Das Buch 1 – Toni der Hüttenwirt

Das Buch –1–

Toni der Hüttenwirt

Ein neuer Anfang

Roman von Friederike von Buchner

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74091-581-0

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»Mei, Liesel, war das eine Hitze heute Nacht!«, stöhnte Heinz.

»Erst mal guten Morgen!«, lächelte Elisabeth, die Liesel gerufen wurde.

»Entschuldige, mein Madl!«

Heinz nahm seiner Frau das große Tablett ab und stellte es auf den Küchentisch. Er nahm sie in den Arm.

»Ein herzliches guten Morgen!«, sagte er.

»Dir auch einen wunderschönen Tag«, antwortete sie.

Sie küssten sich.

Dann trug Heinz das große Tablett mit dem Frühstück hinaus auf die Terrasse, an die sich ein weitläufiger Garten anschloss.

Während Liesel den Tisch deckte, kurbelte Heinz die Markise ganz aus.

»Noch ist es ein bisserl kühl, aber in einer halben Stunde haben wir Sonne. Die Hitze hält jetzt schon drei Wochen an. Beim nächsten Regen tanze ich barfuß im Garten.«

Liesel goss Kaffee ein und sie frühstückten.

Um diese Zeit war es noch sehr still in der kleinen Siedlung des Dorfes unweit von München. Die Stille wurde gestört durch ein Auto.

»Wer kann das sein? Alle Nachbarn sind doch in Urlaub.«

Heinz Gerber stand auf und ging um die Hausecke nach vorn. Liesel hörte, wie er mit jemanden sprach. Wenig später kam er mit Emil zurück.

»Grüß Gott, Emil«, begrüßte Liesel ihn herzlich.

Emil reichte ihr eine Tüte mit Brötchen.

»Mei, die Polizei, dein Freund und Helfer!«, sagte Liesel in bester Laune. »Liefert ihr jetzt Frühstücksbrötchen aus? Hattest du Nachtschicht? Magst du einen Kaffee? Machst du deine Runde in der Nachbarschaft, bevor du dich schlafen legst? Wie schaffst du das, tagsüber zu schlafen? Wir finden nicht mal nachts Ruhe bei der Hitze.«

»Liesel, ja, ich hatte Nachschicht und Ja, ich nehme einen Kaffee«, antwortete Emil.

Sie kannten Emil schon, als er ein kleiner Bub war. Seine Eltern hatten das Nachbarhaus gekauft. Er war jetzt etwas über dreißig und verlobt. Der Hochzeitstermin stand fest und er wohnte bereits mit seiner Verlobten zusammen. Während seine Eltern in Urlaub waren, kam er regelmäßig vorbei, um bei Heinz und Liesel die Post seiner Eltern abzuholen.

Er setzte sich. Liesel schenkte ihm Kaffee in.

»Magst du etwas essen?«, fragte sie.

»Danke, aber ich bin dienstlich hier«, sagte er und rieb sich das Kinn.

Liesel und Heinz hielten in ihren Bewegungen inne und schauten ihn überrascht an.

Emil errötete und trank schnell einen Schluck Kaffee.

»Was gibt’s?«, fragte Heinz.

»Nun red’ schon, Bub!«, drängte ihn Liesel.

Emil räusperte sich.

»Als die Meldung hereinkam, dachte ich, ich hole euch nicht mitten in der Nacht aus dem Bett. Entgegen jeder Dienstvorschrift, aber natürlich mit dem Einverständnis des Kollegen, der mit mir Nachtdienst hatte, holte ich gleich Erkundigungen ein. Also, Vroni geht es gut. Im Augenblick schläft sie.«

Emil nahm aus seiner Jackentasche ein Blatt Papier und reichte es Heinz.

»Das ist die Durchwahl der Station, auf der Vroni liegt. Die diensthabende Schwester heißt Traudel. Der behandelnde Arzt ist Doktor Wagner.«

»Der Himmel stehe uns bei!«, schrie Liesel. »Hatte Vroni einen Unfall? Hoffentlich ist sie nicht schwer verletzt! Ich habe die letzten Tage immer gesagt, bei dem Wetter fahren alle wie die Deppen.«

Sie war bleich geworden.

Emil schüttelte den Kopf.

»Also noch einmal, Vroni geht es gut. Sie schläft im Augenblick. Wahrscheinlich wird sie morgen wieder entlassen.«

»Heinz, wir müssen sofort anrufen und hinfahren« sagte Liesel. »Das arme, arme Madl!«

Sie war aufgesprungen und wollte ins Haus stürzen.

Emil bekam sie am Arm zu fassen und drückte sie zurück auf den Stuhl.

»Liesel, du kannst jetzt nix machen. Vroni schläft. Lasst mich erzählen, was passiert ist!«

Heinz rückte mit seinem Stuhl dicht neben seine Frau und legte ihr den Arm um die Schultern. Ihre Ehe war kinderlos geblieben. So hatten sie damals keinen Moment gezögert, Veronika, die Vroni genannt wurde, bei sich aufzunehmen und sich um sie zu kümmern, als wären sie ihre Eltern. Später wurden sie für Vronis Zwillinge, Maren und Birger, Ersatzgroßeltern. Die Zwillinge besuchten ein Internat und kamen nur an den Wochenenden heim. Jetzt im Hochsommer geschah das selten. Dann waren sie bei ihrer Mutter. Vroni war eine gelernte Hotelkauffrau, hatte sich aber mit einer Würstchenbude selbstständig gemacht. Sie verkaufte Weißwürste auf jeder Kirmes in kleinen Dörfern im Umkreis bis zu fünfzig Kilometer. Die großen Volksfeste ließ sie aus. Dort hatte sie zu viel Konkurrenz.

»Was ist mit ihr?«, stieß Liesel fast tonlos hervor.

»Auf dem Parkplatz mit den Wohnmobilen der Schausteller hat es heute Nacht gebrannt.«

»Hat sie schlimme Verbrennungen?« Liesel wurde panisch.

»Nein, beruhige dich, Liesel! Sie hat nur eine Rauchvergiftung. Der Wohnwagen neben Vronis Wohnmobil fing Feuer und das Feuer griff über. Vroni wurde rechtzeitig herausgeholt.«

»Herr im Himmel! Maria und Josef!«

Tränen traten Liesel in die Augen. Sie nahm ihr Taschentuch und wischte sich die Augen.

