Alfons Limbrunner

Tumoresken

Am Rande der Lebenszeit

Verlag Freies Geistesleben

Hanne gewidmet

Inhalt

Widmung

Vorweg: Tumoresken?

Übermorgen

Spiel auf Zeit

Metastasenwald

Suchttalent

Niemandsland

Bauchweh

Der Suchende

Finsternisse

Es ist, was es ist

Traummeldungen

Gastmahl

Russisches Gelage

Lesen

Querfeldein

Unaufgeräumtes

Eichbaum

Glück

Lebenstreppe

Weinen

Lebendige Heilmittel

Bachs Kantaten

Schütze die Flamme

Novalis

Heiterkeit

Mars

S. N.

Arbeit und Struktur

Wunden

Gutmensch

Lebenskunst

Falsch gedacht

Weg und Ziel

Schicksal

Warten

Mitleid

Hände

Sarmatien

Lachender Tod

Gemeinschaft mit den Toten

Einübung der Abwesenheit

Heckenbraunellen

Vertrauen

Tapfer sein

Kindertotenlied

Unsterblichkeit

Sirius

Nachtrag

Literatur

Nachweise

Impressum

Fußnote

Leseprobe

Newsletter

Vorweg: Tumoresken?

Hat man je so etwas schon einmal gehört, dass in einer vierköpfigen Familie zwei Mitglieder fast zeitgleich an Krebs erkranken!? Zuerst Jan, vierzig Jahre alt, mit einem Non-Hodgkin-Lymphom. Dann, drei Monate später, ich, Alfons, siebzig Jahre alt, mit einem Adenokarzinom der Lunge.

Im Frühling 2015, ein Jahr danach, dachten wir zwei, nun sei die Zeit gekommen, aus der Sprachlosigkeit hinauszutreten, und planten als Selbsttherapeutikum ein gemeinsames Schreibprojekt. Kern dabei war, dass jeder – auf seine ihm gemäße Weise – über die eigene Erkrankung und die damit verbundenen Erfahrungen, aber auch über die des Vaters beziehungsweise des Sohnes schreiben wollte. Jans Krebs nahm ihm allerdings überraschend schnell die Kraft für dieses Vorhaben.

Und so realisierte ich das Projekt, das einige Zeit nach Jans Tod ein Ende fand, in veränderter Form allein. Das Geschriebene ist nicht – neben der steigenden Zahl an Krebserkrankungen und den damit verbundenen detaillierten Erfahrungsberichten – als Pathografie zu verstehen, obgleich natürlich Elemente davon enthalten sind. Es handelt sich auch nicht um einen zusammenhängenden Text oder gar chronologische Tagebucheintragungen, sondern vielmehr um sich überlagernde und überschneidende Erlebnisse, Gedanken, Gefühle und Reflexionen, die einen scheckigen Weg querfeldein ergeben. Vermischtes also, Objektives und noch viel mehr Subjektives, Tages- und Nachtzustände, Lyrisches, Gewünschtes und Gebetetes, Trauriges und, ja, das auch, Schönes.

Die kurz gehaltenen Kapitel beginnen oft genug beim Verfasser, bleiben dort aber nicht stehen, sondern versuchen, das Wahrgenommene und Widerfahrene in einen sozialen, überpersönlichen Zusammenhang zu bringen. Einige Themen haben mich inhaltlich schon früher in allgemeiner Form beschäftigt – jetzt aber stehen sie in existenzieller Verbindung mit mir, aber auch damit, wie sie andere krebserkrankte Menschen betreffen können. Das, was ich über meinen Schicksalsgefährten berichte, dürfte, bei aller Zurückhaltung, in seinem Einverständnis sein.

Über Biografisches und Persönliches zu berichten, das sich auf den Zusammenhang mit der Erkrankung und ihren Folgen beschränkt, ist ein Balanceakt. Letztlich aber geht es bei alldem um den Versuch eines in die Enge getriebenen Lebens, neben dem, was die Krankheit diktiert, das Hilfsmittel des Schreibens zu nutzen. Ein Rettungsring auf Zeit. In der Sprache moderner Psychologie nennt sich das Resilienz, das heißt, die seelische Kraft und Widerstandsfähigkeit zur Bewältigung einer existenziellen Erschütterung zu finden. Denn das sichernde, illusionäre Gefühl von Stärke und Gesundheit ist einer neuen, doppelten Erfahrung der Zerbrechlichkeit, Ohnmacht und Todesnähe gewichen.

