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 Ulrich Parzany– Täglich rufe ich zu dir | Mit Ulrich Parzany durch die Psalmen | SCM R.Brockhaus

SCM | Stiftung Christliche Medien

ISBN 978-3-417-26589-7 (E-Book)
ISBN 978-3-417-227024-7 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book:
CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

Dieser Titel erschien zuletzt 2010 unter der ISBN 978-3-417-26351-0

2. E-Book-Auflage 2014
© 2014 SCM R.Brockhaus im SCM-Verlag GmbH & Co. KG
Bodenborn 43 · 58452 Witten

Die Bibelverse sind, wenn nicht anders angegeben, folgender Ausgabe entnommen:
Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

Umschlaggestaltung: Dietmar Reichert, Dormagen

Inhalt

Täglich einen Psalm!

Darf ich die Psalmen überhaupt beten?

Sind die Rachegebete nicht unchristlich?

Ist das nicht pure Selbstgerechtigkeit?

Psalm 1 bis Psalm 150

Anmerkungen

Täglich einen Psalm!

Vor einigen Jahren begann ich, jeden Tag einen Psalm zu beten. Ich bedaure, erst so spät begriffen zu haben, dass mein Gebet diese tägliche Anleitung und Unterstützung durch die Psalmen wirklich braucht.

Das regelmäßige tägliche Bibellesen haben mir meine Freunde beigebracht, als ich mich mit 14 Jahren entschied, Jesus Christus nachzufolgen. Sie hatten einfache und praktische Gründe dafür: „Wenn du willst, dass Gott Einfluss auf dein Leben haben soll, dann musst du täglich auf sein Wort hören. Mach’s am besten morgens vor allem anderen. Dann kannst du den Tag steuern. Alles wirklich Lebensnötige tut man regelmäßig: atmen, essen und trinken, Zähne putzen …“ Sie halfen mir, die „Stille Zeit“ am Morgen zu einer guten Gewohnheit zu machen. Fünfzehn, zwanzig oder dreißig Minuten zum Gebet und zum Lesen der Bibel – das ist sozusagen meine Lagebesprechung mit dem Chef meines Lebens über den anstehenden Tag. Wirklich empfehlenswert.

Als sehr hilfreich empfinde ich, dass es Bibellesepläne gibt. Die Kirchen und christlichen Verbände haben sich sogar auf einen gemeinsamen Vorschlag für tägliche Bibeltexte geeinigt. Wer diesem Vorschlag folgt, kommt in vier Jahren durch das Neue Testament und in acht Jahren durch große Teile des Alten Testamentes. Der schöne Nebeneffekt besteht darin, dass viele andere Christen am selben Tag den gleichen Text lesen. Das gibt Gesprächsstoff.

Manchmal bin ich aus diesem Rhythmus ausgestiegen, weil ich alle Teile der Bibel lesen wollte und nicht nur eine Auswahl. Ich las dann einfach Kapitel für Kapitel vom Anfang bis zum Ende der Bibel. Ich hatte den Eindruck, dass ich bei den Texten besonders hinhören sollte, die bei mir Unverständnis und Widerspruch auslösten. Wir neigen dazu, die Bestätigung zu suchen. Religion soll gefälligst trösten! Das ist dann aber die Opium-Religion, die Karl Marx zu Recht kritisiert hat. Sie bietet Beruhigung und verhindert Veränderung. Wer aber an den lebendigen Gott glaubt, wird auf jeden Fall Veränderung erleben. Also sollten wir besonders dann die Ohren spitzen, wenn die Bibel mit ihren Aussagen unser Wunschdenken gegen den Strich bürstet.

In meiner regelmäßigen Bibellese kamen natürlich auch die Psalmen immer wieder vor als eines der insgesamt 66 Bücher der Bibel: 39 im Alten Testament, 27 im Neuen Testament. Manche der 150 Psalmen waren mir schon lange sehr vertraut. Ich kenne sie ganz oder teilweise auswendig. Aber andere konnte ich nur schwer verstehen und mitsprechen. War das der Grund, warum ich mich so lange dagegen wehrte, die Psalmen zu einem Teil meines täglichen Betens zu machen?