»Heinz, wir müssen auf der Stelle etwas unternehmen. Lass mich los!«

Heinz verstärkte den Griff um die Schultern seiner Frau.

»Liesel, lass den Emil doch zu Ende erzählen«, sagte er.

Liebevoll strich er ihr über das Haar.

Emil berichtete weiter.

»Wie gesagt, im Wohnwagen neben Vroni war ein Brand entstanden. Zum Glück waren die Besitzer unterwegs. Die Feuerwehr vermutet einen technischen Defekt. Aber das wird noch näher untersucht. Es geschah nach Mitternacht. Vroni hatte sich schlafen gelegt. Ein Fenster stand offen. Qualm und Rauch zogen dort hinein. Vronis Wohnmobil fing an der Seite Feuer. Das Feuer wurde von anderen Schaustellern bemerkt, die noch im Freien beisammensaßen. Sie fingen sofort an zu löschen. Zwei holten Vroni aus ihrem Wohnmobil. Die Feuerwehr war schnell vor Ort. Es soll nur wenige Minuten gedauert haben, bis der Brand gelöscht war. Vroni wurde mit dem Krankenwagen nach München ins Krankenhaus gebracht. Sie hat eine leichte Rauchvergiftung und bekam Sauerstoff. Als ich die Meldung bekam, rief ich sofort an. Man sagte mir, dass sie schlafe.«

»Das arme, arme Madl«, stöhnte Liesel.

»Ich rufe jetzt das Krankenhaus an«, sagte Heinz. »Du bleibst sitzen und wartest!«

»Lass mich anrufen, Heinz!«

»Nix da, du bist viel zu aufgeregt. Du bleibst bei Emil. Emil, pass auf Liesel auf! Wenn es sein muss, lege ihr Handschellen an.«

»Dass du in einer solchen Situation noch scherzen kannst!«, fuhr Liesel ihren Mann an.

Heinz bewahrte die Ruhe.

»Du hast doch Emil gehört. Vroni hat eine leichte Rauchvergiftung und sie schläft. Um dich mache ich mir mehr Sorgen. Ich verstehe, dass du geschockt bist. Aber wir müssen jetzt die Nerven behalten und stark sein. Vroni braucht uns.«

»Ja, das Madl braucht uns«, seufzte Liesel.

Im Grunde war sie froh, dass Heinz die Sache in die Hand nahm. Sie war viel zu aufgeregt.

Heinz Gerber ging in sein Arbeitszimmer. Er schloss die Tür, während er telefonierte.

Für Elisabeth vergingen die Minuten wie Stunden.

Endlich kam Heinz zurück.

»Ich habe mit der Stationsschwester gesprochen. Vroni schläft noch. Sie gab uns als nächste Angehörige an. Und sie ließ extra notieren, dass Maren und Birger nichts davon erfahren sollen. Sie will nicht, dass sich die Kinder aufregen. Wir können jederzeit vorbeikommen. Doktor Wagner ist der Stationsarzt. Er möchte uns sprechen, bevor wir zu Vroni ins Krankenzimmer gehen.«

»Das hört sich nicht gut an, Heinz. Vielleicht ist unser Madl doch schwerer verletzt? Ach, Heinz, ich habe solche Angst um unsere Vroni. Was hätte da alles passieren können! Daran will ich gar nicht denken.«

»Das sollst du auch nicht, Liesel. Tatsache ist, dass sie Glück hatte. Die Schwester sagt, wir können beruhigt sein. Vroni hat ein Schlafmittel bekommen und wird bestimmt bis Mittag schlafen.«

»Kann ich eine zweite Tasse Kaffee bekommen?«, fragte Emil. »Und ein Brötchen nehme ich jetzt auch.«

Das brachte Liesel kurz auf andere Gedanken. Sie holte Teller und Besteck. Heinz fiel auf, dass Emil betont langsam aß. Dabei erzählte er von seiner Verlobten und den Hochzeitsvorbereitungen.

»Die Einzelheiten werden wir mit ihren Eltern und meinen Eltern bereden, wenn sie aus dem gemeinsamen Urlaub zurück sind. Ich bin gespannt, wie sie sich vertragen haben. Aber ich denke, sie müssten sich gut verstehen. Es war auch ihre Idee, zusammen eine Kreuzfahrt zu unternehmen.«

Nachdem er mit dem Frühstück fertig war, verabschiedete er sich. Heinz brachte ihn zum Auto. Er schüttelte ihm die Hand.

»Danke, dass du dich der Sache angenommen hast und persönlich vorbeikamst. Der Gang ist dir nicht leichtgefallen.«

»Es gehört zu meinem Beruf, Angehörigen auch schlechte Nachrichten zu überbringen. Wir Polizisten werden darauf geschult. Doch ich gebe zu, bei Fremden ist es leichter als bei Menschen, die man kennt, schätzt und mit denen man befreundet ist. Ich bin froh, dass Vroni nicht mehr passiert ist.«

»Das bin ich auch. Dem Himmel sei Dank!«

»Ja, sie hatte einen Schutzengel. Ich komme heute Abend noch einmal bei euch vorbei, bevor ich zum Dienst fahre.«

»Danke, Emil, aber du wirst uns nicht antreffen. So wie ich Liesel kenne, wird sie keinen Schritt von Vronis Bett weichen.«

Emil lächelte.

»Das verstehe ich. Okay, wenn ihr Hilfe braucht, meldet euch!«

»Das werden wir, Emil.«

Heinz rieb sich das Kinn.

»Was ist mit dem Wohnmobil, Emil? An wen muss ich mich wenden? Es muss doch wegtransportiert werden. Und der Schaden muss der Versicherung gemeldet.«

»Das ist richtig, Heinz. Am besten rufst du euren Versicherungsagenten an. Er soll sich um den Schaden kümmern. Natürlich wird er eine Schadensmeldung aufnehmen. Verabredet euch mit ihm auf dem Parkplatz, wo das Wohnmobil steht. Bei der Gelegenheit könnt ihr Vronis persönliche Sachen mitnehmen. Es wird alles verrußt und verqualmt sein.«

»Das nehme ich auch an. Ich melde mich bei dir. Vielleicht können wir zusammen hinfahren, während Liesel bei Vroni im Krankenhaus ist. Ich möchte verhindern, dass sie das beschädigte Wohnmobil sieht«, überlegte Heinz.