Wenn Jan und ich das Ganze schon im Vorfeld sprachspielerisch Tumoresken nannten, so deswegen, weil wir der Heiterkeit und dem Humor noch nie abgeneigt waren, aber die Fähigkeit dazu immer wieder, spätestens in diesen Zeiten, aus den Augen verloren. Zudem ist das, was unserer Familie widerfuhr, doch auch in gewisser Weise aber- und irrwitzig.

Erlangen, im Herbst 2016      Alfons Limbrunner

«Ich traue dem Frieden nicht.»

Übermorgen

Übermorgen ist wieder einer dieser Tage, auf die ich hinlebe. Belehrt über mögliche Folgen und gegen Unterschrift, lege ich mich für etwa zehn Minuten in die Röhre für eine Computertomografie und lasse mich ganzkörperdurchleuchten. Eine Stunde später wird mir der Arzt anhand der Bilder zeigen, ob der Wechsel in der Behandlung meines Lungentumors Erfolg verspricht. Meine Gedanken fixieren sich auf diesen Tag hin. Was wird sein, wenn … …? Wenn sich die vielen winzigen Punkte, Metastasen, in meinem Luftorgan vermehrt haben? Wenn der Pegel des Ergusses in der Lunge nicht zurückgegangen ist? Wenn die Gewächse, die Tumorzellen, übergesprungen sind? Auf den Bauchraum? Auf das Hirn?

Meine innere Stimme beruhigt mich: So wie ich mich fühle, körperlich und seelisch, glaube ich, hoffe ich, dass zumindest nicht wieder eine Verschlechterung eingetreten ist. Fast ein Jahr lang habe ich tagtäglich, meist morgens um 7 Uhr, nüchtern eine Tablette geschluckt. Die blauen Pillen haben den nicht heilbaren Tumor in Schach gehalten. Alle nur möglichen und im Beipackzettel beschriebenen Nebenfolgen stellten sich ein: Akne um die gerötete Nase und auf der Stirn, schwere Akne an den Unterarmen und Oberschenkeln, Nagelbettentzündungen, Durchfälle. Zwar gingen mir meine ohnehin dünn gewordenen glatten Haare nicht aus, aber ihr Wuchs veränderte sich zum Fell eines Karakulschafes, wie es in den Steppen Usbekistans weidet. Als alter, abgewirtschafteter Gebrauchtwagenhändler mit misslungener Dauerwelle komme ich mir vor, der in einem Verschlag mit dem Schild «open» residiert.

Dann wurde die Luft wieder ein klein wenig knapper, die Stimme belegter, latenter trockener Reizhusten: Tablettenende, das Medikament hat seinen Dienst getan. Therapiewechsel. Jetzt die übliche, klassische Tour: Chemotherapie im dreiwöchigen Rhythmus. Die Folgen des ersten Durchgangs waren hart: Übelkeit, Erbrechen, Nasenbluten, Entzündungen an den Augen und diversen Schleimhäuten. Die zwei weiteren Behandlungen mithilfe des Ports, einer runden Metallkapsel unter der Haut der rechten Brust, habe ich ganz passabel vertragen. Aber ist das ein gutes Zeichen? Müsste ich mich nicht elender fühlen als Zeichen der Wirksamkeit? Ich traue dem Frieden nicht.

Übermorgen also werde ich wieder – im besten Sinne des Wortes – ein gläserner Patient sein. Im Gesicht des inzwischen vertrauten Arztes, der sich die Aufnahmen immer schon vorher anschaut, suche ich Zeichen für das, was er mir hernach mitteilen und auf den Bildern zeigen wird. Dann werde ich gebannt in mein Inneres hineinschauen. Übermorgen ist wieder einer dieser Tage …

«Demut und Dankbarkeit
sollten das Gebot der Stunde
sein.»

Spiel auf Zeit

Heute ist der Tag, der vorgestern übermorgen war. Die Bilder, die mir der Arzt erklärt, sagen: teils, teils, fifty-fifty, nicht schlecht, aber auch nicht wirklich gut. Einige der unzähligen Punkte, das zeigt der Vergleich der Luftbilder meiner Lunge, sind verschwunden, einige sind minimal größer geworden. Der Erguss in der Lunge ist nach wie vor da. Und so ähnlich habe ich es eingeschätzt und gefühlt. Wenn ich bei kleineren Anstrengungen auf meinen Atem achte, im Ruhezustand, beim Liegen, winzige, zarte Geräusche in den Bronchien registriere oder husten muss. Das lernt man bei Krankheiten der heftigen Sorte: Genau in sich hineinzulauschen, wachsam zu sein für Veränderungen. Eingebildetes, Selbsttäuschungen und Gehofftes eingeschlossen.

