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  Ulrich Eggers– Überrascht von Gott | Unterwegs zu neuem Vertrauen– SCM R.Brockhaus

SCM | Stiftung Christliche Medien

Die Edition

Edition AufAtmen

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ISBN 978-3-417-22714-7 (E-Book)
ISBN 978-3-417-26584-2 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book:
CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

5. Auflage 2014

INHALT

Wirklich überrascht?

1. Ehrlich werden

2. Gottes Liebe entdecken

3. Neue Hingabe wagen

4. Leben über Berg und Tal

5. Stillsein vor Gott

6. Mit Gottes Wirklichkeit rechnen

7. Hilfe in Anspruch nehmen

8. Trotz unserer Sünde

9. Neue Reflexe lernen

10. In Gottes Gegenwart leben

11. Mit neuem Vertrauen aufbrechen

12. Großes wagen

Buchtipps

Meiner Frau Christel, die mein bester Freund ist.

Und meinen Kinder-Überraschungen

Julie, Sonia, Laura, Till und Lasse.

Gott hätte keine besseren Ideen haben können,

um mir seine Liebe zu zeigen.

Wirklich überrascht?

»Das ist bestimmt wieder so eine fromme Floskel!«, haben Sie vielleicht gedacht, als Sie den Titel dieses Buches gelesen haben. Überrascht von Gott? »So was muss der ja sagen – aber was soll man da schon erwarten?« Vielleicht haben Sie mit dem Glauben an Jesus Erfahrungen gemacht, die Ihnen einen ganz anderen Titel nahe legt:

• Enttäuscht von Gott …

• Vergeblich gehofft auf Gott …

• Nicht mehr überzeugt von Gott …

Oder vielleicht gehören Sie zu den Leuten, die sich solche negativen Beurteilungen über Gott gar nicht erlauben mögen? Darf man denn so etwas denken oder fühlen – und am Ende sogar laut sagen? »Gott ist die Liebe« – das hat man doch schließlich seit dem Kindergottesdienst tief in sich aufgesogen. Rutscht einem da nicht der Boden unter den Füßen weg, wenn man seine Zweifel an einer solch grundlegenden Tatsache des Glaubens offen ausspricht?

In diesem Buch möchte ich Ihnen etwas von meinen Erfahrungen auf dem Weg zu einem heilenden Vertrauen erzählen. Es bietet keine theologischen Abhandlungen und geschlossenen Gedankengebäude, sondern Momentaufnahmen aus meinem Leben. Obwohl ich schon lange Christ bin, habe ich heimlich oft daran gezweifelt, dass Gott mich wirklich so liebt, wie ich mich selber nur allzu gut kannte. Dass ich seiner Liebe vertrauen, mich wirklich bedingungslos auf sie verlassen kann, daran habe ich nicht so recht geglaubt. Manche falsche Vorstellung über Gott und den Glauben hatte mir den Blick auf Gottes wahres Wesen verbaut.

Mittlerweile weiß ich, dass es vielen so geht: Unser Vertrauen zu Gott ist nur allzu oft schwindsüchtig und krank.

Manch einer lebt in Wirklichkeit in seiner Gemeinde nur noch wie in einem Folkloreverein zur Konservierung und Pflege frommen Traditionsgutes. Sein Glaube ist nicht mehr lebendig – aber der Mut, daraus Konsequenzen zu ziehen, fehlt ihm. Woanders ist es schließlich auch nicht besser! Nur: Frische und Faszination strahlt solch ein Glaube nicht mehr aus – auch nicht auf mich selber. Aber das muss nicht so bleiben! Ich bin ganz sicher: Alt und müde gewordener Glaube und krankes Vertrauen können heilen und wieder gesund werden.

Auf dem Weg dieser Heilung habe ich mich immer wieder von Erfahrungen und Begegnungen, Gedanken oder Einsichten getroffen gefühlt. Getroffen – und überrascht. Von meinen Erfahrungen berichte ich in einer Serie für das Magazin AUFATMEN. Für dieses Buch sind Teile dieser Gedanken neu zusammengestellt, ergänzt und zugespitzt worden auf die Frage hin, wie unser Vertrauen zu Gott neu wachsen, tiefer und reifer werden und uns am Ende auch aktiv in Bewegung setzen kann. Zugleich geht es mir aber auch darum, die Freude und Leichtigkeit des Glaubens wieder zu entdecken, die Freiheit und den Spaß.