Eines Tages fiel mir ein kleines Buch mit gut fünfzig Seiten in die Hand, das ich lange übersehen hatte. Es war das letzte Buch, das Dietrich Bonhoeffer im Jahr 1940 publizieren konnte, ehe die Nazis ihm 1941 Schreibverbot erteilten. Das Buch hatte den schlichten Titel „Die Psalmen, das Gebetbuch der Bibel“ und war im MBK-Verlag, Bad Salzuflen, herausgegeben worden. Ich las die 1986 erschienene 12. Auflage1. Dieses Buch sorgte dafür, dass ich den Psalmen die ihnen gebührende größere Aufmerksamkeit schenkte. Bonhoeffer schreibt: „… nur im täglichen Gebrauch wächst man in jenes göttliche Gebetbuch hinein. Bei nur gelegentlichem Lesen sind uns diese Gebete zu übermächtig in Gedanken und Kraft, als dass wir uns nicht immer wieder zu leichterer Kost wendeten.“2

Der Wunsch, dass viele Menschen möglichst täglich einen Psalm lesen und beten sollen, hat mich dazu getrieben, dieses Buch zu schreiben. Der Titel „Täglich rufe ich zu dir“ ist an Psalm 86,3 und Psalm 88,10 angelehnt. Dieser vielleicht dreitausend Jahre alte Gebetssatz will nicht ehrfürchtig wie ein Museumsstück bewundert werden. Er wird, wenn er heute von einem Menschen gebetet wird, der Beginn einer Entdeckungsreise mit unermesslichen Reichtümern und hoffnungsvollen Weiten, aber auch tiefen Abgründen und schmerzhaften Zerreißproben.

Einer der größten englischen Prediger, Charles Haddon Spurgeon (1834–1892), schrieb eine umfangreiche Auslegung der Psalmen mit dem englischen Titel „Treasury of David“. Die drei dicken Bände der deutschen Übersetzung erschienen unter dem Titel „Die Schatzkammer Davids“. Wer die Psalmen täglich betet, empfängt einen riesigen Reichtum aus dieser Schatzkammer.

Die folgenden kurzen Auslegungen zu jedem Psalm sollen als „Appetithappen“ wirken. Sie sollen auf keinen Fall das Lesen und Beten der Psalmen ersetzen. Vielleicht mag sie mancher lieber als Nachtisch zu sich nehmen. Das ist auch recht. Der erklärende Text kann vor oder nach dem Beten des Psalms gelesen werden. Er bietet keine Auslegung des ganzen Psalms. Ein oder zwei Sätze des Psalms sind wörtlich zitiert und auch im Druck hervorgehoben. Wenige Erklärungen sind hinzugefügt. Mein Wunsch ist, dass die Erklärungen zum Psalm hinführen oder an ihn erinnern. Vielleicht empfiehlt es sich, den Psalm morgens nach dem Betrachten eines Bibelabschnitts und nach persönlichem Gebet als Abschluss zu beten. Die Auslegung kann dann zu gegebener Zeit im Laufe des Tages oder am Abend an den Psalm erinnern.

Jetzt möchte ich noch einige Fragen, die sich der ein oder andere im Umgang mit den Psalmen stellen mag, so gut es geht beantworten. Ich hoffe, dass ich damit den Zugang zum Beten der Psalmen erleichtern und Stolpersteine aus dem Weg räumen kann.

Darf ich die Psalmen überhaupt beten?

Vielleicht findet mancher diese Frage überraschend oder gar abwegig. Geht es nicht eher um die Frage, ob ich die Psalmen überhaupt beten will? Nun, die Psalmen sind Gebete des Bundesvolkes Israel. Ich gehöre von meiner Familienabstammung her nicht dazu. Wer gibt mir das Recht, das Buch des Bundes, den Gott mit Israel geschlossen hat, einfach so zu lesen, als gälte es auch mir?

