den vierfüßigen Tieren, den Vögeln und den Insekten. Hier findet man auch Vertreter der Menschen aller Klimate. In ähnlicher Weise bewegt sich die Art der Landschaft zwischen Ebene und Hochgebirge. Brausende Sturzbäche gibt es und breite, beschaulich fließende Ströme. – Der Sikkim-Himalaja, der nach der einen Seite auf die Ebenen Indiens, nach der anderen auf die Steppen Tibets hinabschaut, ist zum Studium der Schönheit in der Natur das geeignetste Gebiet, das ich kenne.

Aber in Kaschmir und hinter Kaschmir, im mächtigen Karakorumgebirge, gibt es Schönheiten, die in Sikkim nicht zu finden sind. Und die Wüste wiederum bietet Schönheiten, die weder Sikkim noch Kaschmir aufzuweisen haben. Darum muss ich den Künstler auch in diese Gebiete führen.

Sikkim und Kaschmir wähle ich, weil es leicht zugängliche Gebiete sind. In sie können Menschen, die nach Schönheit dürsten, immer wieder zurückkehren, bis sie von der diesen Gebieten eigenen Atmosphäre gesättigt sind und ihr innerstes Wesen in sich aufgenommen haben, bis ihnen klar geworden ist, in welch hohem Maß die Züge dieser Landschaften Empfindungen ausdrücken, für die sie nach Ausdruck ringen – ihr Streben nach dem Höchsten und Reinsten, ihr Sehnen nach Ruhe, ihr beglücktes Sichfreuen an Wärme und Zuneigung, oder welche Empfindung sie immer bewegen mag. Tausende von Engländern, fein gebildete Inder und Reisende aus der ganzen Welt besuchen alljährlich den Himalaja, einige des Sports, andere der Gesundheit, noch andere gesellschaftlicher Genüsse wegen. Unter ihnen befindet sich vielleicht unser Naturforscher-Künstler, den Jahr um Jahr seine Liebe zur Schönheit der Natur nach Sikkim und Kaschmir zieht, der dadurch das wunderbare, vielgestaltige Bild der Natur kennenlernt, wie es in jenen begnadeten Gegenden zu schauen ist, und der so zu immer mehr sich vertiefender Gemeinschaft mit der Natur gelangen würde, Jahr um Jahr mehr Schönheit in ihr erblickte und den Genuss, den er gehabt hatte, uns übermittelte.

Aber der Bereich der Schönheit der Natur schließt sehr viel mehr ein als nur das Landschaftsbild. Er umfasst die Schönheit aller Gegenstände der Natur, der Männer und Frauen ebenso wie der Berge, Tiere und Pflanzen. Darum muss der Künstler auch diese in seinen Bereich einbeziehen. Seine Liebe zur Natur, folglich auch seine Fähigkeit, ihre Schönheit zu sehen, wird umso gesicherter sein, wenn er mit Kopf und Herz sich seine endgültige Vorstellung von der Natur bildet – die Vorstellung, heißt das, die für den Augenblick gültig ist, denn kein Mensch ist jemals zu einer wirklich endgültigen Vorstellung von der Natur gelangt, und keiner kann je dazu gelangen. Darum wird der Künstler dann und wann innehalten, um sein Bild von der Natur im Licht der reinen Vernunft zu überprüfen. Denn er wird sich wohlbewusst sein, dass weder Liebe noch Schönheit vollkommen sein können, wenn nicht die Wahrheit sie erhellt. Diese drei beieinander vereinigt zu behalten, wird sein stetes Bemühen sein.

ERSTES KAPITEL

DER SIKKIM-HIMALAJA

Der Sikkim-Himalaja ist ein Gebiet, das zum ersten Mal eingehender bekannt wurde durch die Schriften Sir Joseph Hookers, des bedeutenden Naturforschers, der es im Jahr 1848 besuchte. Es liegt unmittelbar im Osten von Nepal und kann jetzt mit einer Bahn erreicht werden, die auf dem Weg nach Darjeeling den äußeren Höhenzug ersteigt. Es ist das Quellgebiet des Tistaflusses, in dessen Haupttal eine Eisenbahn eine kurze Strecke weit aufwärtsführt; es ist daher leicht zugänglich. Für die Zwecke des vorliegenden Buches genügt die Annahme, dass es das flache offene Waldland und den grasbedeckten Strich unmittelbar am Fuß des Gebirges einschließt, der als Terai bekannt ist. Es liegt nur wenig über hundert Meter über dem Meeresspiegel, sodass die Steigung von dort bis zum Gipfel des Himalajas fast 8700 Meter auf etwa 110 Kilometer beträgt. Der tiefere Teil wird vom 26. Breitengrad durchzogen; daher herrscht dort tropische Hitze. Da ferner das Gebiet innerhalb der Bahn des vom Bengalischen Meerbusen her wehenden Monsuns liegt, macht sich in den Ebenen und in den tiefer liegenden Tälern nicht allein große Hitze geltend, sondern auch große Feuchtigkeit. Die Abhänge des Gebirges überzieht infolgedessen ein üppiger Pflanzenwuchs.