Fakt ist: keine wirkliche Besserung durch die drei bisherigen Behandlungen. Es ist ein Auf-der-Stelle-Treten, aber immerhin ist’s nicht schlimmer geworden. Der Arzt sagt, wir sind auf dem richtigen Weg, wir machen nächste Woche weiter. Außerdem spiele er bei mir ohnehin nur «auf Zeit». Zudem glaubt er, dass schon im nächsten Jahr mit verbesserten Medikamenten zu rechnen ist.

Demut und Dankbarkeit sollten das Gebot der Stunde sein. Aber nein, denn was tue ich? Ich trinke aus Enttäuschung und Frustration das, was ich die ganze Zeit über meide, eine ganze Flasche Grünen Veltliner.

Metastasenwald

Begonnen hatte es um Pfingsten mit einem nicht mehr zu überhörenden trockenen Reizhusten und einer stark belegten Stimme. Im nicht beginnen wollenden Frühling ging es vielen anderen Menschen in meiner Umgebung ähnlich. Sie husteten, waren grippig, klagten, fühlten sich kraftlos. Nach drei Wochen ging ich zum Hausarzt, der mich röntgte. Das Bild interpretierte er als Verdacht auf TBC. Er müsse mich sofort in die Uni-Klinik einweisen und könne es von seiner ärztlichen Pflicht her nicht verantworten, mich morgen zu einem wichtigen Gespräch nach München fahren zu lassen. Außerdem sei der Verdacht auf TBC meldepflichtig. Meine Einweisung erfolgte noch am gleichen Tag über die Notaufnahme. Die junge Schwester im Erstkontakt näherte sich mir ängstlich mit spitzen Fingern. Ohne genau zu wissen, wie mir geschah, lag ich isoliert in einem Zimmer mit Warnhinweis an der Tür. Schwestern, Pfleger und Ärzte näherten sich mir mit Schutzanzügen.

Was war das für ein Zustand, in dem ich mich befand? Habe ich überhaupt an etwas gedacht? Höchstens wirre Fetzen: TBC! Ich und eine TBC? Wie äußert sich ein Schock? Indem man im Bett liegt und an die Decke starrt, nicht in der Lage ist, Gedanken zu fassen oder gar zu kontrollieren. Fantasien von Lungensanatorien, ausgemergelten und hohlen Gesichtern, monatelang in Decken eingehüllte Kranke in Liegestühlen vor großem Bergpanorama. Allerdings ganz ohne das Personal des Zauberbergs. Ich, der sich ein Leben lang gesund fühlte, der sich seit Jahrzehnten viel bewegt, joggt und radelt, nicht mehr raucht, moderat Alkohol trinkt und sich ausgewogen ernährt. Aber freilich war das nicht immer so. Es gab auch andere Phasen.

Und dann die Nachricht aufgrund der Bronchoskopie: keine TBC, aber Lungenkrebs, ein kleinzelliges Adenokarzinom. Ein Metastasenwald in mir. Na servus!

Suchttalent

«Adenokarzinom, Z. n. Nikotinabusus», so lautet die Diagnose. Ja, die Sache mit dem Rauchen. Mit ungefähr sechzehn Jahren begann meine zunächst heimliche Karriere als Zigarettenbürscherl. Mitte vierzig war dann Schluss. Damals, in den Fünfziger- und Sechzigerjahren, schien es mir so, dass fast alle qualmten. Na ja, nicht fast alle, jedenfalls ziemlich viele. Wir Raucher dachten uns damals absolut nichts dabei, zündeten uns eine Stuyvesant an, und der Duft der großen weiten Welt umfing auch uns. Zehn bis zwölf Zigaretten waren es am Ende, die ich im Durchschnitt täglich konsumierte. Nein, keine Million filterlose blaue Franzosen, wie etwa der kürzlich an Lungenkrebs verstorbene Regisseur Helmut Dietl. Gelegenheitsraucher war ich dann allerdings auch danach, wenn ich im Osten und Südosten Europas unterwegs war. Für meinen Freund und Kollegen M. und mich galt dann die Devise: Let’s have a good smoke and a hot cup of coffee. So ungefähr wie im Kiosk-Dialog zwischen Bruno Ganz und Peter Falk in Der Himmel über Berlin.