»Ruf mich am späten Nachmittag an! Bis dahin habe ich ausgeschlafen.«

Die beiden Männer reichten sich die Hand und nickten sich zu. Dann fuhr Emil davon. Heinz sah ihm nach, bis er an der nächsten Kreuzung abgebogen war.

Liesel hatte das Frühstücksgeschirr in der Küche auf den Tisch gestellt. Heinz hörte, wie sie im Obergeschoß hin und her rannte. Er ging die Treppe hinauf.

»Heinz, ziehe dich um!«, rief sie ihm zu. »Wir müssen anständig aussehen, wenn wir mit dem Doktor reden. Ich habe dir deinen Anzug aufs Bett gelegt. Ich richte nur schnell eine Tasche für Vroni. Sie wird Waschzeug und saubere Kleidung brauchen. Dann ziehe ich mich auch schnell um.«

Liesel war nervös und voller Hektik.

Heinz nahm sie in den Arm.

»Liesel, ruhig! Hast du nicht gehört? Vroni geht es gut.«

»Pah, gut! Das Madl hat eine Rauchvergiftung«, schrie Liesel.

Heinz sah ihr tief in die Augen.

»Liesel, du beruhigst dich jetzt. Wir bekommen das hin.«

»Ja, ja! Jetzt zieh dich endlich an«, sagte sie ungeduldig.

»Das mache ich. Aber ich weigere mich, einen Anzug anzuziehen. Dazu ist es viel zu heiß. Eine leichte Hose und ein Hemd, das reicht. Zieh dir besser auch was Leichtes an.«

Liesel sah es ein.

Nachdem er sich umgezogen hatte, rief Heinz die Versicherung an und meldete den Unfall.

Dann fuhren sie los.

Eine Stunde später waren sie in München und saßen im Warteraum der Station. Doktor Wagner hatte sie kurz begrüßt. Nach der Visite wollte er ausführlich mit ihnen sprechen.

»Was er wohl will? Auf der einen Seite sagt er, Vronis Verletzungen seien nicht schwer. Auf der anderen Seite sollen wir sie nicht sehen, bevor er mit uns gesprochen hat. Heinz, das gefällt mir ganz und gar nicht«, sagte Liesel. Sie war sehr beunruhigt.

»Er wird seine Gründe haben. Warte ab und habe Geduld!«

»Abwarten? Geduld? Du hast vielleicht Nerven, Heinz!«, fuhr ihn Liesel an.

Heinz tätschelte ihr die Wange. Er ging zum Automaten und holte zwei Becher Kaffee.

Sie hatten den Kaffee noch nicht ganz ausgetrunken, als Schwester Traudel kam.

»So, der Doktor hat jetzt Zeit für Sie. Nehmen Sie ihren Kaffee mit! Ich habe dem Doktor gerade auch Kaffee gebracht.«

Schwester Traudel brachte sie zum Arztzimmer.

Der Arzt begrüßte sie freundlich. Er war groß und schlank. Er hatte dunkles Haar mit ersten silbergrauen Strähnen an den Schläfen. Er bat sie, in der kleinen, aber bequemen Sitzecke Platz zu nehmen.

»Hier lässt sich besser reden, als wenn ich hinter dem Schreibtisch throne.«

Er schenkte sich Kaffee aus der Thermoskanne ein.

»Ist es schlimm mit Vroni?«, fragte Liesel.

Angst und Besorgnis standen ihr deutlich im Gesicht. Sie kämpfte, ihre Stimme unter Kontrolle zu halten.

Der Arzt lächelte.

»Was den Unfall betrifft, geht es ihr gut. Ich möchte sie noch bis Morgen hierbehalten. Dann kann sie nach Hause.«

»Aber…«, fiel ihm Heinz in Wort.

»Aber ich habe den Eindruck, ihre Tochter ist entkräftet, mehr noch, sie ist völlig erschöpft.«

»Sie ist nicht unsere Tochter«, klärte Heinz den Arzt auf. »Vroni ist die Tochter einer Jugendfreundin meiner Frau. Es gab Differenzen in ihrem Elternhaus, die ich nicht näher ausführen möchte. Wir haben Vroni aufgenommen. Wir sind kinderlos. Wissen Sie, Vroni wusste nicht wohin, als sie aus dem Ausland zurückgekommen war.«

»Heinz, Vronis Lebensgeschichte langweilt den Herrn Doktor bestimmt«, schnitt Liesel ihm das Wort ab.

»Aber er muss sich doch ein Bild machen können.«

Doktor Wagner lächelt milde.

»Sie müssen mir keine Einzelheiten mitteilen. Ich habe mich mit der Patientin ein wenig unterhalten. Dabei musste ich schnell einsehen, dass man mit ihr nicht über ihr Privatleben sprechen kann. Es scheint sie zu belasten. So viel weiß ich: Sie hat Kinder, Zwillinge, die im Internat sind. Sie hat sonst niemanden außer Ihnen, Herr und Frau Gerber. Sie ist selbstständig und scheint enorm viel zu arbeiten.«

»Sie hat Hotelfachfrau gelernt«, sagte Liesel. »Ihre Kinder waren ihr wichtiger als eine Karriere. Sie wollte immer Zeit für die Kinder haben, wenn sie ihre Mutter brauchten. Deshalb hat sie sich selbstständig gemacht mit einer mobilen Weißwurstbude.«

»Vom Frühsommer bis in den Herbst hinein«, fuhr Heinz fort, »tingelt sie von Volksfest zu Volksfest. Im Winter steht sie auf den Herbst– und Weihnachtsmärkten. Lediglich um die Faschingszeit hat sie es ruhiger, bis auf das Wochenende, an dem die großen Umzüge stattfinden.«

»Die Zwillinge besuchen ein Internat«, sagte Liesel. »Dort übernachten sie an vier Tagen. Freitags nach der Schule fahren sie zum Wochenende nach Hause.«

»Meistens ist ihre Mutter nicht da. Aber wir sind da. Wir sind in die Rolle der Großeltern hineingewachsen«, erklärte Heinz.

»Es macht uns viel Freude, die Kinder um uns zu haben. Wir sehen in Vroni, so nennen wir Veronika, eine Tochter«, sagte Liesel.

