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Christoph Müller OSB

NEULAND
UNTER DEN
SANDALEN

Ein Benediktiner
auf dem Jakobsweg

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Wir danken für die Abdruckgenehmigung des Gedichtes „Im Nebel“ aus Hermann Hesse, Sämtliche Werke, Band 10 © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2002.

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Mitglied der Verlagsgruppe „engagement“

4. Auflage 2017

INHALT

Wie ich zum Jakobspilger wurde

„Go West!“

Erste Siesta in der Blumenkiste

Unter Ratten und Räubern

Ein rettender Engel

Nie wieder!

Fluchpsalmen und kulinarische Köstlichkeiten

Nun, auf nach Spanien!

Ein jämmerlicher Kaminfeger

Wie ein Kamel nach einer langen Wüstenwanderung

In der Arena

Verführungen und nächtliche Geschosse

„Sed“ – Durst

Die Matrone

Als „Stürmi“ unter Müden und Lahmen

Ein charismatisches „Morgenmahl“ inmitten der Eintönigkeit

Das heimwehkranke Pferd

Der schweigsame Gefährte

In der sibirischen Steppe

Die Unendlichkeit des Himmels

Ein Festschmaus zu Ehren des hl. Christophorus

Das Ende vor Augen

Die schweigsame Eskorte

Voller Unruhe

Keltische Klänge – zwischen Weihrauchduft und Widderhorn

Eine fachkundige Diagnose

„Wenn das Herz dich drängt …“

Unendlich „befreit“

Neues Ungemach

„Dann bete für Elena!“

Die letzten Schritte

Hier endet der Weg!

Dem Glücklichen schlägt keine Stunde

Ein Pilger baut keine Hütten!

Geschenkte Zeit – die Rückkehr

WIE ICH ZUM JAKOBSPILGER WURDE

Nein, wallfahren, das war nicht meine Sache. Dass ich damals den Schritt ins Internat des berühmten Wallfahrtsortes Einsiedeln tat, hatte allein mit meiner Faszination für afrikanische Wildtiere zu tun. Ich wollte Missionar werden und unter Löwen und Giraffen leben. Das ging aber nicht ohne Abitur. So kam ich ans Gymnasium des Klosters Einsiedeln.

Der Alltag im Internat gefiel mir über Erwarten gut. Die Lehrer in ihren schwarzen Kutten und das barocke Ambiente der Klosteranlage beeindruckten mich so sehr, dass die Bilder von Elefanten und Hyänen allmählich verblassten. Schließlich entschied ich mich, in dieses Kloster einzutreten und die Afrikamission anderen zu überlassen.

Den Wallfahrtsbetrieb nahm ich dabei in Kauf. Er störte mich nicht, war aber auch nicht meine Welt. Selber eine Wallfahrt zu unternehmen, das wäre mir nie in den Sinn gekommen. Von zuhause her war mir so etwas völlig unbekannt.

Gewiss, ich wusste, dass es den Jakobsweg gab und dass er im fernen Spanien endete. Aber nie hatte ich auch nur das leiseste Bedürfnis verspürt, ihn selber zu gehen. Mir genügte mein Tagwerk im Kloster. Aufbrechen, gar nach Santiago? Das überließ ich jenen, die Gefallen daran fanden.

In Einsiedeln wohnte ein Ehepaar, dem der Jakobsweg viel bedeutete, denn die beiden hatten sich dort kennengelernt. Sie waren eng mit unserem Kloster verbunden. Eines Tages gingen sie zum frisch gewählten Abt Martin. Es wäre gut, meinten sie, wenn er als junger Abt auch Anregungen aus anderen Klöstern bekäme. Sie schlugen vor, dass einer der Mönche mit ihnen eine Reise zu französischen Abteien unternehmen sollte, um ihm nachher darüber zu berichten.

Abt Martin fand die Idee gut, und ich war der Auserwählte. So kam es, dass ich mit dem Ehepaar verschiedene Abteien im Burgund besuchte. Nach meiner Rückkehr berichtete ich dem Abt ausführlich. Als ich mich verabschiedete, vertraute ich ihm noch etwas an, das mich seit dieser Reise nicht mehr losließ:

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In Vézelay tauchte plötzlich der Wunsch auf, den Jakobsweg zu gehen.