Spaß? Passt dieser Begriff denn überhaupt zusammen mit dem Glauben? Sollen wir nicht »unser Joch auf uns nehmen« und die »Last des Kreuzes« tragen als Christen? Es stimmt: Das Leben verläuft bei niemandem ohne dunkle Tage – Christen haben es da nicht besser. Aber gerade mitten im Auf und Ab des Lebens will der gelebte Glaube uns Hilfe sein und erweist sich als »sanftes Joch« – also als eine gut passende, nicht drückende Tragehilfe für den Alltag … Das Kreuz ist eben nicht eine niederdrückende Botschaft, sondern die überaus gute Nachricht von unserer Befreiung! Gerade durch das Kreuz können wir die Fülle des Lebens erfahren, mit Gelassenheit und Hoffnung in die Zukunft schauen und Zugang zum Lebensstil von Jesus finden, der unser Leben heilen lässt.

Insofern ist dies ein Buch für Zweifler und Müde. Für Leute, die in der Routine ihres Glaubens irgendwann einmal die Leidenschaft und Frische verloren haben und sich manchmal fragen, ob denn wirklich etwas dran ist an all den Glaubensaussagen, die ihnen im Kopf oft nur allzu vertraut sind, die in ihrem Herzen aber keine Leidenschaft und Wärme mehr entfachen können. Und es ist ein Buch für Leute, die das Gute an der »Guten Nachricht« des Evangeliums von Jesus Christus aus dem Auge verloren haben und ihren Blick abwenden wollen vom Grau des Lebens auf die Farben der Liebe Gottes.

Ich würde mich freuen, wenn Sie sich in meinen Erfahrungen und Gefühlen wieder entdecken können und sich mitnehmen lassen auf dem Weg, neue Freude am Glauben zu bekommen. Manches in diesem Buch ist bewusst herausfordernd und provokant formuliert – und Sie dürfen gerne widersprechen oder sich an meinen Sätzen reiben. Vielleicht lesen Sie dieses Buch zusammen mit Ihrem Hauskreis und tauschen sich aus über Ihre unterschiedlichen Erfahrungen. Die Fragen nach jedem Kapitel sollen dafür kleine Gesprächsanstöße liefern.

Vertrauen aufzubauen ist ein lebenslanger Prozess, den wir niemals sicher unter den Füßen haben. Mit dem Lernfach Vertrauen werden wir nicht fertig, hier bleiben wir Schüler. Aber wir können Gott immer wieder darum bitten, uns die Augen zu öffnen für seine unsichtbare Wirklichkeit und uns neu zu überraschen mit seiner Liebe. Und wir können unsere Hoffnung – wie groß unsere (Rest-)Bestände davon auch sein mögen – wie ein kleines Senfkorn in die Erde legen und Gott darum bitten, dass er etwas daraus wachsen lässt. Wenn Sie dieses Buch mit solch einem Gebet und dem Willen lesen, Hoffnung zu pflanzen, dann lesen Sie es richtig.

Ulrich Eggers

1. Ehrlich werden

Obwohl Christen bekannt dafür sind, dass sie auch in unseren modernen Zeiten noch bürgerliche Tugenden wie Verlässlichkeit, Treue oder Ehrlichkeit vertreten, scheint es mir zumindest in Bezug auf die Ehrlichkeit mit sich selbst eine Grauzone zu geben. Nur allzu gerne machen wir uns etwas vor, wenn es um den Zustand unseres Glaubens geht. Wir schwimmen mit im Strom einer Gemeinde oder christlichen Gruppe, verhalten uns so wie die anderen auch – reden wie sie, glauben wie sie, tun das, was man bei uns so tut, und halten für richtig, was man bei uns so für richtig hält.