»Langsam rundet sich das Bild«, murmelte der Arzt. »Die Patientin hat sich wohl jahrelang unter Druck gesetzt, hat gearbeitet und gearbeitet. Bereits jetzt denkt sie wieder nur an die Arbeit. Sie ist erschöpft. Ich habe ihr geraten, eine Kur zu beantragen. Das sei unmöglich, antwortete sie. Sie könne es sich nicht leisten, einige Wochen nicht zu arbeiten. Urlaub sei ein Fremdwort für sie. Sie brauche das Geld. Aber ich sagen Ihnen, lange wird sie nicht mehr durchhalten. Sie ist völlig erschöpft. Ich bin in Sorge, dass ihr Körper bald nicht mehr mitmacht. Sie braucht dringend eine Erholungsphase.«

»Herr Doktor, damit rennen Sie bei uns offene Türen ein. Aber in dem Punkt ist Vroni stur. Sie lässt sich nicht von uns helfen, finanziell meine ich. Das Internat für die Kinder ist teuer. Und Millionärin wird man mit der Würstchenbude wahrlich nicht. Außerdem braucht sie alle paar Jahre wieder ein neues Wohnmobil. Sie hat jetzt den dritten Gastroanhänger. Das ist ein Verkaufswagen mit Kühleinheit und Kocheinheit. Das ist wie ein eigener Laden. Die Leute schauen schon drauf, wer modern ist. Die Konkurrenz ist hart.«

Der Arzt nickte.

»Das verstehe ich alles, liebe Familie Gerber. Aber die Patientin hat Untergewicht. Sie muss kürzertreten. Als Arzt kann ich da wenig machen. Deshalb spreche ich mit Ihnen. Ich weiß als Mediziner, welche Krankheiten bei chronischer Überlastung auftreten. Vielleicht können Sie ihren ganzen Einfluss gelten machen. Sie sollte an die See oder in die Berge fahren. Das Bergklima ist vielleicht noch besser für sie als das Reizklima an der See.«

Liesel und Heinz warfen sich einen Blick zu.

»Wir werden unser Möglichstes versuchen, Herr Doktor«, sagte Heinz Gerber. »Wir werden versuchen, Vroni in die Berge zu schicken. Ich habe einen Freund in einem kleinen Ort in der Nähe von Kirchwalden. Waldkogel heißt das kleine Dorf.«

»Oh, Waldkogel, den Ort kenne ich. Ich gehe dort oft klettern«, sagte Doktor Wagner. Ein Lächeln erhellte sein Gesicht. »Waldkogel ist ein wunderschöner Ort mir freundlichen Menschen, ganz ohne Hektik und Touristenrummel.«

»Wir werden versuchen, Vroni dort einige Wochen unterzubringen. Im Augenblick kann sie ohnehin nicht auf Jahrmärkte. Ein neues Wohnmobil muss erst geliefert werden. Das kann dauern. Sie wissen, wie das ist, mit den Versicherungen.«

»Ja, das kann ich mir vorstellen. Im Falle eines Brands wird zuerst die Ursache ermittelt. Das geht nicht von heute auf morgen. Dann kann sich die Bearbeitung hinziehen, bis die Versicherung endlich zahlt. Überreden Sie die Patientin, diese Zeit zur Erholung zu nutzen! Wenn sie das nicht tut, wird sie bald wieder meine Patientin sein. Machen Sie ihr das klar!«

Doktor Wagner stand auf. Das Gespräch war beendet. Heinz und Liesel erhoben sich.

»Danke, Herr Doktor!«, sagte Liesel und schüttelte ihm die Hand. »Sie sind ein guter Arzt.«

Er lächelte und begleitete sie bis zum Krankenzimmer. Dabei erzählte er, dass er mit dem allseits beliebten Hausarzt in Waldkogel, Doktor Martin Engler, befreundet war.

Heinz und Liesel betraten das Krankenzimmer.

»Oh, da seid ihr«, rief Vroni aus. »Ich habe versucht, euch zu erreichen. Aber ich kann die Schwestern nicht so oft belästigen. Ich hatte nur ein Nachthemd an, als sie mich einlieferten …«

»Keine Sorge, Vroni!«, sagte Liesel. »Das habe ich mir gedacht. Hier in der Tasche ist das Nötigste.«

»Oh, Liesel, du bist ein Schatz.«

»Sag uns erst einmal, wie es dir geht«, sagte Heinz und setzte sich zu ihr aufs Bett.

»Gut geht es mir. Ich hatte Glück. Allerdings scheint mein Wohnmobil einen Totalschaden zu haben. Ich brauche ein Handy, damit ich die Versicherung anrufen kann. Dann muss ich mich natürlich nach einem neuen Wohnmobil umsehen. Kann mir einer von euch sein Handy leihen, bis ich ein neues habe?«

Heinz Gerber reagierte sofort.

»Tut mir leid, Vroni! In der Eile haben wir vergessen, die Handys einzustecken.«

»Stimmt«, sprang ihm Liesel bei. »Was waren wir aufgeregt, als Emil heute Morgen kam und uns alles erzählte! Hauptsache, du bist nicht verletzt.«

»Ja, ich hatte wohl eine kleine Rauchvergiftung. Aber ich habe mich schnell erholt und habe gut geschlafen. Ich denke, sie gaben mir ein Schlafmittel. Aber jetzt fühle ich mich blendend. Ich weiß gar nicht, warum ich noch eine Nacht hierbleiben soll.«

Heinz und Liesel warfen sich einen Blick zu.

»Vroni, wir wollen dir nichts verheimlichen. Wir haben mit Doktor Wagner gesprochen. Er ist der Meinung, dir gehe es gar nicht so gut. Du seist erschöpft und zu wenig wiegen würdest du auch.«

Veronika lacht laut.

»Ihr braucht nicht weiterzusprechen. Er wollte mir ins Gewissen reden. Sicher meint er es gut. Aber er ist Arzt und lebt in einer anderen Welt. In seiner Welt muss er nicht um jeden Euro kämpfen. Er kann sich einen Sommerurlaub leisten und im Winter Ski fahren. Und was mein Gewicht angeht, ich war schon immer schlank. Das müsst ihr zugeben. Ich esse genug, das wisst ihr. Vielleicht hat er die Vorstellung, dass eine Frau, die Würstchen verkauft, dick, rund und rotbäckig sein muss. Vergesst, was er gesagt hat! Mir geht es gut. Ich will nur hier raus und mich um meine Angelegenheiten kümmern. Ich bin selbstständig. Da gibt es keine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall.«

Vronis Stimme war immer lauter geworden.