Fünf Kilometer vor Vézelay, einer berühmten Station am Jakobsweg, hatten wir unser Auto geparkt. Meine Begleiter drückten mir einen Pilgerstab in die Hand. Gerne ging ich auf ihren Vorschlag ein, die kurze Strecke bis zur Kathedrale zu Fuß zurückzulegen. Doch dieses Wegstück mit seinem langsamen Aufstieg zur Kirche, der Anblick der alten Steinfliesen, das Betreten der romanischen Basilika und das stille Verweilen im heiligen Raum, der Gedanke an Tausende Pilger, die im Laufe der Jahrhunderte hier gebetet hatten – das alles berührte mich zutiefst. Spontan stieg in mir der Wunsch auf, selber den Jakobsweg, den sogenannten Camino, unter die Füße zu nehmen.

Nach dem jahrelangen „Bete und arbeite!“, wie ich es als Benediktiner gewohnt war, wollte ich Neuland unter meinen Füßen betreten. Zu meiner großen Überraschung sagte der Abt „ja“.

Kaum einer von uns Einsiedler Mönchen hatte den Camino je gemacht. Gewiss, mein Tischnachbar, der betagte Bruder Alois, rühmte sich immer wieder, dass er den Jakobsweg sehr wohl kenne. Wenn ich nachfragte, wie weit er ihn denn zu Fuß gegangen sei, antwortete er halb prahlend, halb schmunzelnd: „Also, ich stieg jeweils in Santiago aus dem Car und überquerte den Vorplatz bis zur Kathedrale, das waren ganz sicher hundert Meter!“

Ich hatte mir für den Pilgerweg Folgendes ausgedacht: In Einsiedeln starten und per Fahrrad die Schweiz und Frankreich durchqueren. Erst auf spanischem Boden würde ich den Lenker mit dem Pilgerstab vertauschen. Dann hieß es 700 Kilometer zu Fuß bis nach Santiago und wieder 700 Kilometer zurück, um schließlich per Rad nach Einsiedeln zurückzufahren. Der Abt stellte mir dafür 50 Tage zur Verfügung.

Was das Übernachten betraf, so wollte ich trotz des zusätzlichen Gewichts auf keinen Fall auf ein Zelt verzichten. Ich hatte einen Film gesehen, der mir den Schlaf raubte. Auf den Betten sitzend, stachen Pilger einander die Blasen auf, überall hing nasse Wäsche herum, und es wurde geschnarcht, dass die Balken krachten. Wie sollte ich, der ich über Jahrzehnte hinweg meine Mönchszelle allein bewohnte, da überhaupt Schlaf finden?

Rasch ging es ans Packen. Die Frage war jedoch nicht „Was nehme ich mit?“, sondern vielmehr „Was lasse ich alles zuhause?“ Zelt, Schlafsack und Luftmatratze alleine wogen schon drei Kilo. Keinesfalls würde ich mehr als zwölf Kilo mit mir herumtragen! Unverzichtbar erschienen mir aber verschiedene Kleider (auch warme), ein Regenponcho (der gleichzeitig als Zeltunterlage diente), Toilettenartikel, ein Reparaturset für das Rad, Helm, Pumpe, Esswaren, Trinkflasche, Messer, Taschenlampe und Fotoapparat sowie eine kleine Apotheke. Am Abend des 4. Juli 2003 stand das Fahrrad, mit einem unförmigen Rucksack beladen, im Klosterkeller bereit und wartete auf den Morgen.

„GO WEST!“

5. Juli

Um 5.30 Uhr begab ich mich in die Klosterkirche. Vor dem großen Aufbruch wollte ich nochmals mit den Mitbrüdern ins Gotteslob einstimmen. Gleich nach dem kräftigen Frühstück holte ich das Rad hervor und schob es bis zum schweren Klostergitter, das sich ächzend öffnete. Ich hielt einen kurzen Moment inne. Dann fiel das Tor ins Schloss. Und los ging’s.

Zunächst sollten es jedoch nur 300 Meter sein, denn schon bald bemerkte ich, dass im Hinterrad zu wenig Luft war. Glücklicherweise fand ich bei einer Tankstelle eine Pressluftpumpe. Aber ich hantierte so ungeschickt, dass die restliche Luft auch noch aus dem Schlauch entwich. Ich musste den am Vorabend aufwendig befestigten Rucksack wieder vom Gepäckträger nehmen. Immerhin glückte es im zweiten Anlauf. Endlich konnte es losgehen. Ich wollte nur noch fort, weg von allem, bloß kein bekanntes Gesicht mehr sehen.