Erst in Krisenzeiten, wenn unser Kraft sparender frommer Trott plötzlich unterbrochen wird, merken wir, dass unser Glaube gar nicht so viel zu halten scheint, wie wir uns selbst versprochen hatten. Arbeitslosigkeit, Krankheit, Schicksalsschläge oder Zerbruch sind Belastungsproben unseres Glaubens. Aber auch bohrende Fragen von außen oder das Dahindämmern eines in der Kindheit oder im Teenie-Alter begonnenen Glaubenslebens und das plötzliche Aufwachen daraus können solche Einschnitte sein. Auf einmal werden wir gezwungen, in den Spiegel zu schauen – und wir merken, dass unsere alten Antworten nicht mehr halten. Dass wir sie eigentlich selber nicht mehr glauben. Dass wir erneut auf die Suche gehen müssen.

Der Wahrheit über sich selbst ins Gesicht zu schauen, ist unbequem und riskant. Nur allzu gern vermeiden wir das. Deswegen wehren wir auch kritische Fragen an unseren Glauben gerne ab und fühlen uns am wohlsten, wenn wir als Christen unter uns sind.

Dennoch: Alle positive Veränderung beginnt damit, ehrlich zu werden. Und die Überraschung für mich: Gott ist nicht nur ein Freund der bürgerlichen Tugend Ehrlichkeit, sondern er hält es auch aus, wenn wir vor ihm ganz ehrlich werden. Logisch: Er weiß ja längst, wie es in unserem Herzen aussieht und wie es um unsere wirklichen Gefühle, Einstellungen und Ansichten steht. Dass sich längst nicht alles, was wir sagen oder für richtig halten, auch in unseren Taten und in unserem Verhalten zeigt, ist ihm nicht verborgen. Nur wir machen uns gerne darüber etwas vor. Und wir lieben es auch nicht, unseren Zweifeln und heimlichen Ängsten, unserem Zorn und unserem Misstrauen offen ins Gesicht zu schauen. Aber erst wenn wir das schonungslos tun, wird sich an unserer Beziehung zu Gott etwas ändern.

Geistlich korrekt

Der Begriff »political correctness« wird immer dann verwendet, wenn es darum geht, sich – gesellschaftlichen Erwartungen oder Modetrends entsprechend – »politisch korrekt« auszudrücken. Manchmal geht es dabei um Gedanken und Empfindungen, die man besser nicht ausspricht. Männer sind zum Beispiel gut beraten, nicht laut zu sagen, was sie über Frauen am Steuer denken (natürlich deswegen, weil das ja sowieso alles nicht stimmt …). Ausgesprochen werden soll der ideale, der Soll-Zustand – nicht der wirklich empfundene Ist-Zustand.

Meistens macht das sehr viel Sinn. Auch ich würde uns ermahnen, Menschen dunkler Hautfarbe nicht »Neger« zu nennen, Asyl-Bewerber nicht »Asylanten« (weil man da sofort an negativ besetze Worte wie »Querulanten« oder »Simulanten« denkt) oder homosexuell empfindende Menschen nicht Homosexuelle, Schwule oder Lesben (weil Menschen aus mehr als ihrer sexuellen Orientierung bestehen und jeder unabhängig von seiner Persönlichkeit 100 Prozent Würde aus der Tatsache empfängt, dass er von Gott geliebt und gewollt ist). Eine sorgfältige, durchdachte, empfindsame »politisch korrekte« Sprache kann da helfen.

Wenn Sprache allerdings dazu dient, unangenehme oder schwierige Tatsachen zu verbergen, weil man sich ihnen nicht stellen mag, dann kann »political correctness« auch zu einem Übel werden. In unserer überaus toleranten Zeit ist es zum Beispiel riskant geworden, gegen etwas zu sein, was die Mehrheit toleriert. Wer schärfer, enger oder anders urteilt als die tolerante Mehrheit, der stößt erstaunlich schnell auf die schmerzlichen Grenzen einer nahezu grenzenlosen Toleranz. Nicht alles und jedes zu tolerieren, ist eben nicht »politisch korrekt« und darf deswegen ganz intolerant abgestraft werden …

Fragen zu Arche und Abraham …

So scharf wir Christen immer wieder einmal derartige Missstände in der Gesellschaft analysieren, so blind scheinen wir manchmal, wenn es um uns selbst geht. Denn die negativen Auswüchse einer »political correctness« gibt es auch unter uns. »Spiritual correctness« möchte ich es nennen, worunter wir manchmal leiden, »geistliche Korrektheit«. Wir reden laut und volltönend darüber, wie es sein sollte oder angeblich ist – und merken gar nicht, dass wir an der Wirklichkeit vorbeigehen und den Menschen Lasten auflegen, mit denen sie nicht fertig werden.