»Reg dich nicht auf, Vroni!«, versuchte Liesel sie zu beruhigen.

»Pah, ich rege mich aber auf, Liesel. Dieser Weißkitteltyp hat doch keine Ahnung vom Leben. Und wie es als alleinstehende Mutter mit zwei Kindern ist, schon gar nicht. Er hat gut reden. Jede Stunde, die ich hier eingesperrt bin, bremst mich. Ich werde mich jetzt anziehen, dann könnt ihr mich mit nach Hause nehmen.«

»Du kannst nicht einfach gehen, Veronika«, sagte Heinz.

Wenn er sie mit Veronika ansprach, war das ein Zeichen, dass er ärgerlich war.

»Natürlich kann ich das. Das ist ein Krankenhaus und kein Gefängnis. Niemand kann mich gegen meinen Willen festhalten.«

»Sicherlich nicht. Aber einfach so verschwinden kannst du nicht. Du musst unterschreiben, dass du gegen ärztlichen Rat das Krankenhaus verlässt.«

»Pah, na und? Davor habe ich keine Angst«, erwiderte Vroni.

Sie kippte die Reisetasche auf dem Bett aus.

»Ich verschwinde kurz im Bad. Kannst du inzwischen den Rest wieder in die Tasche stopfen, Liesel? Bitte!«

Liesel atmete tief durch. Sie stellte sich ans Fußende des Bettes.

»Veronika, das werde ich nicht. Du bleibst hier. Ich helfe dir nicht, dich unglücklich zu machen.«

»Wieso sollte ich mich unglücklich machen?«

»Weil du, sollte dir etwas passieren, Schwierigkeiten mit deiner Krankenkasse bekommst. Du darfst nicht nur an dich denken. Denke an die Kinder!«

Das saß. Vroni setzte sich seufzend auf die Bettkante.

»Es ist doch nur eine Nacht, Vroni«, sagte Liesel sanft.

»Ihr habt Birger und Maren doch nichts gesagt?«

»Nein, das haben wir nicht.«

»Gut, ich will nicht, dass sie sich sorgen oder ängstigen. Sie haben doch nur mich. Natürlich haben sie euch. Ihr wisst, wie ich das meine. Andere Kinder haben einen Vater.«

»Einen Vater haben Maren und Birger auch, sonst würde es sie nicht geben« sagte Heinz.

Vroni seufzte.

»Okay, ich bleibe bis morgen. Aber nur euch zuliebe und unter der Bedingung, dass ihr den Kindern nicht sagt, dass ich im Krankenhaus bin.«

»Wir sehen sie ohnehin erst am Freitagnachmittag«, sagte Liesel. »Aber ganz verschweigen kannst du es ihnen nicht.«

»Ja, ich weiß, ich möchte nur nicht, dass sie einen Schock bekommen. Ich werde mit ihnen sprechen. Und in der anderen Sache muss ich auch mit ihnen reden. Ein Unfall bringt einem zum Nachdenken.«

»Stimmt! Das predigen wir dir schon lange.«

»Ich weiß. Aber ich wollte sie schonen. Und sie waren noch zu klein.«

»Das sind sie jetzt nicht mehr. Sie werden bald vierzehn«, sagte Heinz.

»Ja, ich werde mit ihnen sprechen. Ehrenwort! Aber alles zu seiner Zeit. Zuerst muss ich hier raus. Es gibt so viel zu erledigen. Ich will mit der Versicherung verhandeln, ob sie die Mietkosten für ein Wohnmobil übernehmen. Dann könnte ich in zwei oder drei Tagen weiterarbeiten. Ich habe auch Angst, dass mir die Stellplätze verloren gehen. Die Veranstalter legen keinen Wert auf unzuverlässige Schausteller.«

»Veronika, du bist keine Schaustellerin. Du verkaufst Weißwürste. Außerdem sage ich dir schon lange, dass du in deinen Beruf zurückgehen solltest«, tadelte sie Liesel.

»Für das Thema ist jetzt wirklich nicht der geeignete Zeitpunkt«, sagte Heinz. »Vroni hat genügend andere Probleme zu bewältigen.«

»Stimmt, Heinz! Aber manchmal passiert im Leben etwas, das einem dazu zwingt, eine andere Richtung einzuschlagen. Ich meine doch nur, Vroni sollte mal darüber nachdenken.«

»Ja, ich weiß, du meinst es gut, Liesel«, sagte Heinz. »Aber es ist jetzt wirklich nicht der Zeitpunkt dafür. Lass Vroni erst mal nach Hause kommen. Dann sehen wir weiter.«

Er lächelte Vroni an.

»Unten im Eingangsbereich gibt es ein gemütliches Café. Los, zieh dich an, Vroni, dann gehen wir Kaffee trinken!«

»Wunderbar!«, rief Veronika aus. »Du bist ein Genie.«

Sie raffte ihre Kleider zusammen und verschwand im Badezimmer.

Heinz und Liesel traten ans Fenster und schauten hinaus.

»Was denkst du?«, fragte Heinz leise.

»Sie ist ganz schön aufgedreht und will sich gleich wieder in die Arbeit stürzen.«

»Ja, das will sie. Sie verdrängt damit den Schock, Liesel. Ich glaube, ihr ist bewusstgeworden, was hätte passieren können. Du kennst sie ja. Es war schon immer so, dass sie sich mit Arbeit betäubt, damit sie nicht nachdenken muss. Dann braucht sie sich einigen Tatsachen nicht zu stellen.«

»Richtig! Dieses Mal müssen wir uns etwas einfallen lassen. Der Unfall war ein Wink des Schicksals, damit sie ihr Leben ändert, Heinz.«

»Liesel, es müsste ein Wunder geschehen, dass Vroni ruhiger wird. Das weißt du so gut wie ich. Sie will alles für die Kinder tun. Sie will ihnen Mutter sein und Vater.«

»Ja, ich weiß, Heinz. Wenn wir daheim sind, werden wir uns etwas überlegen. Hier können wir nicht reden. Sie wird jeden Augenblick kommen.«

In dem Moment ging die Badezimmertür auf.