Nein, es versteht sich nicht von selbst. Ich kann mir kein Zugangsrecht anmaßen. Aber durch den Messias Jesus wurde auch allen Menschen außerhalb des Bundesvolkes Israel der Zutritt zur Gemeinschaft mit Gott ermöglicht. Paulus schreibt, dass Israel der Ölbaum ist, in den wir Nichtjuden, wenn wir Jesus vertrauen, wie wilde Zweige eingepfropft werden und so Teil bekommen an der Wurzel und dem Saft des Ölbaums (Römer 11,17). Und wenig später in seinem Römerbrief beschreibt Paulus, was das ganze Alte Testament für diejenigen bedeutet, die durch Jesus in den Bund mit Gott aufgenommen worden sind: „Denn was zuvor geschrieben ist, das ist uns zur Lehre geschrieben, damit wir durch Geduld und den Trost der Schrift Hoffnung haben“ (Römer 15,4).

Die ganze Geschichte Gottes von der Schöpfung über die Bundesschlüsse mit Noah, Abraham, Mose und David zielt auf Jesus Christus. Er ist der Messias für Israel und der Retter für die Völkerwelt. Wenn wir die Geschichte Gottes jetzt im Rückblick betrachten, können wir nicht so tun, als wäre Jesus nicht in die Welt gekommen. Er öffnet uns den Zugang ins Alte Testament. Er macht die Geschichte Gottes mit dem Volk Israel zu unserer Vorgeschichte. Durch Jesus dürfen wir sie jetzt als unsere Geschichte lesen und daraus Mut für den weiteren Weg in der Nachfolge des Messias Jesus schöpfen.

So empfangen wir die Psalmen von Jesus. Er selbst hat sie wie jeder fromme Jude gebetet. Dietrich Bonhoeffer hat eindrücklich beschrieben, wie wir durch Jesus eine besondere Beziehung zu den Psalmen bekommen:

„Die Heilige Schrift ist doch Gottes Wort an uns. Gebete aber sind Menschenworte. Wie kommen sie daher in die Bibel? Wir dürfen uns nicht irre machen lassen: Die Bibel ist Gottes Wort, auch in den Psalmen. So sind also die Gebete zu Gott – Gottes eigenes Wort? Das scheint uns schwer verständlich. Wir begreifen es nur, wenn wir daran denken, dass wir das rechte Beten allein von Jesus Christus lernen können, dass es also das Wort des Sohnes Gottes, der mit uns Menschen lebt, an Gott den Vater ist, der in der Ewigkeit lebt. Jesus Christus hat alle Not, alle Freude, allen Dank und alle Hoffnung der Menschen vor Gott gebracht. In seinem Mund wird das Menschenwort zum Gotteswort, und wenn wir sein Gebet mitbeten, wird wiederum das Gotteswort zum Menschenwort. So sind alle Gebete der Bibel solche Gebete, die wir mit Jesus Christus zusammen beten, in die er uns hineinnimmt und durch die er uns vor Gottes Angesicht trägt, oder es werden keine rechten Gebete; denn nur in und mit Jesus Christus können wir recht beten.

Wenn wir daher die Gebete der Bibel und besonders die Psalmen lesen und beten wollen, so müssen wir nicht zuerst danach fragen, was sie mit uns, sondern was sie mit Jesus Christus zu tun haben. (…) Es kommt also nicht darauf an, ob die Psalmen gerade das ausdrücken, was wir gegenwärtig in unserem Herzen fühlen. Vielmehr ist gerade nötig, dass wir gegen unser eigenes Herz beten, um recht zu beten. Nicht was wir gerade beten wollen, ist wichtig, sondern worum Gott von uns gebeten sein will. Wenn wir auf uns allein gestellt wären, so würden wir wohl auch vom Vaterunser oft nur die vierte Bitte beten [Unser tägliches Brot gib uns heute]. Aber Gott will es anders. Nicht die Armut unseres Herzens, sondern der Reichtum des Wortes Gottes soll unser Gebet bestimmen.“3

Sind die Rachegebete nicht unchristlich?