Aber, schon klar, inzwischen hat sich’s längst herumgesprochen, was Forscher bereits Mitte der Fünfzigerjahre in den USA nachwiesen: Rauchen kann tödlich sein. Der deutsche Krebsatlas teilt mit, dass jährlich über 121.000 Menschen am Tabakkonsum sterben. Lungenkrebs gehört in Deutschland zu den häufigsten Krebsarten. Pro Jahr erkranken rund 33.000 Männer – davon sind beziehungsweise waren ca. 90 Prozent Raucher – und 15.000 Frauen – davon sind oder waren ca. 65 Prozent Raucherinnen. Damit ist Lungenkrebs die dritthäufigste Krebserkrankung, nach Prostata- und Darmkrebs bei Männern respektive nach Brust- und Darmkrebs bei Frauen.

Eine Studie von Finanzwissenschaftlern besagt, dass Raucher der Gesellschaft Geld sparen helfen. Sie entlasten Sozialkassen und Steuerzahler in Deutschland um etwa 36 Milliarden Euro. Die höhere Sterblichkeit – männliche Raucher sterben ungefähr fünfeinhalb, weibliche Raucherinnen vier Komma vier Jahre früher als Nichtraucher und Nichtraucherinnen – würde nach deren Hochrechnungen eher zu einer finanziellen Entlastung als zu einer Belastung der Gesellschaft führen. Allein aus Kostengründen lasse sich eine weitere Erhöhung der Tabaksteuer somit nicht rechtfertigen. Natürlich wird diese Studie von anderen Wissenschaftlern infrage gestellt. Nach deren Berechnungen müsste der Preis einer Schachtel Zigaretten von 5 Euro auf 7 Euro 85 Cent steigen, um wenigstens die direkten, tabakverursachten Gesundheitskosten zu kompensieren. Um alle Kosten auszugleichen, müsste ein Päckchen 12 Euro 30 Cent kosten.

Wenn ich heute alles in allem betrachte, so kann der Preis für eine Schachtel Zigaretten gar nicht hoch genug sein, weil der andere Preis, den wir dafür bezahlen, gar nicht bezifferbar ist. Lieber später und ein bisschen gesünder sterben! Trotzdem gehöre ich zu jenen, die der dahinschwindenden Welt des gepflegten Tabakrauchs ein ganz klein wenig nachtrauern.

Wer raucht, trinkt meist auch Alkohol. «Man führt gegen den Wein nur die bösen Taten an, zu denen er verleitet, alleine er verleitet auch zu hundert guten, die nicht so bekannt werden.» An was der Herr Professor und Hofrat Lichtenberg dabei wohl dachte? Sind seine Sudelbücher gar vom Weingeist inspiriert? Kannte er die Theorie meiner niederbayrischen Großmutter vom «Glaserl Wein, das lustig macht und net dick»? Maxim Gorkis verlorene Menschen wissen, dass gegen Katzenjammer nur Branntwein hilft und nicht Gewissensbisse oder Zähneknirschen. Der Geist in und aus der Flasche ist der wahre Global Player, dort und damals, hier und jetzt, in Zukunft, für die da oben und die da unten.

Auch das Wirtshausgehen habe ich, so wie das Rauchen, umgeben von Gesellen und Arbeitern, die zur ersten Pause um 9 Uhr ihr erstes Helles tranken, frühzeitig gelernt. Der Rausch, die Lust auf mehr, kam später erst, bei der Bundeswehr, im Studium und im Beruf. Denn ist es nicht so, dass der Alkohol der armen, sonderbaren Seele des Menschen manchmal einen gewissen Schwung verleiht und Augenblicke des Vergessens der Alltäglichkeit vermittelt? Nach einem ganz und gar enthaltsamen Jahr wollte oder konnte ich – außer in der jährlichen siebenwöchigen Fastenzeit – aber nicht auf Alkohol verzichten. Mein Schicksalsgefährte Jan war zwar ein Suchender, dafür aber ein suchtmittelfreier Asket.