Doch meine Schwester Simone, die in der Innerschweiz wohnt, hatte von meinen Plänen erfahren und wartete irgendwo am Straßenrand, um ein Erinnerungsfoto zu schießen. Im ersten Moment war ich etwas perplex. In ihrer Sorge wollte sie mir unbedingt noch einige Medikamente und Esswaren mitgeben. Nur mit Zwängen und Stoßen fand all das in und außerhalb des Rucksacks noch Platz. Dann gab’s einen Abschiedskuss. Und es ging endgültig los.

Beim Kloster Werthenstein gönnte ich mir eine Pause. Dort gab es eine unscheinbare kleine Grotte, wo angeblich heilendes Wasser entsprang. So füllte ich alle Flaschen mit dem wundertätigen Wasser. Und tatsächlich: Das erste Wunder ließ nicht lange auf sich warten. Denn in der nächsten Ortschaft war ich in einer langsam fahrenden Kolonne einem Autofahrer dicht auf den Fersen. Als er plötzlich abrupt bremste, konnte ich mit meinem schwer beladenen Fahrzeug einen Crash nicht mehr verhindern. Er kam wütend aus seinem Auto heraus und schimpfte laut. Aber ich besaß scheinbar schon die Abgeklärtheit des Jakobspilgers. Ich zog nur die Schultern hoch und schmunzelte über das ganze Gesicht. Da kein Schaden zu erkennen war, stieg der Fahrer leicht fluchend wieder in seinen Wagen.

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„Ich wollte vorwärts kommen, alles hinter mir lassen und niemanden mehr sehen …“

Als ich das Entlebuch und das Emmental hinter mir gelassen hatte, fuhr ich in die helvetische Hauptstadt ein. Dort verlor ich jede Orientierung. Keiner konnte mir den Weg Richtung Murten weisen. So irrte ich verärgert in der Stadt herum und fand nicht mehr hinaus.

Endlich kam mir, im wörtlichen Sinn, der Himmel zu Hilfe. Denn ich blickte zur Sonne, die sich langsam Richtung Westen neigte. Das war’s! Ich musste mich doch nur immer westwärts halten, der Abendsonne entgegen, um zum Murtensee und schließlich nach Santiago zu kommen. „Go West!“ Das wurde zur wichtigsten Pilgerregel, die mich immer begleitete und mich nie im Stich ließ.

Bei untergehender Sonne erreichte ich schließlich den traumhaft gelegenen See. Ich fand einen idyllischen Zeltplatz. Die letzten Sonnenstrahlen waren Zeugen eines glücklichen Pilgers, der den ersten Tag seiner Reise mit einem erfrischenden Bad und einem dankbaren Gebet beschloss.

ERSTE SIESTA IN DER BLUMENKISTE

6. Juli

Ich meinte, früh aufgestanden zu sein. Doch es wurde 9.00 Uhr, bis das Zelt zusammengelegt und jedes Ding seinen Platz im Rucksack gefunden hatte. Ich erkannte: Auf dieser Fahrt konnte nur strikteste Ordnung ein sinnloses Herumsuchen und damit verbundenen Ärger und Zeitverlust verhindern. Aber ich stand erst am Anfang meiner Lehrzeit, und es gab noch manche Sucherei auf dem Weg. War endlich alles aufgeräumt, staunte ich jedes Mal aufs Neue, wie all das, was eben noch verstreut herumlag, in einem einzigen Rucksack Platz fand.

Ich schlug nun den Weg Richtung Westschweiz ein. Um möglichst schnell vorwärts zu kommen, fuhr ich immer auf den Hauptstraßen. Die Autos störten mich nicht.

Vor Lausanne gab es eine kräftige, in der Mittagshitze mühsame Steigung auf 872 Meter hinauf. Ich wurde richtiggehend schlapp und fragte mich, ob ich mir nicht zu viel zugemutet hatte. Jedenfalls musste ich mich bei nächster Gelegenheit am Straßenrand niederlegen.

Zufällig befand sich dort ein Blumengeschäft. Ich wählte als Bettstatt zwei wacklige Bretter, die eigentlich zum Aufstellen von Blumenkisten gedacht waren. Trotz des regen Verkehrs und des Gestanks musste ich tief eingeschlafen sein, denn plötzlich fiel ich unsanft auf den Boden. Für einen Moment wusste ich gar nicht mehr, wo ich überhaupt war. Benommen stieg ich wieder auf mein Rad und hatte anfangs große Mühe, einigermaßen geraden Kurs zu halten.