Erschreckend oft lesen wir Bitten um Rache und Gottes Gericht über die Feinde der Beter: „Denn sie verfolgen, den du geschlagen hast (…). Lass sie aus einer Schuld in die andere fallen, dass sie nicht kommen zu deiner Gerechtigkeit. Tilge sie aus dem Buch des Lebens, dass sie nicht geschrieben stehen bei den Gerechten“ (Psalm 69,27-29). „Tochter Babel, du Verwüsterin, wohl dem, der dir vergilt, was du uns angetan hast! Wohl dem, der deine jungen Kinder nimmt und sie am Felsen zerschmettert!“ (Psalm 137,8-9). Entspricht das dem Evangelium? Ist das nicht eine überholte, unannehmbare religiöse Einstellung?

Dietrich Bonhoeffer schreibt dazu:

„Das Gebet um die Rache Gottes ist das Gebet um die Vollstreckung seiner Gerechtigkeit im Gericht über die Sünde. Dieses Gericht muss ergehen, wenn Gott zu seinem Wort steht, es muss ergehen, wen es auch trifft! Ich selbst gehöre mit meiner Sünde mit unter dieses Gericht. Ich habe kein Recht, dieses Gericht hindern zu wollen. Es muss erfüllt werden um Gottes willen, und es ist erfüllt worden, freilich in wunderbarer Weise.

Gottes Rache traf nicht die Sünder, sondern den einzig Sündlosen, der an der Sünder Stelle getreten ist, den Sohn Gottes. Jesus Christus trug die Rache Gottes, um deren Vollstreckung der Psalm betet. Er stillte Gottes Zorn über die Sünde und betete in der Stunde der Vollstreckung des göttlichen Gerichtes: ‚Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!‘ Kein anderer als er, der den Zorn Gottes selbst trug, konnte so beten. Das war das Ende aller falschen Gedanken über die Liebe Gottes, der die Sünde nicht so ernst nimmt. Gott hasst und richtet seine Feinde an dem einzigen Gerechten, und dieser bittet für die Feinde Gottes um Vergebung. Nur im Kreuz Jesu Christi ist die Liebe Gottes zu finden.

So führt der Rachepsalm zum Kreuz Jesu und zur vergebenden Feindesliebe Gottes. Nicht ich kann von mir aus den Feinden Gottes vergeben, sondern allein der gekreuzigte Christus kann es, und ich darf es durch ihn. So wird die Vollstreckung der Rache zur Gnade für alle Menschen in Jesus Christus.“4

Ist das nicht pure Selbstgerechtigkeit?

Einige Aussagen der Psalmbeter erscheinen uns wie pure Selbstgerechtigkeit: „Du prüfst mein Herz und suchst es heim bei Nacht; du läuterst mich und findest nichts“ (Psalm 17,3). Oder Psalm 18,21-25: „Der HERR tut wohl an mir nach meiner Gerechtigkeit, er vergilt mir nach der Reinheit meiner Hände. Denn ich halte die Wege des HERRN und bin nicht gottlos wider meinen Gott. Denn alle seine Rechte hab ich vor Augen, und seine Gebote werfe ich nicht von mir, sondern ich bin ohne Tadel vor ihm und hüte mich vor Schuld. Darum vergilt mir der HERR nach meiner Gerechtigkeit, nach der Reinheit meiner Hände vor seinen Augen.“

In einer Reihe von Psalmen bekennen die Beter ihre Schuld und bitten um Vergebung. Die sieben Bußpsalmen (6, 32, 38, 51, 102, 130, 143) wurden in den Gottesdiensten der Christenheit von Anfang an regelmäßig gebetet. Aber daneben stehen auch Psalmen, in denen sich die Beter stark auf ihre Unschuld und Gerechtigkeit berufen. Muss sich nicht jeder Beter dessen bewusst sein, dass er nicht ohne Schuld sein kann? Ist die Selbstgerechtigkeit nicht Ausdruck des härtesten Widerstands gegen Gott?