Da predigt der Pastor im Gottesdienst über die Endzeit und den Himmel. »Nicht wahr«, schmettert er los, »wir freuen uns doch alle auf den Himmel! Mit Paulus möchten wir rufen: ›Es ist eine Lust, abzuscheiden!‹« Niemand widerspricht – und ich sitze hinten in meiner Reihe und denke: »Nein, ich freue mich nicht auf den Himmel. Ich habe derzeit überhaupt keine Lust ›abzuscheiden‹! Und ich bin auch etwas unsicher, was da kommt. Himmel – was ist denn da genau? Wird meine Frau da sein? Werde ich sie wieder erkennen? Und wie wird es da sein? Schon stilmäßig stehe ich nicht so auf goldene Straßen und Juwelenthrone. Mich zieht es eher zum Wasser und in die Natur. Und ich lebe gerne hier mit den Leuten, die ich liebe!« Aber man empfindet sehr stark: Sag das bloß nicht laut, so was erzählt man nicht in der Kirche. Vielleicht bin ich ja der einzige, der hier so empfindet …

Oder da sind die Leute, die häufig sagen: »Jesus hat mir gesagt …«, oder: »Gott hat mir gezeigt …«, oder: »Der Herr will …« Sie scheinen einen ganz direkten Draht zu Gott zu haben. Andere sind darüber irritiert und fragen sich, ob ihnen etwas fehlt und warum sie anscheinend keine Direkt-Botschaften Gottes erhalten. Aber sie wissen intuitiv: »Halte lieber den Mund darüber. Wahrscheinlich bist du der Einzige, dessen Ohren verstopft sind. Da werde ich mir doch zu meinem Schaden nicht auch noch das Mitleid der Leute antun …«

Oder da ist die eine oder andere biblische Szene, die uns aufstößt. Bei der Opferung Isaaks zum Beispiel ruft Gott den Abraham erst im letzten Moment zurück. Und ich denke vielleicht: »Wie kann man das von einem Vater verlangen? Wie wird der Sohn das jemals psychisch überleben? Muss ich das gut finden? Ist das nicht brutal und zynisch? Wie ist dieser Gott wirklich, der so etwas Unverständliches tut?« Aber ich halte meinen Mund – wahrscheinlich haben die anderen alle keine Probleme damit, und so darf man ja vielleicht auch gar nicht über Gott denken, oder? Oder dann ist da noch die Sache mit der Arche Noah: »Kann das wirklich alles so funktioniert haben? Alle Tierarten in ein Schiff? Und dann noch Futter und Wasser und all das? Muss ich das alles so glauben?« Aber wenn ich das laut sage, dann denken die anderen am Ende, ich sei so ein liberaler Waschlappen, der kurz davor ist, vom Glauben abzufallen …

Der Teufel freut sich

Vielleicht denken Sie jetzt: »Sind das nicht zu gewagte Beispiele? Mindestens das eine da hätte er doch weglassen müssen, darüber sollte man lieber nicht so laut reden!« Ich weiß nicht, was Ihre geheimen Fragen sind – und will keine Fragen aufreißen, über die Sie Ruhe gefunden haben. Eins aber ist mir wichtig, gerade wenn es darum geht, neu Gottes Wirklichkeit und Liebe zu entdecken: Es gibt keine Antworten auf schwierige Fragen, wenn wir uns gar nicht erst erlauben, diese Fragen offen zu stellen!

»Geistlich korrekt« den Mund zu halten und seine Fragen zu verschweigen, ist vielleicht bequem, aber immens gefährlich. Wer auf diesen anfänglich vielleicht gut aussehenden Leim kriecht, steht in der Gefahr, Christsein nur zu spielen, Darsteller eines Christen zu sein. Als solche treffen wir dann auf andere Christen-Darsteller. Die große Gefahr aber ist, dass wir dabei – geistlich korrekt – nur andere Schauspieler imitieren, die ihrerseits bemüht sind, ein geistlich korrektes Christsein darzustellen. Wir tun nur so wie die anderen, die auch nur so tun wie die anderen.