Ich hatte beschlossen, große Städte wie Genf zu umfahren. So bog ich schon bald nach Westen ab und überquerte die Grenze zu Frankreich. In Ferney erwies ich dem Schriftsteller Voltaire die Ehre, indem ich vor seiner Statue kurz vom Rad stieg. Er war zwar ein bissiger Kritiker und ein Antiklerikaler, aber die französische Sprache hat ihm ihre Schönheit und Perfektion zu verdanken. Die flache Ebene des Genfersees lag hinter mir. Nun begann für mich Neuland. Unbekannte Orte und Landschaften taten sich auf.

In Bellegarde suchte ich vergeblich nach einer Campingmöglichkeit, denn das Städtchen liegt eingeklemmt in einem tief eingeschnittenen Flussbett. Außerhalb des Ortes aber wies ein Schild auf einen nahen Zeltplatz hin. Zum Glück lag er in jener Richtung, in die ich sowieso weiterfahren wollte. Denn mit dem schweren Gepäck auf dem Fahrrad war jeder Umweg zu viel, und eine Steigung, die man aus irgendeinem Grund zweimal hinter sich bringen musste, glich einer kleinen Katastrophe.

Die Straße führte nun wieder stark bergwärts. Die Gegend wurde immer verlassener, und die Sonne war bald hinter einer Bergkuppe verschwunden. Ich staunte, als ich nach einer Kurve auf einen Imbiss von McDonalds stieß, der sich frech in die schöne Landschaft gesetzt hatte. Doch Hunger und Durst siegten über alle ästhetischen Bedenken. Für zwölf Euro gab es zwei große Salate mit verschiedenen Saucen und gebratenen Kartoffeln, dazu noch einen großen Becher Orangensaft. Der Zeltplatz selber aber lag etwas weiter entfernt an einem kleinen Abhang. Es war ein wunderschöner Standort mit vielen kleinen Hecken, und ich fand einen stillen, lauschigen Platz für mich allein. Bald hatte ich das Zelt aufgebaut, das ging schon rassiger vor sich als am Vortag. Nach einer verdienten Dusche und einer dankbaren Rückschau auf den Tag schlief ich müde, aber glücklich ein.

UNTER RATTEN UND RÄUBERN

7. Juli

Um 7.00 Uhr weckten mich schwere Brummer, die jene Straße hinaufkrochen, die ich bald selbst in Angriff nehmen würde. Ein ungutes Gefühl überkam mich, Angst machte sich breit. War die Straße nicht zu gefährlich? Würden die Lastwagen genug Rücksicht auf mich nehmen? Wäre es nicht gescheiter, das Rad auf die Bahn zu verladen und mir mehr Zeit für die Fußstrecke zu gönnen?

Aber einmal auf der Straße, verflogen die Bedenken rasch, und hinter Nantua eröffnete sich am gestauten Fluss Ain die Möglichkeit zu einem erfrischenden Bad. Um ans Wasser zu gelangen, musste ich erst das Rad ein kleines Stück hinunterschieben. Dann schwamm ich hinaus und bewunderte die Schönheit der Bäume, die sich am linken und rechten Ufer zum Fluss hinunterneigten und ihn gleichsam liebkosten.

Als ich wieder aufs Rad steigen wollte, war der hintere Reifen platt! Ich legte mich mit der Handpumpe kräftig ins Zeug. Aber schon nach kurzer Zeit war die Luft wieder draußen. Also schob ich das Rad zum Fluss zurück, denn für die Reparatur war ich auf Wasser angewiesen. Ich musste den Schlauch erst untertauchen, um anhand der aufsteigenden Blasen das Loch lokalisieren zu können. Endlich war es so weit. Mit schmutzigen Händen, aber frohgemut, ging es in der Mittagshitze weiter in Richtung Lyon. Ich beschloss, diese drittgrößte Stadt Frankreichs vorsichtshalber östlich zu umfahren, denn ich hätte wohl kaum wieder aus ihr hinausgefunden.