Auch dazu hat Dietrich Bonhoeffer etwas zu sagen:

„Aber nicht das ist die Frage, welche möglichen Motive hinter einem Gebet stehen, sondern ob der Inhalt des Gebetes selbst recht oder unrecht ist. Hier aber ist es deutlich, dass der gläubige Christ durchaus nicht nur etwas von seiner Schuld, sondern auch etwas jedenfalls ebenso Wichtiges über seine Unschuld und Gerechtigkeit zu sagen hat. Es gehört zum Glauben des Christen, dass er durch Gottes Gnade und das Verdienst Jesu Christi ganz gerecht und unschuldig vor Gottes Augen geworden ist, dass ‚nichts Verdammliches an denen ist, die in Christus Jesus sind‘(Röm. 8,1). Und es gehört zum Gebet des Christen, dass es an dieser ihm zuteil gewordenen Unschuld und Gerechtigkeit festhält, sich auf Gottes Wort beruft und für sie dankt. So dürfen wir nicht nur, sondern so müssen wir geradezu, wenn anders wir Gottes Handeln an uns überhaupt ernst nehmen, in aller Demut und Gewissheit beten: ‚Ich bin ohne Tadel vor ihm und hüte mich vor Sünden‘ (Ps.18,24), ‚du prüfst mein Herz und findest nichts‘ (Ps. 17,3). Mit solchem Gebet stehen wir mitten im Neuen Testament, in der Kreuzesgemeinde Jesu Christi.“5

„So münden alle Unschuldspsalmen ein in das Lied: ‚Christi Blut und Gerechtigkeit, das ist mein Schmuck und Ehrenkleid, damit will ich vor Gott bestehn, wenn ich zum Himmel werd eingehn.‘“6

Wir sind also eingeladen, die Psalmen aus der Hand des Herrn Jesus Christus zu empfangen und dankbar zu beten.

Psalm 1

Wie das Knurren der Löwen

Im Zweifelsfall sollte man in einen Zoo gehen, um den Psalm 1 zu verstehen. Und dort direkt zum Löwengehege, möglichst unmittelbar nach der Fütterung. Denn der Psalmbeter gebraucht ein Wort, mit dem man auch das Knurren des Löwen über seiner Beute beschreiben könnte: „Wohl dem, (…) der Lust hat am Gesetz des Herrn und sinnt über seinem Gesetz Tag und Nacht!“ (Psalm 1,2). Ich hatte bisher nie die Möglichkeit, einen Löwen in freier Wildbahn zu beobachten. Aber ich kann mir trotzdem gut vorstellen, wie der Löwe mit genussvollem Knurren das Fleisch von den Knochen des Beutetieres abreißt.

Passt der Vergleich auf uns? Vielleicht kämpfen wir beim Bibellesen eher mit Müdigkeit und versuchen mühsam, die abschweifenden Gedanken wieder einzufangen. Dagegen hilft, den Bibeltext halblaut zu lesen, wie es im Orient bis heute üblich ist. So kann man sich besser konzentrieren. Am Anfang der Psalmen steht eine Gratulation für jeden, der das Wort Gottes genussvoll in sich aufnimmt – ähnlich wie ein hungriger Löwe seine Beute. Wir brauchen Gottes Wort täglich, damit es uns nährt und Lebenskraft gibt.

Aber gratuliert wird auch dem, der nicht „sitzt, wo die Spötter sitzen“ (Psalm 1,1). Ich habe aber Spaß an Spott und Ironie. Ich weiß, dass viele sich durch Ironie verletzt fühlen. Verhindert die Neigung zu Spott und Hohn vielleicht, dass wir dem Wort Gottes mit gebührender Ehrfurcht begegnen? Heute wird alles durch den Kakao gezogen. Der flachste Comedy-Schwachsinn findet begeisterte Zuschauer. Wenn das unser Denken prägt, ist es nicht ohne Folgen für unser Verhältnis zu Gottes Wort. Gott wird uns sein Wort nicht öffnen, wenn wir ihm keinen Respekt entgegenbringen. Die Warnung ist ernst.