Um in dieses wunderbare Gebiet einzutreten, muss der Reisende zuerst den Ganges überschreiten, den heiligen Strom der Hindus. Große Ströme umgibt ein ganz eigener Zauber. Sie rufen in uns ein Gefühl von Ewigdauerndem, Unwiderstehlichem hervor. Über eineinhalb Kilometer breit, als tiefe, majestätische Flut, strömt der Ganges aus fernen Weiten heran, in ferne Weiten hinaus, endlos fort und fort, aus Zeitenschoß in Zeitenschoß – so gewaltig an Tiefe und Fülle, dass ihm nichts Menschliches widerstehen kann. In der trockenen Jahreszeit, bei niedrigem Wasserstand und im Sonnenglanz ist er mild und ruhevoll, sein Antlitz lächelnd und hell. Stattliche Tempel, inmitten heiliger Haine und anmutiger Palmen, blinken an den Ufern. Auf den breiten Stufen der Badetreppen sind Mengen frommer Beter versammelt in Gewändern, die in allen Farben leuchten. Der Strom erscheint gütig, heiter und Leben spendend. Seine Gewässer und sein befruchtender Schlamm haben die Armut so mancher unfruchtbaren Scholle in Fülle verwandelt, und die Bewohner seiner Ufer wissen es wohl, dass er dem heiligen Himalaja entspringt.

Jedoch nicht immer ist der Ganges so huldreichen Wesens, nicht immer erscheint er so freundlich. Zur Regenzeit geht Schrecken von ihm aus. Am Himmel jagen schwarze, gewitterhafte Wolken tagelang, wochenlang dem Gebirge zu. Von der Sonne ist kein Schimmer zu erblicken. Der Regen stürzt als Sintflut herab. Der Strom schwillt noch weiter an durch die Schneeschmelze auf dem Himalaja, und nun wälzt er sich düster und zornmütig heran. Immer höher steigt er zwischen seinen Ufern, er nagt an ihnen und droht, über sie hinauszufluten und weithin Tod und Zerstörung zu tragen. Die Menschen wandeln nicht mehr zu ihm hinab. Sie schaudern vor ihm zurück. Unruhig beobachten sie ihn, bis sich das Ungestüm seiner Kraft erschöpft hat und bis er wieder zur gewohnten wohltätigen Erscheinung geworden ist.

Kein Wunder, dass solch ein Strom als heilig gilt. Für die einfachen Leute aus dem Volk ist er buchstäblich ein lebendes Wesen, und zwar ein Wesen, das sich günstig stimmen lässt, ein Wesen, das ihnen schaden kann, wenn sie es reizen, und ihnen wohltun kann, wenn sie sich ihm angenehm machen und ihm geben, was es verlangt. Den geistig höherstehenden Hindus ist der Strom ein Gegenstand höchster Verehrung. Können sie in seinen Gewässern baden, so werden ihre Sünden fortgespült. Kann nach dem Tod ihre Asche auf seinen breiten Spiegel gestreut werden, so ist ihnen ewige Seligkeit gewiss. Vielleicht von den frühesten Tagen der Menschheit an, seit Hunderttausenden von Jahren, mögen an seinen Ufern Menschen gewohnt haben. Denn in den Wäldern längs großer Ströme, in einem warmen, gleichmäßigen Klima müssen die Menschen der Vorzeit gelebt haben. Auf seine Wasser werden sie ihre Kanus hinabgelassen haben, und sie werden ihn als ihren einzigen Verbindungsweg untereinander benutzt haben. Immer werden sie voll Liebe und ehrfurchtsvoller Scheu auf ihn geblickt haben. Neben der Sonne wird ihm als der größten Naturerscheinung ihre Aufmerksamkeit gegolten haben. Unmerklich muss der Anblick der immerwallenden Flut tiefen Einfluss auf sie geübt haben.

Diesen Strom, so wie sie ihn den größten Teil des Jahres hindurch schauten, müssen sie lieben gelernt haben. Vor dem Anblick seiner zerstörenden Kraft mochten sie wohl eine Zeit lang in banger Scheu zurückschrecken, aber mit dem Fallen der Flut, als der Strom wieder in lächelnder Ruhe friedlich an ihnen vorbeizog, war das alles vergessen.

Darum fliehen ihn die Menschen auch nicht. Sie sammeln sich um ihn. Sie erbauen große Städte an seinen Ufern und kommen von weither, ihn zu schauen. Alljährlich wallfahren sie zu Tausenden an die Stelle, wo er aus dem Himalaja heraustritt. Und selbst bis zu seinen Quellen dringen sie, weit dahinten, hoch oben in den Bergen.