»Wie sehe ich aus?«, fragt Vroni. »Krank sehe auf keinen Fall aus.«

Veronika drehte sich im Kreis. Sie trug dunkle Jeans und eine lange Bluse, die sie vorn in der Taille geknotet hatte.

»Fesch schaust du aus, Madl«, sagte Heinz.

»Danke, du darfst das sagen, Heinz. Los, gehen wir! Ich freue mich auf einen Eisbecher. Hoffentlich gibt die Speisekarte so etwas her.«

Sie verließen das Krankenzimmer. Vroni sagte im Stationszimmer Bescheid. Dann fuhren sie mit dem Aufzug hinunter ins Erdgeschoss.

Auf der Speisekarte standen mehrere Eisspezialitäten. Vroni bestellte einen großen Früchtebecher, Liesel und Heinz je ein kleines Eis mit Sahne.

Vroni redete pausenlos. Sie hatte sich eine Liste gemacht.

»Der Verkaufstand ist unbeschädigt, da ich ihn bereits aufgestellt hatte. Wisst ihr, die Schausteller bekommen immer etwas abseits des Rummelplatzes Gelände zugewiesen für ihre Wohnwagen. Meistens ist es sehr eng. Aber das ist nicht schlimm. Wir kennen uns alle. Wir stellen die Wohnwagen und Wohnmobile mit einer Seite dicht an dicht. Dann haben wir auf der anderen Seite Platz, damit man draußen sitzen kann. Der Abstand von meinem Wohnmobil zu dem großen Schaustellerwohnwagen, der Feuer fing, betrug höchstens einen halben Meter. Ich habe mir das durch den Kopf gehen lassen. Deshalb sind die Flammen so schnell übergesprungen. Ich will morgen gleich hin und mir die Sache anschauen. Kann ich dein Auto haben, Heinz?«

»Wir werden zusammen hinfahren. Übrigens, ich bin mit Emil verabredet«, sagte Heinz und schaute auf die Uhr. »Er hat mir angeboten, mit mir hinzufahren, bevor seine Nachtschicht beginnt. Er will sich bei der Feuerwehr vor Ort erkundigen, ob die Brandexperten schon etwas herausgefunden haben. Er hat als Polizist gute Kontakte.«

Heinz sah seine Frau an.

»Ich schlage vor, du bleibst hier und leistest Vroni Gesellschaft. Ich fahre los und treffe mich mit Emil. Anschließend komme ich wieder her.«

»Du willst schon gehen?«, staunte Liesel.

»Ja, ich habe noch mehr vor. Ich will Vroni ein neues Handy kaufen. Das Handy im Wohnwagen wird kaputt sein, verrußt, wenn nicht gar angekohlt. Und ...« Er lächelte verschmitzt. »Ich fahre bei unserm Autohändler vorbei. Bis das mit einem neuen Wohnmobil geregelt ist, kann es noch dauern. Deshalb dachte ich mir, ein guter gebrauchter Geländewagen tut es für den Übergang.«

Vroni strahlte.

»Heinz, du bist ein Schatz. Ein Geländewagen mit einer großen Ladefläche wäre ideal. Dann könnte ich mir eine Luftmatratze oder ein Stück Schaumstoff hineinlegen. Für den Übergang ginge das. Sicherlich werden mir die anderen Schausteller und Budenbesitzer helfen. Sie lassen mich bestimmt bei ihnen kochen und ich kann dort auch duschen. Noch was, Heinz, achte bitte auf eine Anhängerkupplung!«, sprudelte Vroni hervor.

»Ich werde mich bemühen, einen Wagen nach deinen Wünschen zu finden.«

»Du weißt, Heinz, kaufen kann ich ihn nicht. Ich brauche ihn auch nur für den Übergang. Vielleicht kannst du ihn mieten? Ich hoffe, die Versicherung übernimmt die Kosten.«

»Vroni, mache dir darüber keine Gedanken! Ich weiß, was ich tue.«

Heinz Stimme klang etwas genervt.

»Pardon, Heinz, sicher vertraue ich dir. Danke, dass du dich darum kümmerst. Ich bin noch immer etwas durcheinander. Diese Sache hat meine Routine völlig über den Haufen geworfen. Ich wusste wirklich nicht, wie es weitergehen soll. Aber du hast Recht. Ein großer Geländewagen hilft mir, die Zeit zu überbrücken. Ich kann dann weiterarbeiten.«

Vroni strahlte.

Heinz verabschiedete sich und ging. Vroni sah ihm nach.

»Ach, Liesel, ich will mir nicht vorstellen, wie mein Leben ohne euch verlaufen wäre. Ich bin so froh, dass ich euch habe.«

Liesel drückte Vronis Hand.

»Das kann ich für uns auch sagen. Wir sind froh, dass du bei uns bist mit deinen Kindern. Es gibt uns das Gefühl, eine große Familie zu sein.«

»Und jetzt mache ich euch so viel Mühe.«

»Vroni, was redest du da für einen Unsinn? Dich trifft doch keine Schuld. Ich bin dem Himmel dankbar, dass dir nichts passiert ist.«

»Ja, das bin ich auch. Wie schnell so etwas gehen kann! Da denkt man, alles läuft – und dann so etwas.«

»Ja, so schnell kann es gehen. Aber morgen bist du wieder daheim. Wir helfen dir.«

»Danke, ihr habt mir immer geholfen«, sagte Vroni, »so wie es richtige Eltern tun.«

Ein Schatten huschte über ihr Gesicht. Sie schaute in ihren leeren Eisbecher. Liesel ahnte, was sie dachte.

»Vroni, denke nicht an sie! Das tut nur weh. Deine Tür hast du immer für sie offengelassen. Sie sind nicht hereingekommen. Ich kann deine Eltern nicht verstehen. Ich war mit deiner Mutter gut befreundet. Sie war immer etwas verschroben, das hatte mir früher nichts ausgemacht. Na, und dein Vater war die Moral in Person! Aber sie bestrafen sich selbst. Sie kennen ihre Enkelkinder nicht und können nicht ermessen, wie viel ihnen entgeht.«

»Ja, das stimmt. Weißt du, als ich heute morgen wach wurde, musste ich an Henrik denken. Ich denke jeden Tag an ihn, besonders, wenn ich Birger ansehe. Er wird seinem Vater immer ähnlicher. Er hat seine blauen Augen und sein blondes Haar.«

»Ich verstehe, dass du an Henrik denkst. Dir ist etwas Schlimmes passiert. In einer solchen Situation sehnt sich jede Frau danach, von ihrem Liebsten in den Arm genommen zu werden. Damit kann ich dir nicht dienen, Vroni.«

Vronis Augen wurden feucht.