Ansonsten, finde ich, lässt es sich gut mit Herrn Goethe leben, der, selbst absolut kein Nullkommajoseph, sinnigerweise einen Weihbischof in der Fastenzeit predigen lässt, dass der Missbrauch den Gebrauch ja nicht ausschließt.

Niemandsland

Vielleicht gehöre ich zu den traumatisierten Kriegs- und Nachkriegskindern, ein Thema, das von der Sachliteratur in den letzten Jahren variantenreich entdeckt wurde. Dass frühes Trauma – ganz allgemein – krank machen kann, hat sich herumgesprochen. Bei Betroffenen, so die Forschung, steigt die Wahrscheinlichkeit, eher an psychischen Leiden wie Depressionen, Angststörungen, Abhängigkeiten, aber auch an Krebs, Diabetes, Herz-Kreislauf-Problemen, Schlaganfällen u. a. zu erkranken, die als Spätfolgen auftreten.

Als Novemberkind bin ich Ende des letzten Kriegsjahres in einer Bombennacht zur Welt gekommen. Wir – die siebenköpfige Familie meiner Mutter, in einer Werkswohnung mit zwei Zimmern – gehörten dem Luftschutzraum 2, Köflach/Voitsberg, im weststeierischen Braunkohlerevier an. Dieses Gebiet war damals Teil eines etwa zwanzig Kilometer breiten Gürtels, der, so erzählte es meine Mutter, «Niemandsland» genannt wurde. Im Westen und Osten standen die Siegermächte – Engländer und Russen –, die sich aufeinander zubewegten. Ungewöhnlich lang soll meine Geburt gedauert haben.

Mein Vater, der deutsche Soldat, hatte die Hilfskraft einer Grazer Diätküche kurz vorher geheiratet, war dann wieder unterwegs und in Gefangenschaft, ist anschließend zurückgekehrt, wieder abgereist, um uns etwas später – ich war inzwischen fast drei Jahre alt – auf einen niederbayerischen Bauernhof, auf dem auch eine siebenköpfige Familie aus Schlesien untergebracht war, zu holen. Unser Abschied muss herzzerreißend gewesen sein, von den Eltern, der Schwester, die mit ihren zwei Kindern vergeblich auf ihren irgendwo im Osten gefallenen Mann wartete, und den im Kohlerevier werkelnden Brüdern. Drei Tage waren wir – Hab und Gut in einer großen, grob zusammengenagelten Holzkiste verpackt – in einem mit Stroh ausgelegten Waggon unterwegs.

Meine weitere Entwicklung verlief ohne besondere Ereignisse – Nachkriegszeit eben, Kind einer heimwehgeplagten Mutter und eines bei Pflegeeltern aufgewachsenen Vaters, der sein Hilfsarbeiterdasein hinter sich lassen konnte, in Straubing eine Wohnung fand und es Jahre später zu einem kleinen Häuschen am Stadtrand brachte. Nach der Handelsschule lernte ich, ungeachtet meiner Fähigkeiten, Elektromechanik. Ob mir die enge katholische Sozialisation jener Zeit gutgetan hat, kann ruhig offen bleiben. Immerhin fand ich in der Pfarrjugend meine besten Freunde.

Apropos Einzelkind: Was immer man dieser Spezies sonst noch nachsagt, so haben neuerdings groß angelegte empirische Studien herausgefunden, dass sie und Erstgeborene später oft dicker sind und häufiger erkranken. Beispielsweise an Diabetes, Bluthockdruck, Herz-Kreislauf-Problemen und Störungen des Stoffwechsels. Warum das so ist, bleibt, wie so vieles auf diesem Gebiet, vage.

Nach der Bundeswehr ließ ich Straubing und den ungeliebten Beruf hinter mir und bin Sozialpädagoge und Sozialarbeiter geworden. Nach etlichen Jahren in der Praxis, weiteren Qualifikationen und prägenden beruflichen Begegnungen stellte ich mich einem Bewerbungsverfahren an der Evangelischen Fachhochschule Nürnberg. Es schien damals Menschen zu geben, die mir Entwicklung zugestanden haben. 71 Semester lang habe ich Theorie und Praxis Sozialer Arbeit aufrecht vertreten.

Geblieben ist von alldem die Erkenntnis: Schicksal entsteht durch und in der Begegnung mit Menschen. Wir verdanken jenen, die unsere Wege auf entscheidende Weise kreuzen fast alles und nur den kleinsten Teil uns selbst.

Bauchweh

B-Non