Auch dem Aufgeklärtesten sollte der Ganges ein Gegenstand der Ehrfurcht sein, um seines Alters, seiner Zukunft und seiner Macht willen. Vom Spiegel des Bengalischen Meerbusens steigen unter dem Einfluss der Sonnenwärme Wasserdampfteilchen in die Atmosphäre auf. Luftströmungen tragen sie Hunderte von Kilometern weit über das Meer und über die Ebenen Bengalens hin, bis die Kälte der Himalajaberge sie sich verdichten und als Schnee und Regen niederfallen lässt. Einige indes werden weitergetragen. Sie werden in einer Höhe von mindestens 6000 Metern über den Himalaja hinweg befördert, bis sie schließlich in Tibet sich niederschlagen. Es ist eine auffallende Tatsache, dass ein Teil des Wassers im Ganges von tibetischen Flüssen stammt, die sich ihren Weg quer durch die gewaltige Gebirgskette des Himalajas gebrochen haben. Der Arunfluss zum Beispiel entspringt in Tibet und durchschneidet den Himalaja in einer tiefen Schlucht in der Gegend zwischen Mount Everest und Kantschindschanga. Diese Flüsse sind nämlich weit älter als die Berge. Ehe der Himalaja emporgehoben wurde, strömten sie schon in ihrer Bahn und höhlten ihr Bett immer tiefer, während die Berge aufstiegen und sie langsam überragten.

Ehrfurcht gebührt daher dem Ganges um seines in der grauen Vorzeit wurzelnden Alters willen. Ehrfurcht gebührt ihm, weil er auch in der Zukunft so fortströmen wird wie jetzt, durch Hunderttausende, vielleicht durch Millionen von Jahren hin. Um und um, in nie rastendem Kreislauf wird das Wasser aus dem Meer emporgehoben, es wird in den Wolken fortgetragen, fällt auf die Berge nieder und sammelt sich im Ganges, um wiederum in das Meer zu fließen. Der Strom mag alljährlich seinen Lauf ändern, indem er sich erst ins eine, dann ins andere Ufer hineinnagt. Aber fort und fort wird er strömen, so weit in die Zukunft hinein, wie menschliche Voraussicht zu reichen vermag.

Und seine Macht, dem einfachen Menschen, zeitweise selbst uns, so schreckenerregend, wird sich mehr und mehr zu einer Gutes schaffenden Kraft wandeln. Schon sind große Kanäle von dem Hauptstrom und seinen Nebenflüssen abgezweigt worden; seine Flut hat Millionen Morgen Land bewässert und dadurch reiche Ernten an Weizen und Reis, an Baumwolle, Zuckerrohr und Ölpflanzen hervorrufen helfen. Es werden Pläne erwogen, das Gefälle des Wassers auf dem Weg durch das Gebirge auszunutzen durch Umwandlung in elektromotorische Kraft, um Eisenbahnen zu betreiben und Kraft für große Industrien zu erzeugen. Wieder einmal mag der Flusslauf zur Verbindungslinie werden, wenn Wasserflugzeuge in Aufnahme kommen, die von Stadt zu Stadt fliegen und auf dem Strom niedergehen.

Wenn wir so zur Erfassung der vollen Bedeutung des Stromes gelangen, bleibt uns der Eindruck seiner ewigen Dauer und seiner unwiderstehlichen Gewalt. Aber unsere Furcht vor ihm ist geringer. Er ist, das fühlen wir, zu gemeinsamer Arbeit mit uns bereit, er ist fähig, sich behandeln und leiten zu lassen. Seine Macht ist in der Hauptsache nicht zerstörend, sondern wohltätig. Fast unerschöpflich ist sein Vermögen, Pflanzen, Tieren und Menschen zu helfen; er ist uns ein Freund und er ist bestrebt, uns zu helfen.

Mit vollem Recht haben die Hindus ihn von jeher verehrt. Ihre Verehrung mag, bei der Üppigkeit der Tropen, sich zum Übermaß entwickelt haben; das unbewusste Gefühl jedoch, das ihr zugrunde lag, war durchaus gesund. Der Strom birgt in seinem Schoß Eigenschaften von hoher Leben spendender Kraft, und in seiner Verehrung brachten die Hindus, halb unbewusst, das Gefühl ihrer Abhängigkeit von diesen Leben spendenden Eigenschaften zum Ausdruck, wie auch ihrer Anhänglichkeit und ihrer Dankbarkeit für die Wohltaten, mit denen der Strom sie bedachte.

Nur Furcht vor seiner Zerstörerart, das Furchtgefühl allein, würde ihren Drang zur Verehrung nicht wecken. Sie fürchteten den Strom und sie fürchten ihn heute noch, aber hinter der Furcht steht das Gefühl, dass er dem Menschen günstig gestimmt werden kann, dass er zur Hilfe veranlasst werden kann, dass er nicht mit Willen des Menschen Tun durchkreuzt. Und darin hatten sie vollkommen recht. Wir lernen endlich, wie es zu machen ist, und sehen jetzt klar, was die Hindus nur unklar empfanden: dass des Stromes Wesen im Grunde gut ist, dass er, einmal gebändigt und in richtige Bahnen gelenkt, dem Menschen unendlich viel Gutes bringen kann.