»Wie gut du mich verstehst, Liesel«, sagte sie leise.

Die Bedienung kam an den Tisch und fragte, ob sie noch etwas bringen dürfe.

Sie lehnten ab. Liesel zahlte.

Dann gingen sie zurück ins Krankenzimmer.

*

Liesel und Heinz Gerber sprachen am Abend noch lange über Vroni. Es war schon weit nach Mitternacht, als sie endlich einschliefen.

Nach so wenigen Stunden Schlaf tranken sie am nächsten Morgen zuerst einen starken, schwarzen Kaffee in der Küche.

»Wenn wir Vroni aus dem Krankenhaus geholt haben«, sagte Liesel, »gönnen wir uns ein leckeres, ausgedehntes Frühstück zu dritt. Auf dem Weg ins Krankenhaus möchte ich noch ein paar Sachen einkaufen, die Vroni gern isst.«

»Das ist eine gute Idee, Liesel.«

Heinz hatte auch nicht sonderlich Appetit. So aßen sie nur eine Scheibe Brot mit Käse aus der Hand.

Heinz Handy, das auf dem Tisch lag, zeigte an, dass eine Nachricht eingegangen war.

»Das ist bestimmt Vroni. Sie wird ungeduldig auf uns warten«, bemerkte Liesel.

Heinz rief die Nachricht auf. Er las und zog die Augenbrauen hoch.

»Den Weg ins Krankenhaus können wir uns sparen«, sagte er. »Vroni ist nicht mehr dort.«

»Oh, das ist wieder einmal typisch für das Madl. Sie hat keine Geduld. Hat sie sich ein Taxi genommen?«

Heinz reichte seiner Frau das Handy über den Tisch.

»Hier, lies selbst«, sagte er.

Liesel las. Sie gab das Handy zurück und schüttelte den Kopf.

»Ich ärgere mich, dass wir ihr gestern Abend das neue Handy gegeben haben«, sagte Liesel. »Wir hätten es ihr erst zuhause geben sollen.«

»Sie hat uns überlistet, Liesel. Weder du, noch ich konnten ahnen, dass sie sich sofort auf den Weg machen würde. Andererseits kann ich es verstehen. Sie muss sich um den Verkaufsanhänger kümmern. Die Kirmes ist vorbei. Sie kann ihn nicht einfach stehen lassen.«

Heinz schaute auf die Uhr.

»Sie wird bald kommen.«

»Dann richte ich ein großes Frühstück mit dem, was ich daheim habe. Einkaufen gehen will ich jetzt nicht. Ich will hier sein, wenn das Madl kommt.«

Heinz schmunzelte.

»Du setzt aber nicht deine tadelnde Mine auf, Liesel! Auch wenn wir nicht einsehen, warum sie es so eilig hatte, ist es besser, wir lassen uns unsere Verärgerung nicht anmerken.«

»Du hast Recht, Heinz. Wenn wir sie dazu bringen wollen, einige Tage Urlaub zu machen, müssen wir sie wohlwollend stimmen. Wenn sie ihren Verkaufsstand schon geholt hat, dann ist das Wichtigste erledigt. Was den Geländewagen betrifft, um den sich der Autohändler kümmern wollte, das musst du irgendwie hinauszögern, Heinz. Ohne den Wagen kann sie nichts machen. Unser Auto hat keine Anhängerkupplung.«

Heinz lachte.

»Liesel, gib dich keinen Illusionen hin! Vroni aufzuhalten, wird schwer werden.«

»Wem sagst du das? Aber wenn Doktor Wagner Vronis allgemeiner Gesundheitszustand beunruhigt, muss uns etwas einfallen. Sie sollte wenigstens zwei Wochen pausieren.«

»Dein Wunsch in Gottes Gehörgang! Liesel, ich bin auch etwas ratlos. Du kennst Vroni. Sie ist ehrgeizig und sie ist der disziplinierteste Mensch, den ich kenne.«

»Ja, das ist sie. Sie besteht nur aus Disziplin. Sich selbst gönnt sie nichts. Da hilft kein gutes Zureden. Es muss uns etwas einfallen. Aber was?«

Das Hupen einer Autohupe drang durch das offene Fenster.

»Das ist sie vielleicht«, sagte Heinz.

Sie eilten zur Haustür.

Ein großer Geländewagen hielt auf der Straße, mit Vronis Verkaufsstand als Anhänger.

Vroni stieg aus.

»Hallo, da bin ich. Überraschung!«, rief sie freudig.

Sie umarmte zuerst Liesel, dann Heinz.

»Das ist Enrico, ein Kollege vom Rummelplatz. Seine Familie hat einen Pizzastand. Ich bin heute Morgen mit dem Taxi hingefahren. Enrico und seine Familie boten mir sofort an, meinen Verkaufsanhänger wegzubringen. Kann ich ihn hier in die Einfahrt stellen? Es ist nicht für lange, hoffe ich.«

»Natürlich kannst du das. Ich fahre mein Auto aus der Garage. Dann kannst du ihn gern dort abstellen«, sagte Heinz.

Er ging zurück ins Haus und holte die Autoschlüssel. Dann fuhr er den Wagen heraus und parkte auf der Straße.

Liesel bedankte sich bei dem gutaussehenden Mann für seine Hilfe.

»Oh, für Veronika würde ich alles tun«, sagte er.

Vroni lachte.

»Enrico, ich habe dir oft genug gesagt, dass du es lassen sollst, mich anzubaggern. Such dir endlich ein Madl, das deine Gunst zu schätzen weiß!«

Enrico errötete. Er stieg in seinen Wagen und schob den Verkaufsanhänger rückwärts in die Einfahrt.