Und diese Art »geistlicher Korrektheit« kann ganz unterschiedliche und sehr schwer wiegende Formen annehmen. Vielleicht sind es für Sie nicht ungeklärte Fragen oder Zweifel, die Ihnen im Weg stehen, vor Gott wirklich ehrlich zu werden. Vielleicht ist es Ihr mühsam unterdrückter Zorn gegen Gott, den Sie sich nicht erlauben, offen zu zeigen. Schmerz, Bitterkeit und Enttäuschung aus einer Zeit, die manchmal schon lange zurückliegt, aber immer noch einen drohenden Schatten wirft. Wut und Zorn über Lebensenttäuschung, Trennung, Krankheit, Tod. Die Angst davor, einmal Bilanz zu ziehen und sich einzugestehen, woran ich in meiner Beziehung zu Gott wirklich bin – ob ich tatsächlich glaube, was ich sage, oder es für richtig halte und was es mir wirklich bedeutet. Alles, was wir unter der frommen Oberfläche in uns verborgen halten, entfaltet eine starke negative Dynamik.

Denn wer so lebt, wird nur schwer etwas von der realen Kraft des Glaubens und der tatsächlichen Größe Gottes erfahren können. Er probiert die wirkliche Tragfähigkeit seiner Beziehung zu Gott nicht aus und lebt am Reichtum Gottes vorbei. Im seinem Buch »Gott braucht keine Helden«1 zitiert Magnus Malm den Wüstenvater Johannes Kolobos: »Über keinen freut sich der Teufel so sehr wie über jene, die ihre Gedanken nicht offenbaren.« Warum? Weil der Teufel genau weiß: Leute, die ihre Gedanken nicht offen legen, werden an den Vorstellungen, Mythen, Fragen – und damit auch Grenzen – scheitern, die sie sich selbst stecken. Gott hat gar keine Chance, an meine tiefen Fragen oder Gefühle heranzukommen, weil ich nicht wahrhaftig mit ihnen umgehe. Und das hat massive Folgen für meine Gottesbeziehung.

Keine Freiheit ohne Wahrheit

Ich bin überzeugt, dass es neben der Liebe kaum eine wichtigere Tugend für uns Menschen gibt als die Wahrhaftigkeit. Mut zur Wahrheit scheint mir eine der wesentlichen Eigenschaften weiser Leiter zu sein. Führungskraft definiert sich zu einem wesentlichen Teil aus dem Willen zur Wahrheit, zum (ehrlichen!) Wahrnehmen. Denn Kraft und Notwendigkeit zur Veränderung erwachsen aus dem schonungslosen Hinsehen – und das ist eine seltene Tugend. Allzu viele schauen lieber weg, setzen auf dubiose Hoffnungen, sitzen aus, pflegen Mythen über sich und die Verhältnisse um sie herum. Das stille Leiden am Ist-Zustand ist beherrschbarer und bequemer als der Mut zur Wahrheit. Denn wer Wahrheit wagt, der muss sich auf den Weg machen, der kann sich und anderen nicht mehr Sand in die Augen streuen.

Das gilt auch für den Glauben. Nicht umsonst finden wir in der Bibel Verheißungen, die uns eindringlich zeigen wollen, wie wichtig Wahrheit für unser Leben ist. Der Heilige Geist ist ein Geist der Wahrheit: »Wenn aber jener, der Geist der Wahrheit, kommen wird, wird er euch in alle Wahrheit leiten« (Johannes 16,13).