Neues Ungemach braute sich zusammen. Das Schalten ging immer mühsamer vor sich, und mit der Zeit reagierten die Gänge gar nicht mehr. Was mochte das bedeuten? Ein Augenschein brachte bald Gewissheit. Das Übersetzungskabel hing nur noch an einem seidenen Faden. Da gerade der mittlere der drei Gänge drin war, konnte ich nur mehr in diesem Gang weiterfahren. Noch lief es wie geschmiert. Das Rhônetal ist flach, und ich hatte starken Rückenwind. Wie von unsichtbarer Hand wurde ich vorwärts gestoßen.

Endlich näherte ich mich einer kleinen Stadt, deren Fahrradmechaniker jedoch seine Werkstatt bereits dichtgemacht hatte. Also beschloss ich, die idealen Windverhältnisse zu nützen und einfach weiterzufahren. Abends um 21.00 Uhr, nach über 50 Kilometern mit nur einer Übersetzung, erreichte ich die Stadt Vienne. Doch diese mittelalterliche Touristenstadt hatte keinen Zeltplatz. Weil die billigen Hotels alle belegt waren, blieb mir nichts anderes übrig, als weiter der Rhône entlang zu fahren, um irgendwo wild zu zelten.

In Gedanken versunken merkte ich gar nicht, dass ich mit meinem Rad auf eine Schnellstraße geraten war. Nun gab es kein Zurück mehr. Nur fünf Meter trennten mich von der idyllischen Rhône, an deren Ufer ein verwachsener Feldweg entlangführte. Hinter einer Gebüschgruppe hob ich kurzerhand mein Fahrrad mitsamt dem Rucksack über die Leitplanke und stellte dort, dem Dröhnen und den Scheinwerfern der vorbeifahrenden Autos und Motorräder trotzend, mein Zelt auf. Im Schutze des Gebüsches und der Dunkelheit nahm ich zwischen Algen und Abfall noch ein Bad in der Hoffnung, dass mich weder Ratten noch Polizisten entdecken würden. In banger Erwartung eines nächtlichen Überfalls versteckte ich mein Geld unter einem nahen Baum. So war wenigstens meine Reisekassa in Sicherheit. Noch längere Zeit hielten sich im Zelt Beklemmung und Müdigkeit die Waage, aber zuletzt obsiegte die Müdigkeit, und ich schlief ein.

EIN RETTENDER ENGEL

8. Juli

Erst mit dem Aufkommen des Werksverkehrs erwachte ich. In meiner Freude, diese Nacht heil überstanden zu haben, verzichtete ich gerne auf ein Morgenbad in der Rhône, zumal die Morgensonne den Grad der Verschmutzung schonungslos ans Licht brachte. Zum Zähneputzen reichte es gerade noch.

Schnell wurde das Zelt abgebrochen. Ich stieg wieder aufs Rad und fuhr, eingeklemmt zwischen Autostraße und Rhône, auf einem unkrautübersäten Schotterweg viele Kilometer dahin, bis ich mich plötzlich mitten auf einer Wiese befand. Ein guter Bauer führte mich wieder auf den rechten Weg.

Meine Hauptsorge galt nun der Reparatur der Gangschaltung. Schon bei der kleinsten Steigung musste ich vom Sattel steigen und das Rad schieben. Endlich näherte ich mich einem Städtchen mit einem großzügigen Fahrradgeschäft. Doch meiner Freude folgte sogleich eine herbe Enttäuschung: Ich hätte das Rad erst wieder in zwei Tagen abholen können! So lange wollte ich auf keinen Fall warten. Immerhin machte man mich auf eine kleinere Werkstatt aufmerksam. Schon von Weitem konnte ich sogar das Logo meiner Radmarke entdecken. Aber es folgte eine neue Enttäuschung: wegen Todesfall geschlossen!

Nein, ich konnte nicht warten. Unaufhaltsam zog es mich weiter. Und überhaupt: Bisher war es mit nur einem Gang auch nicht schlecht gegangen. Was ich allerdings nicht wissen konnte: Ich stand vor einer Bergetappe. Es ging von 300 auf 1100 Meter hinauf. Mit einem einzigen Gang war das eine völlig unmögliche Sache.

Ahnungslos fuhr ich los und wollte den Weg Richtung Annonay einschlagen. Doch zum Glück verpasste ich die richtige Abzweigung. Ich bog in eine kleine Seitengasse und stand plötzlich vor einem völlig unscheinbaren Radgeschäft. Ein freundlicher Mann war sofort bereit, mir das Kabel auszuwechseln. Schon nach einer halben Stunde händigte er mir mein Rad für wenig Geld wieder aus. Ich gab ihm ein fürstliches Trinkgeld, worüber er sehr erstaunt war. Für ihn waren es nur ein paar Handgriffe gewesen – für mich aber hing die weitere Pilgerfahrt von seiner Hilfsbereitschaft ab.