»Also, sollte das mit deinem Auto länger dauern, dann kannst du immer auf mich zählen«, sagte Enrico. »Wir haben ohnehin die gleichen Termine. Meine Mama hat dich eingeladen, bei uns im Wohnwagen zu übernachten.«

»Enrico, schlag es dir aus den Kopf! Das kommt nicht in Frage.«

»Warum nicht? Ich übernachte dann bei meiner Schwester und ihrem Mann.«

»Enrico, genug, wirklich! Danke für Deine Hilfe, aber ich komme gut zurecht.«

Enrico schaute hilfesuchend Liesel an.

Sie schmunzelte nur. Enrico musste in Vronis Alter sein oder etwas älter.

Vroni atmete auf, als er abgefahren war.

Sie gingen ins Haus. Vroni brachte ihre Sachen nach oben in ihr Zimmer unterm Dach. In der Zwischenzeit deckte Liesel den Tisch auf der Terrasse. Heinz half ihr.

»Netter Bursche, dieser Enrico«, bemerkte Liesel, während sie frühstückten.

»Und aufdringlich!« stöhnte Vroni. »Aber in der Not frisst der Teufel Fliegen. Auf jeden Fall ist der Anhänger jetzt hier. Auch wenn der Preis dafür sehr hoch war.«

»Wollte er Geld? Ich dachte, er würde dir einen Gefallen tun?«, staunte Heinz.

»Natürlich war es ein Gefallen. Ich wollte ihm Benzingeld geben. Aber das wollte er nicht. Er bestand darauf, dass ich endlich seine Einladung zu einem Abendessen annehme«, erklärte Vroni mit ärgerlichem Unterton in der Stimme.

»So und warum hast du bisher abgelehnt?«

»Frag nicht so unschuldig, Liesel! Enrico hat sich schon vor Jahren in mich verknallt. Seine Ausdauer nervt nur noch. Er will einfach nicht verstehen, dass ich nicht in ihn verliebt bin. Seine Mutter und seine Schwestern reden mir immer wieder ins Gewissen. Sie finden es zwar schön, dass ich meinem verstorbenen Mann die Treue halte, aber es wäre auch für die Kinder gut, wenn sie wieder einen Vater hätten.«

»Dann weiß Enrico nicht, wie es sich mit Henrik verhält?«, bemerkte Heinz.

»Natürlich weiß er es nicht. Niemand weiß es und das ist gut so. Dass ich als Witwe mit zwei Kindern gelte, hat Vorteile.«

Vroni trank einen Schluck Kaffee.

»Lassen wir das Thema! Ich habe andere Sachen im Kopf. Wie steht es mit einem Auto, Heinz?«, fragte Vroni.

»Einen gebrauchten Geländewagen hat mein Autohändler im Augenblick nicht an der Hand. Aber er hat von einem Kollegen gehört, der einen Geländewagen zum Verkauf anbietet. Mit dem will er Kontakt aufnehmen.«

»Ich will den Wagen aber nur mieten. Das erinnert mich daran, dass ich mit der Versicherung telefonieren muss.«

»Na klar kannst du ihn mieten. Du kannst dich darauf verlassen, dass er sich bemüht. Er wird mich sofort anrufen, Vroni. Solange kannst du unseren Wagen nehmen, wenn du etwas erledigen willst.«

Vroni seufzte.

»Okay, bis morgen werde ich mich in Geduld üben. Die Zeit werde ich nutzen und den Verkaufswagen auf Hochglanz bringen. Den Vorrat an Würsten, den ich noch habe, muss ich auch entsorgen. Durch den Brand gab es auf dem Rummelplatz einen Kurzschluss. Bis er beseitigt war, gab es keine Kühlung. Also ab damit in die Tonne! Ich verpacke sie in Abfallsäcke und bringe sie zur Mülldeponie.«

»Ich erledige das für dich«, sagte Heinz.

»Ja, Heinz, mach du das«, sagte Liesel. »Vroni soll sich etwas schonen.«

»He, ich bin gesund, frisch und munter. Ich kann das selbst«, widersprach Vroni heftig.

»Es hat niemand bezweifelt, dass du das selbst kannst«, sagte Liesel. »Aber es schadet dir auch nicht, wenn du mal eine Verschnaufpause einlegst. Ich erinnere dich, dass Doktor Wagner besorgt war.«

»Es ist doch klar, warum er besorgt war. Er verdient gut an Privatpatienten. Und ich bin Privatpatientin. Aber ich sage euch: nicht mit mir! Nein, bestimmt nicht mit mir.«

»Veronika«, sagte Heinz.

»Du musst nicht deine ernste Miene aufsetzen und mich mit Veronika anreden. Ich lasse mich nicht verunsichern. Schluss damit!«

»Mir liegt es fern, streng zu sein, Vroni. Wir machen uns nur Sorgen. Außerdem hat der Doktor Recht. Eine Auszeit würde dir guttun. Du hast noch nie Urlaub gemacht. Es würde den Kindern auch guttun. Fahre doch wenigstens eine Woche mit ihnen weg und lasst die Seele baumeln!«, sagte Heinz.

»Das kann ich mir nicht leisten. Ich bin euch sehr dankbar, dass ihr die Kinder immer mit in den Urlaub nehmt. Aber ich muss mir Urlaub noch verkneifen. Es ist nicht mehr für lange.«

Liesel und Heinz schauten sie erstaunt an.

»Wie meinst du das?«, fragte Liesel.

»Ganz einfach, die Zwillinge werden in ein paar Jahren Abitur machen und studieren. Dann sind sie aus dem Gröbsten raus. Die paar Jahre gehen schnell vorbei. Außerdem können sie in den Semesterferien arbeiten gehen. Sie können mit mir auf die Rummelplätze kommen. Dort werden immer Aushilfen gesucht. Es ist gut, wenn junge Leute selbst etwas zu ihrem Leben beitragen. Das bringt ihnen nicht nur Geld, sondern auch Lebenserfahrung.«

»Wenn du bis dahin durchhältst, Vroni! Der Doktor war über dein Körpergewicht besorgt«, hakte Liesel nach.

»Schmarren! Was der sich herausnimmt? Er kennt mich nicht. Ich war immer zierlich. So gesehen hatte ich nie ein Durchschnittsgewicht. Was der Heini sich einbildet!«, schimpfte Vroni. »Außerdem schaut euch Maren an. Sie ist auch sehr zierlich.«