Psalm 2

Gottes schallendes Gelächter

Jesus hat gesagt, dass im Himmel Freude über jeden Menschen ist, der von seinen gottlosen Wegen umkehrt und zu Gott nach Hause kommt. Bei diesen himmlischen Freudenfesten wird sicher gelacht. Ganz anders aber als das Lachen aus Liebe und Freude muss das Gelächter Gottes über die Wichtigtuer dieser Welt klingen. Die Massen und die Mächtigen spielen sich selbstherrlich gegen Gott auf. Sie sind stolz darauf, dass sie sich von ihm emanzipiert haben, das heißt übersetzt „aus seiner Hand genommen“ haben. „Aber der im Himmel wohnt, lachet ihrer, und der Herr spottet ihrer“ (Psalm 2,4).

Viele Herrscher haben sich selbst wie Götter aufgespielt. Sie haben den Glauben an den lebendigen Gott, den Schöpfer und Richter der Welt, zu Recht als Bedrohung ihrer eigenen Macht angesehen und bekämpft. Diktatoren und atheistische Philosophen haben verkündigt, dass man bald von Gott und Jesus nichts mehr wissen würde. Atheistische Ideologien haben noch vor wenigen Jahren lauthals das Christentum als Auslaufmodell lächerlich gemacht. Die meisten dieser Großmäuler sind verstummt und vergessen. Im Rückblick schüttelt man den Kopf über ihre dumme Anmaßung.

Immer wenn ich Psalm 2 lese, fühle ich mich in Gottes Welt versetzt und betrachte die Welt aus Gottes Perspektive. Zu dieser Perspektive gehört auch, dass ich das erschreckende Gelächter Gottes über die Wichtigtuer höre, die sich selbst wie Gott aufspielen. Ich schäme mich dann, dass ich mich von diesen anmaßenden Typen beeindrucken oder einschüchtern ließ, die doch in den Augen Gottes nur ein Witz sind. Wir sollten uns Gott öfter mal so vorstellen, wie er über diese Chefs, die sich selbst so wichtig nehmen, höhnisch lacht.

Psalm 3

Wie Gott uns schützt

Ich wette, die meisten Menschen heute meinen, dass es nicht „der Schild“, sondern „das Schild“ heißt. Das Namensschild an der Tür kennt schließlich jeder. Der Schutzschild kommt im Museum bei Ritterrüstungen vor, leider aber auch ganz aktuell bei Polizeieinsätzen gegen gewalttätige Demonstranten. Aber gegen Schusswaffen schützen Schilde nicht. Ist der Vergleich also überholt? Schützt Gott uns heute nicht mehr gegen die gefährlichen Attacken, denen wir ausgesetzt sind? Wie schützt uns Gott denn?

„Aber du, HERR, bist der Schild für mich, du bist meine Ehre und hebst mein Haupt empor“ (Psalm 3,4). Von Ehre redet man in orientalischen Gesellschaften. Wir nennen das heute bei uns Anerkennung, Selbstwertgefühl, Ansehen. Das brauchen wir zum Leben wie die Luft zum Atmen. Leistung, Geld, gutes Aussehen verschaffen uns Ansehen. Wer nichts hat, wer nichts kann, sieht schlecht aus. Der Schöpfer des Universums sieht uns an. Er redet uns an. Wir sind es ihm wert, dass er zu uns spricht. Er erklärt uns seine Liebe. Er steht zu uns.

Er beweist es uns dadurch, dass er sich in Jesus Christus für uns opfert. Er wird geschlagen und gefoltert. Er wird erniedrigt und richtet uns dadurch auf. Gott gibt nicht von oben herab, er gibt von unten herauf. Er hebt unseren Kopf hoch, den wir entmutigt hängen lassen. Am Kreuz ist Gott ganz schutzlos und wird gerade dadurch unser Schutzschild. Im Grab ist er ganz unten, aber der Auferstandene richtet uns auf. Wir sind „wer“. Wir sind geliebt. Wir sind Gott das Opfer wert. So schafft er, dass wir den aufrechten Gang lernen können. So ist er unser Schutz im Stein- und Kugelhagel, der uns niederstrecken will.