Mit neuem Elan schwang ich mich auf mein geduldiges Stahlross. Dass es nun stundenlang aufwärts ging und der Schweiß nur so dahinrann, störte mich überhaupt nicht. Hauptsache war, dass alles perfekt funktionierte!

Bei einer kleinen Poststelle kaufte ich einige Briefmarken. Der freundliche Postbeamte ließ mich Platz nehmen und offerierte mir großzügig Orangensaft und Mineralwasser. Einfach so. Ich muss wohl wie ein Verdurstender ausgesehen haben. Als ich endlich auf der Anhöhe ankam, öffnete sich mir eine bezaubernde Landschaft, die mich an das Einsiedler Hochmoor erinnerte. Die folgende Abfahrt ließ dann alle Strapazen vergessen und animierte mich zu lautem Gesang. Und bald wartete ein einfacher Campingplatz auf mich. In großem Frieden schlief ich ein, diesmal ganz ohne Angst vor Ratten, Polizisten und Räubern.

NIE WIEDER!

9. Juli

Als ich am Morgen das Zelt öffnete, saß bereits die junge Elster, mit der ich schon am Vorabend Bekanntschaft gemacht hatte, beim Zelteingang und bettelte. Sie zeigte ein fachmännisches Interesse für alle Teile meines Fahrrads. Geschwisterlich teilten wir unser bescheidenes Frühstück. Daraufhin wich sie keinen Zentimeter mehr von meiner Seite und folgte mir überallhin.

Als für die Weiterreise alles bereitstand, lockte ich meine kleine Freundin hinter eine Baracke und gab ihr dort ein Stück glitzernde Alufolie. Das lenkte sie für einen kurzen Moment ab. Schnell rannte ich zum Rad und machte mich aus dem Staub. Ich ließ ein leicht frustriertes Elsterchen zurück.

Schon näherte ich mich Le Puy, einer der bedeutenden Etappen am Jakobsweg. Ich besuchte die Basilika, die hoch über der Stadt thront, und war überrascht, da oben eine Quelle mit Trinkwasser zu finden. Als verwöhnter Schweizer musste ich lernen, dass es in vielen Gegenden Frankreichs kaum Brunnen gibt. Die Suche nach dem lebensnotwendigen Nass wurde zu einer der Hauptsorgen auf dem Weg, besonders bei meiner Fahrt durch das französische Zentralmassiv, wo man selbst in größeren Ortschaften vergeblich nach Wasser sucht.

Bald nach Le Puy folgte eine böse Überraschung. Meine Landstraße mutierte unversehens zu einer Schnellstraße. Das Radfahrverbot war unübersehbar, aber niemand hatte an uns Radfahrer gedacht. So fuhr ich einfach weiter, als ob nichts wäre.

Aber nach 20 Kilometern war endgültig Schluss. Die Schnellstraße mündete nämlich in eine mehrspurige Autobahn. Nur mit größter Mühe hob ich mein schwer beladenes Rad über die Leitplanken. Nach Überquerung einer hässlichen Baustelle kam ich auf einen kleinen Feldweg. Der Sonne nach zu schließen führte er nach Westen, und so vertraute ich mich ihm blind an.

Doch schon bald wurde ich missmutig. Es war heiß und staubig, und ich hatte viel Zeit verloren. Am liebsten hätte ich mich flach auf den Boden gelegt, die Augen geschlossen und alles vergessen!

Da bog der Weg in eine Straße ein, und nach kurzer Zeit fuhr das Rad wieder wie von selber. Es ging unaufhaltsam bergab, die Abfahrt wollte und wollte nicht enden. Ich wähnte mich schon bald unter dem Meeresspiegel.

Aber es kam keine rechte Freude auf. Eine dunkle Ahnung sagte mir, dass es auf der anderen Talseite ebenso unaufhörlich wieder bergauf gehen könnte. Und so war es auch. Nur mit größter Mühe schaffte ich den Aufstieg. Mein ursprünglicher Plan, auch den Rückweg der Pilgerreise mit dem Rad zurückzulegen, bekam einen ersten Dämpfer. Und es sollten noch weitere folgen! Für den Moment stand fest: Das werde ich mir, koste es, was es wolle, kein zweites Mal antun.