Und Magnus Malm spricht davon, dass der Heilige Geist eine lebenslange Zusammenarbeit mit mir wünscht: »Sein Ziel ist es, mich zu befreien. Und dies ist nur möglich durch die Wahrheit!«

Die Wahrheit über mein wirkliches Verhältnis zu Gott einzugestehen und auszusprechen war für mich der entscheidende Nullpunkt und Neubeginn meiner Beziehung zu ihm. Deswegen hat das Wahrwerden für mich einen so überragenden Wert. Zu entdecken, dass Wahrheit uns ganz nah an den Herzschlag Gottes bringt und wie sehr die Unwahrheit uns von ihm entfernt und verkümmern lässt, war eine Explosion der Befreiung für mein Leben. Johannes 8,31-32 ist für mich fast so etwas wie mein Lebensvers geworden: »Wenn ihr bleiben werdet an meinem Wort, so seid ihr wahrhaftig meine Jünger und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.«

Wahrheit macht frei! Unwahrheit fesselt uns und hält uns gefangen. Und: Vor Gott können wir uns Wahrheit leisten! Denn er hat seinen Geist gesandt, damit die verborgenen Knoten unseres Lebens endlich ans Licht kommen. Wahrheit ist die wesentliche Überlebenshilfe für unser gesamtes Leben. Wir brauchen diesen Blick in den Spiegel des Heiligen Geistes. Wir haben es dringend nötig, unser reales Abbild zu sehen. Gott kennt es ja längst – aber wir müssen uns aus dem Gefängnis der frommen Fassade, der Unwahrheit und Illusionen befreien lassen. Gerade wenn wir meinen, wir würden glauben – und eigentlich an zehrendem Zweifel und Misstrauen leiden. Und diese Befreiung durch die Wahrheit brauchen wir immer wieder – lebenslang.

Meine Befreiung beginnt mit der Wahrheit über mich und dem Wahrwerden vor mir selbst. Mit der Erkenntnis, dass ich vollkommen wahr sein kann – weil Gott mich ohnehin kennt. Er kann meine Wahrheit aushalten – ich dagegen werde meine Unwahrheit geistlich (und oft auch körperlich) nicht heil überstehen. »Als ich es verschweigen wollte, verschmachteten mir die Gebeine«, hat Luther diese Einsicht Davids aus Psalm 32,3 drastisch übersetzt.

Ich liebe dich nicht, Gott!

Mangelnder Mut zur Wahrheit hat drastische Folgen für unseren Glauben. Ich weiß das aus eigener Erfahrung. Lange Jahre meines Lebens habe ich mehr oder weniger Angst vor Gott gehabt. Das hat keiner gemerkt, und ich habe es nie jemandem verraten. Die christliche Dogmatik und das fromme Programm hatte ich gut verinnerlicht. Aber im Geheimen war mein Leben bestimmt von Unfreiheit vor Gott, von Angst. Ich war überzeugt und engagiert. Aber ich traute mich nicht, in meinem Herz vollkommen wahr vor Gott zu werden. Und das hatte schlimme Folgen, denn statt Hingabe lebte ich komplette Selbst-Kontrolle, hielt mich und meinen Glauben fest in der eigenen Hand.

So etwas kann nach außen recht überzeugend aussehen, aber man wird in diesem Zustand nicht die Freiheit der Liebe Gottes erleben. Warum? Weil man Gott gar nicht wirklich an sich heranlässt.

Für mich platzte der Knoten, als ich es endlich wagte, Gott zu sagen, wie es wirklich um mich steht: »Gott, ich liebe dich nicht! Ich liebe dich nicht so, wie ich meine Frau liebe. Ich liebe dich nicht so, wie die anderen das in den Liedern besingen. Im Gegenteil, ich misstraue dir! Ich habe Angst vor dir! Ich weiß nicht, ob ich genüge. Ich weiß nicht, ob du mich wirklich liebst. Ich weiß nicht, was du mit mir machst, wenn ich all meine über Jahre angestauten Vorbehalte und Fragen loslassen würde, mich wirklich weggebe, hingebe – wenn ich meinen Glauben nicht mehr selber kontrolliere.«

Ein Staudamm brach, als ich Gott endlich die Wahrheit über meinen Mangel an Liebe und Vertrauen offen eingestand. Und der entscheidende nächste Schritt – das kleine Senfkorn von Glauben in mir – war, dass ich in dieser Phase sagen konnte: »Ich habe nichts, Herr. Aber ich begreife es langsam, du kannst mir helfen. Ich brauche dich gerade hier, in diesem verschwiegenen Bereich: Hilf mir, dass ich dich lieben kann! Hilf mir, dass in meine Armut etwas von dir hineinkommt. Hilf mir, dass all das in mir aufblüht, was du versprichst. Ich möchte dich lieben! Ich möchte es endlich erfahren, worüber ich rede! Aber ich schaffe das aus mir heraus nicht!«

Gott begann meine Zweifel und meine Armut zu überwinden, als ich anfing, wahr zu werden. Jetzt begriff ich: Ihm (immer wieder!) Fragen, Zorn, Wut, Trauer, Misstrauen hinzuhalten, ist der einzige Weg, frei zu werden und die Wahrheit Gottes zu erfahren. Von mir wegzusehen, mich als Chef all meiner Fragen und Probleme zu entthronen und auf ihn zu schauen, das ist der Beginn des Glaubens.