Psalm 4

Rückwärts verstehen, vorwärts leben

Dem dänischen Philosophen Sören Kierkegaard wird die Aussage zugeschrieben, das Leben könne man nur rückwärts verstehen, müsse es aber vorwärts leben. Aber auch unterwegs schon können wir begreifen: „Erkennt doch, dass der HERR seine Heiligen wunderbar führt“ (Psalm 4,4).

Der Vorteil des Alters ist, dass man den größten Teil des Lebensweges hinter sich hat und überblicken kann. Ich staune, dass Gott mich zu Beginn meines Dienstes als Vikar in den Nahen Osten in den damals ganz arabischen Teil Jerusalems und ins Westjordanland geschickt hat. Damals hat niemand geahnt, dass die islamische Welt noch einmal eine so große Bedeutung bekommen würde. Ich habe damals viel gelernt, was ich erst später in seinem Wert erkennen konnte. Das war für mich eine wunderbare Führung Gottes.

Schwieriger ist es, die schmerzhaften und traurigen Wegstrecken des Lebens als wunderbare Führungen zu verstehen. Manches Rätsel bleibt ungelöst, solange wir auf der Erde unterwegs sind. Wir werden diese Lebensabschnitte erst verstehen, wenn wir sie aus dem Blickwinkel der Herrlichkeit Gottes sehen.

Wenn ich diesen Psalm bete, vertraue ich mich ganz Gottes guter Führung an. Ich will mich nicht von den Möchtegern-Mächtigen blenden lassen, die sich mit Eitelkeit und Lüge meinen durchsetzen zu können (Psalm 4,3). Es ist ein großes Geschenk Gottes, wenn wir mitten im turbulenten und oft unübersichtlichen Leben im Frieden schlafen und sicher wohnen. Daraus wächst die Kraft, zuversichtlich vorwärts zu leben. „Ich liege und schlafe ganz mit Frieden; denn allein du, HERR, hilfst mir, dass ich sicher wohne“ (Psalm 4,9).

Psalm 5

Scharfe Scheidung

Im Neuen Testament lesen wir, dass das Wort Gottes schärfer als jedes zweischneidige Schwert ist und durchdringt und scheidet. Es „ist ein Richter der Gedanken und Sinne des Herzens“ (Hebräer 4,12). In diesem Psalm spüren wir diese trennende Schärfe schmerzhaft. Im Zentrum steht der Gebetssatz: „Denn du bist nicht ein Gott, dem gottloses Wesen gefällt“ (Psalm 5,5).

Gott ist nicht der sogenannte „liebe Gott“, der zum Kumpan und Komplizen unserer Lügen, Tricks und Ungerechtigkeit wird. Der heilige Gott, der das Böse hasst, ist auch keine überholte Besonderheit des Alten Testamentes, die im Neuen Testament durch einen milden, kompromissbereiten Gott ersetzt würde. Im Gegenteil. Nirgendwo ist die scharfe Ablehnung des „gottlosen Wesens“ so klar und radikal wie in der Kreuzigung Jesu. Dort hat Gott stellvertretend den Gerechten, „der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm die Gerechtigkeit würden, die vor Gott gilt“ (2. Korinther 5,21). Gott sagt radikal Nein zur Sünde, weil er aus Liebe den Sünder von seiner Sünde befreien und mit sich versöhnen will.

Durch den gekreuzigten Jesus hindurch dürfen wir jetzt diesen Psalm beten. Die großsprecherischen Übeltäter, Lügner, Blutgierigen und Feinde des Volkes Gottes werden dem Gericht Gottes ausgeliefert. Dieses Gericht ist aber auch für sie stellvertretend durch Jesus getragen. Auch sie sollen Vergebung der Schuld empfangen, wenn sie darum bitten. Und die Gerechtigkeit des Beters ist keine prahlerische Selbstgerechtigkeit. Aus Gnade macht Gott uns gerecht – wegen Jesus! „Du deckest sie mit Gnade wie mit einem Schilde“ (Psalm 5,13). Die scharfe Scheidung führt zu großer Freude.

Psalm 6

Sogar die Toten danken Gott!