Bei Sonnenuntergang erreichte ich eine verträumte Kleinstadt. Ich war am Ende meiner Kräfte. Nichts wies auf einen Zeltplatz hin. Doch ein Hotel kam für meinen Geldbeutel nicht in Frage. In meinem verschwitzten und armseligen Outfit hätte man mich wohl auch gar nicht aufgenommen.

Da kam ein guter Engel in Gestalt einer alten Frau auf mich zu. Sie wies mich auf eine versteckte Campingmöglichkeit hin, gleich um die Ecke. Was für ein Paradies erwartete mich da! Der von einem kleinen Fluss umspülte Platz war genau das, was ich jetzt brauchte. Schnell stieg ich ins kühle Nass. Hier konnte ich den Schweiß und die Sorgen, aber auch die Freude und die Dankbarkeit dem träge dahinströmenden Wasser anvertrauen.

An diesem Punkt der Reise wurde mir klar: Die Heimat lag nun endgültig hinter mir. Es gab keine Absicherung mehr, kein Zurück. Es blieb nur der Blick vorwärts, nach Westen, Tag für Tag, ohne recht zu wissen, was jeder dieser Tage mit sich bringen würde. Was ich in meinem Heimatkloster Einsiedeln jahrelang, oft gedankenlos, beim nächtlichen Gebet gesungen hatte, hier nun klang es echt und überzeugt: „Herr, auf dich vertraue ich. In deine Hände lege ich mein Leben.“

FLUCHPSALMEN UND KULINARISCHE KÖSTLICHKEITEN

10. Juli

War das eine gute Nacht! Erst die morgendlichen Sonnenstrahlen, die die Luft im Innern des Zeltes spürbar erwärmten, weckten mich auf. Ich hatte es aber keineswegs eilig. Alles tat ein bisschen weh, die Muskeln, die Knochen, die Hände, vor allem das Hinterteil. Als das Zelt endlich eingepackt war, ging es schon auf zehn Uhr zu.

Ich schwang mich auf mein Rad. Da ich in den Niederungen eines kleinen Flusstales gezeltet hatte, begann der Tag wieder mit einem Aufstieg. Nach nur zwei Kilometern lud eine kleine Kapelle zum Verweilen ein. Das ist eine willkommene Gelegenheit, um ein Morgengebet zu verrichten, sagte ich mir.

Es war aber eher Faulheit als Frömmigkeit, die mich da eintreten ließ. Beten konnte ich ja auch auf dem Fahrrad. Durch mein dreißigjähriges Klosterleben kannte ich manche der Psalmen auswendig.

Wenn mir aber gar nichts in den Sinn kommen wollte, dann dachte ich zurück an jenen russischen Bauern, dessen Wagen auf der Rückkehr vom Markt ein Rad verlor. Dem Armen blieb nichts anderes übrig, als im Wald zu übernachten. Nach seiner Gewohnheit legte er sich aber nie zur Ruhe, ohne seine Gebete zu verrichten. Doch hatte er diesmal kein Gebetbuch bei sich. Und auswendig konnte er kein einziges! Da sprach er zu sich selbst: „Was ich kann, ist nur das Alphabet. Also werde ich dieses dreimal nacheinander aufsagen. Und der Liebe Gott, der alles vermag, wird sich aus den Buchstaben schon selber ein Gebet formen!“ – Wahrlich, Gott hörte das, heißt es in der Geschichte, und er sprach zu seinen Engeln: „Heute ist kein schöneres Gebet in den Himmel gedrungen als das Gebet dieses einfachen Bauern.“ Ungefähr so gestaltete ich meine Andacht in der Kapelle. Aber bald darauf hieß es wieder aufbrechen.

Nach etwa einer Stunde Steigung war eine größere Umleitung signalisiert, und zwar dermaßen schlecht, dass ich über viele Kilometer in die falsche Richtung fuhr und wertvolle Zeit verlor. Nur mein geistlicher Stand verbot es mir, meinem Ärger über diese Schlamperei durch lautes Fluchen Luft zu verschaffen. Fluchpsalmen (solche gibt es) wären jetzt genau das Richtige gewesen, aber die hatte ich nicht auf Lager, da wir sie in Einsiedeln leider überspringen.