Nach und nach zog ein ganz anderes Bild von Gott in mein Leben ein. Als ich eines Tages von einer Sitzung nach Hause fuhr, musste ich am Straßenrand anhalten, weil ich vor Freude und Ergriffenheit kaum weiterfahren konnte. Auf einmal war mir ohne alle Zweifel klar: Dieser Gott liebt mich so, wie ich bin, ganz tief, ganz nackt, ganz wahr. Ich hätte das nie erlebt, wenn ich mich nicht getraut hätte, vor ihm wahr zu werden. »Offiziell« hatte mir ja eigentlich nichts gefehlt. Ich wäre vermutlich weiter reserviert und voller Selbstkontrolle einen tugendhaften, christlich-religiösen Weg gegangen. Aber ich wäre nie in eine innere Nähe und befreite Beziehung zu Gott gekommen, wenn ich den Keller meines Lebens nicht vor ihm geöffnet hätte.

Stolz und Unwahrheit sind Freunde

Aber warum spielen wir überhaupt Christsein vor? Warum verbergen wir unsere wahren Fragen und Zweifel? Manchmal steckt dahinter wohl die Vorstellung, wir müssten uns und andere – und am Ende sogar Gott – vor unseren wahren Gefühlen und kritischen Fragen schützen. Vielleicht ist mein Misstrauen ja am Ende berechtigt – also sollte ich es besser gar nicht erst darauf ankommen lassen. Vielleicht überfordern unsere Zweifel und Fragen Gottes Möglichkeiten – und am Ende gibt es vielleicht keine guten Antworten, und wir werden enttäuscht.

Aber letztlich ist das natürlich eine hoffnungslose Überschätzung unserer Fähigkeiten – und eine maßlose Unterschätzung Gottes. Unseren Glauben aus eigener Kraft festhalten zu wollen – das endet automatisch in toter Religion, in einem Christsein ohne Gott. Auf diese Weise bringen wir uns um die Freude und Geborgenheit, die wir erleben, wenn wir uns Gott zumuten und uns loslassen – wenn wir ein Christsein wagen, das auch mit offenen Fragen vertrauen kann.

In Wirklichkeit ist es doch so: Unsere Fragen, unser Misstrauen, unser Zorn, all diese Dunkelheit in uns sind für Gott kein Problem. Aber unsere glatte, selbst beherrschte Fassade, die ist eins. Jesus nennt die Pharisäer im Neuen Testament »übertünchte Gräber« (Matthäus 23,27). Außen hell, innen dunkel. Aber was ist das Negative an Pharisäern? Dass es in ihnen finster aussieht? Nein! Gott hat kein Problem mit unserer Dunkelheit. Dafür ist Jesus gekommen. Jesus ist das Licht in unserer Dunkelheit. Gott hat kein Problem mit unserer Armut, sondern mit unserem scheinbaren Reichtum.

Und diese übertünchte Fassade, diese fromme Maske, die hat in ihrem tiefsten Grund wohl vor allem mit unserem Stolz zu tun. Das, was wir uns selbst – milde gestimmt – als Schwäche durchgehen lassen, ist einfach Stolz. Stolz vor den anderen, der stark und Herr der Situation sein will. Stolz vor Gott, der es nicht aushalten kann, immer wieder auf ihn angewiesen zu sein, immer wieder an sich selbst zu scheitern. Stolz, nicht wieder Bittsteller oder Hoffender zu sein. Stolz, der selber kontrollieren, selber festhalten, selber die Grenzen setzen, selber stark sein will. Dieser Stolz ist die Quelle unserer Unwahrheit.

Glaube ist immer ein Wagnis