Wenn die Schmerzen so groß werden, dass wir keine klaren Gedanken mehr fassen können; wenn die Sorgen uns so bedrücken, dass wir keine Auswege mehr sehen; wenn die Ängste so würgen, dass wir keine Worte mehr finden, dann hilft uns das geschenkte Gebet. Aus der Hand des Messias Jesus empfangen wir die Psalmen Israels und dürfen Worte in seinem Namen mitbeten. Weil er Schmerzen, Krankheit und Verlassenheit erlitten hat, weil er unsere Schuld getragen hat, dürfen wir in seiner Gegenwart klagen und weinen. Wir müssen vor ihm nicht die Starken spielen, die wir nicht sind.

Und weil wir auch diesen Psalm aus der Hand des Messias Jesus empfangen, dürfen wir uns darauf verlassen, dass auch der Tod uns nicht mehr am Danken hindern kann. David betet noch: „Denn im Tode gedenkt man deiner nicht; wer wird dir bei den Toten danken?“ (Psalm 6,6). Der auferstandene Jesus Christus hat die Todesmauer durchbrochen. Nichts kann uns von ihm scheiden. Auch nicht der Tod, der uns doch von allen trennt, die uns lieb sind. Die Gemeinschaft mit Jesus bleibt im Sterben und über den Tod hinaus bestehen (Römer 8,38-39; Philipper 1,21.23). Jesus ist uns im Leben und im Sterben näher als unsere Angst.

Darum wird schon jetzt unsere Klage in Dank verwandelt. Wenn wir durch den Tod verwandelt werden und den Herrn aller Herren sehen, wie er ist, wird unser Dank zu einem mächtigen Lobgesang anschwellen. Wir werden uns mit den Millionen verbinden, die Jesus, den Retter, preisen. „Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein“ (Offenbarung 21,4).

Psalm 7

Müssen wir Gott wecken?

Kann ich mich trauen, so mit Gott zu reden: „Wache auf, mir zu helfen!“ (Psalm 7,7). Ist Gott eingeschlafen? Meint David, ihn wecken zu müssen? Theologisch korrekt ist das nicht. Aber diese dreiste Weise zu beten beweist das große Vertrauen des Beters: „Auf dich, HERR, mein Gott, traue ich!“ (Psalm 7,2). Wo Vertrauen herrscht, muss man seine Redeweise nicht ängstlich abwägen. Vertrauen ermöglicht Offenheit. Im Vertrauen kann ich meine Sorgen, auch meine Angst und Wut zeigen.

Tatsächlich, es kommt einem manchmal so vor, als wäre Gott eingeschlafen. Die Schüler von Jesus haben tatsächlich erlebt, dass Jesus im Boot schlief, während sie in Sturm und Wellen zu versinken drohten. Vorwurfsvoll fragen sie ihn: „Meister, fragst du nichts danach, dass wir umkommen?“ (Markus 4,38). Wir können mit den Psalmen lernen, so ungeschminkt und unverstellt zu beten. Unser Beten soll dem Gott entsprechen, der uns zum vertrauensvollen Beten einlädt.

Wir lernen durch die Psalmen, Gott in seiner Wirklichkeit zu begegnen; voll Vertrauen, aber auch mit Ehrfurcht. „Gott ist ein gerechter Richter und ein Gott, der täglich strafen kann“ (Psalm 7,12). Der gerechte und strafende Gott ist unser Schutz. Wir verlassen uns darauf, dass er Recht und Gerechtigkeit gegen alle unverschämten Rechtsbrecher in dieser Welt durchsetzen wird. Jesus hat in seiner Bergpredigt versprochen, dass die, die nach Gerechtigkeit hungern, satt werden (Matthäus 5,6). Gott wird sich aber auch gegen uns durchsetzen, wenn wir das Recht beugen. Gott ist in Jesus unser Vater geworden, der für uns sorgt, aber er wird sich nie zum Komplizen unseres Unrechts machen lassen.

Psalm 8

Wunderbare, wichtige Winzlinge

In diesem Psalm ist alles anders als gedacht. Die Klammer – der erste und der letzte Satz – widerspricht unserer normalen Weltbetrachtung: „HERR, unser Herrscher, wie herrlich ist dein Name in allen Landen“