Da ich kein rechtes Frühstück eingenommen hatte, war mein Hunger groß. Endlich erreichte ich auf 1180 Meter Höhe ein Dorf mit dem originellen Namen „Nasbinals“. Ich beschloss, was sonst eher selten der Fall war, in ein Restaurant einzukehren, um wieder einmal richtig zu essen. Es gab ein Nasbinalser Menü zu zwölf Euro, alles inbegriffen: Es war wie im Schlaraffenland. Zuerst brachte man mir zu meinem Erstaunen einen ganzen Liter Wein, dazu frisches Brot. Es folgte Kartoffelsalat mit Tomaten, dann eine äußerst delikate, sehr heiße Lauchspezialität. Abgelöst wurde sie durch ein Hähnchen, das auf einem feinen Risottobett lag. Schließlich ruhten meine Augen auf einer großen Platte mit verschiedenen Käsesorten, von denen ich nach Belieben abschneiden konnte. Gekrönt wurde das Essen schließlich von drei großen Eiskugeln.

In einem günstigen Moment, da ich mich unbeobachtet fühlte, goss ich den Rest des Weines heimlich in eine Plastikflasche und packte auch die Brotreste mit ein. Es nahte der Sonntag. Ich wusste nicht, ob ich mich morgen einer zum Gottesdienst versammelten Gemeinde würde anschließen können. Vielleicht musste ich in dieser kargen Einöde alleine Gottesdienst feiern?

Mehr als satt und leicht beduselt verließ ich das Lokal. Der Wirt murmelte noch irgendetwas von einer letzten Passhöhe, die es zu überwinden galt. Aber ich hatte zu viel Wein getrunken und schaffte es nicht mehr hinauf. Tapfer kämpfte ich mich noch ein Stück weit Richtung Pass hinauf, aber dann überfiel mich eine solche Müdigkeit, dass ich eine Siesta einlegen musste. Ich fiel in einen tiefen Schlaf. Die schweren Brummer, die an mir vorüberdonnerten, vermochten mich nicht zu wecken.

Und doch wurde ich bald um den Schlaf gebracht: Eine Ameise fand den Weg in mein Hemd und rief all ihre Kolleginnen herbei. Da half nur schleunigste Flucht. Bei späteren Nickerchen habe ich den Siestaplatz immer sehr sorgfältig nach diesen hartnäckigen Tierchen abgesucht.

Nur mit Mühe schaffte ich den Aufstieg zum Pass. Nun war das Zentralmassiv endgültig überwunden. Vor mir lag die vom Wirt angekündigte, endlose Abfahrt. Der frische Wind und das Wissen, dass es keine weiteren Anstiege mehr gab, machten mich restlos glücklich.

Doch je näher die Ebene kam, umso häufiger schlugen mir ganze Wellen von heißen Luftschichten entgegen. Um 16.00 Uhr unten angekommen, konnte ich, als ich vom Fahrrad stieg, kaum mehr atmen. Es war eine Atmosphäre wie in einer Gießerei. Die Hitze hielt alles im Griff. Sie brachte alles Leben zum Stillstand. Nicht einmal der Schatten bot Linderung. Rasch floh ich in einen Laden, wo ich mir ein Eis kaufte, dessen Inhalt sich an einen kleinen Holzstecken zu klammern versuchte. Doch kaum war ich im Freien, begann die Süßigkeit von allen Seiten herabzutropfen. Unablässig war ich mit meiner Zunge damit beschäftigt, der Flucht der schmelzenden Süßigkeit Einhalt zu gebieten. Ich schleckte mal links, mal rechts, mal hinten, dann vorne, als die ganze Masse plötzlich lautlos zu Boden fiel und wie ein nicht entsorgter Hundekot im Dreck lag.

Zwei Damen, die mein vergebliches Bemühen schmunzelnd beobachteten, spendeten mir Trost. Es waren zwei Französinnen, die zu Fuß von Le Puy aus gestartet waren. Hier erfuhr ich zum ersten Mal die Faszination der Begegnungen am Jakobsweg: Egal, welcher Rasse, Sprache oder Nationalität man angehört, man fühlt sich als Pilger im tiefsten Miteinander verbunden, ja verwandt. Man spricht sich an, ganz so, als ob man sich schon lange kennen würde und geht eine Zeit lang miteinander, oft schweigend, oft redend. Man hilft einander und teilt alles, was man hat.