Inhaltsverzeichnis
Vorgeschichte
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Die Brüder Mörk
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebentes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Gustaf af Geijerstam

Die Brüder Mörk

 
Übersetzer: Gertrud Ingeborg Klett
e-artnow, 2017
Kontakt info@e-artnow.org
ISBN 978-80-268-7531-4

Vorgeschichte

Inhaltsverzeichnis

Erstes Kapitel

Inhaltsverzeichnis

Zu Anfang der vierziger Jahre war der im mittleren Schweden belegene Besitz Björknäs Eigentum zweier Brüder, Karl Henrik und Nils Göran Mörk. Die Brüder gehörten einem weit verzweigten Geschlecht an, das sich Generationen hindurch dem Bergbau und der Landwirtschaft gewidmet hatte. Angehörige der Familie saßen auf Gütern in allen Gegenden Schwedens.

Der Vater hieß Henrik Göran Mörk und war – im Verhältnis zu den Anforderungen seiner Zeit – ein hervorragender Hüttenindustrieller. Unter seiner Rute verlebten die beiden Brüder eine etwas eigentümliche Jugend; keiner von ihnen konnte sich in reiferen Jahren entsinnen, je die geringste Elternzärtlichkeit erfahren zu haben. Um so enger hatten sie sich dafür aneinander angeschlossen, und bis zu dem Zeitpunkt, an dem diese Erzählung einsetzt, hatten die innigsten Beziehungen zwischen ihnen geherrscht. Stets sah man sie miteinander, und stets standen sie Rücken an Rücken, bereit zu gegenseitiger Verteidigung gegen alle Bitternisse und Schwierigkeiten, die ihre traurige Jugend ihnen bereitete.

Björknäs war indessen kein großer Besitz und Henrik Göran Mörk, wie hervorragend er auch als Hüttenindustrieller war, kein guter Haushalter. Die Folge war, daß, als er schließlich starb, das Erbe, das er hinterließ, geringer war, als man erwartet hatte. Im äußeren Geschick der Brüder spielte das keine große Rolle, eine um so größere dafür in ihrem Verhältnis zueinander.

So eng waren die beiden miteinander verbunden, daß, obgleich sie beide Ehen eingingen, die ihnen Kinder schenkten, doch diese Bruderliebe, die sie von Kindheit an vereint hatte, entscheidender ward für ihr Schicksal als alles andere, was das Leben ihnen später brachte. So fest hatte ihre traurige Jugend sie aneinander gebunden.

Hierin unterschieden sie sich von andern Brüderpaaren, die äußerlich stets in Freundschaft lebten und von denen man nichts als Gutes zu sagen wußte. Schwer und erinnerungsreich ward ihnen beiden der Tag, an dem sie zum erstenmal voneinander schieden. Der ältere Bruder war es, der damals das Vaterhaus verließ und in die Welt hinauszog. Und Nils Göran blieb allein zu Hause und grämte sich, daß die ganze Welt ihm auf einmal so eng und so leer geworden – –

Zweites Kapitel

Inhaltsverzeichnis

Ehe wir weiter gehen, muß erst über die alte Exzellenz Lars Germund Mörk berichtet werden. Dieser Sonderling der Familie sollte auf bizarre Weise in das Schicksal der beiden Brüder eingreifen. Er lebte in seinen späteren Jahren weit im Westen Schwedens. Das Gut, das er bewohnte, war viel stattlicher und größer als Björknäs. Der Name hatte einen herb-schwedischen Klang: Kolsäter hieß es. Und von seinen Fenstern sah man zwischen hochstämmigen Birken das klare Wasser des Lommen schimmern.

Der Lommen sieht aus wie ein Märchensee. Voll grüner Inseln und Holme erstreckt er sich mit zahllosen Buchten und Sunden ins Weite. Wie verzaubert ist, wer in einer Sommernacht dort draußen rudert. Die Ufer schwimmen in Schleiern feuchten Lichts, der ganze See wird tiefgrün gegen die Helle der Wiesen – reglos hängen die Kronen der Birken überm Wasser. Hinter ihnen hebt sich schwarz der Wald. Und darüber färbt sich der Himmel lichtgrün, zitternd vor dem entschwundenen Sonnenglanz. Das Boot gleitet in einen der vielen schmalen Sunde; um den Ruderer dämmert es; gegen die Baumwurzeln, die nackt über den Uferrand hängen, schaukelt der Wogenschwall auf. Ringsumher schlafen Wald und See. Aus dem Dämmer dringen geheimnisvolle Laute vom fernen Wald; auf schweren Flügeln hebt sich eine aufgeschreckte Ente vor dem Boot. Wenn sich die große, helldunkle Flache wieder um den Rudernden weitet, sieht er hoch oben auf dem Hügel die glanzlosen schlafenden Fenster von Kolsäter durch die Birken scheinen. Das Boot hat die Runde durch die vielen Sunde gemacht.

Ein Naturanbeter muß der Mann gewesen sein, der einst diese Stelle wählte, um sich darauf seinen Herrensitz zu bauen. Und ein Naturanbeter war wohl auch in seiner Art Lars Germund Mörk. Er war der erste Mörk, der Kolsäter bewohnte. Und daß er dort seinen Wohnsitz aufschlug, kam, wie es hieß, unter anderm davon, daß er das Wasser des Lommen besonders liebte, weil es klar war wie das des Wettern und doch warme Sommerbäder bot. Lars Germund Mörk hatte nämlich einen großen Teil seines Lebens in Frankreich verbracht und einer seiner Glaubensartikel war, daß Schweden, dank seiner Kälte, nicht kultivierbar sei, daß mithin das Land nicht für verfeinerte Individuen passe, zu denen er sich aus guten Gründen selber rechnete; daß es aber – wenn man nun einmal das Pech hatte, in diesem Land der Wölfe geboren zu sein – eine Schicksalsnotwendigkeit sei, daß man sich schließlich wieder dorthin zurücksuche – wenigstens um dort zu sterben. Danach hatte denn der seltsame Mann auch gehandelt. Als er sich auf Kolsäter niederließ, war er ein Mann, der die Fünfziger bereits hinter sich hatte.

Exzellenz hatte nicht wenig von den Stürmen des Lebens erfahren. Er hatte Gustav III. Zeit und die Vormundschaftsregierung erlebt und es wurde behauptet, daß ihm beide gleich schlecht bekommen seien. In ständiger unruhiger Erwartung eines Neuen, das nie kam, hatte er gelebt, und als ihm endlich auf seine alten Tage in Gnaden der Exzellenztitel verliehen wurde, geschah das nicht, um ihn mit einem Amt zu betrauen, sondern als eine Art Schadenersatz im Stil der Zeit, weil man es am bequemsten fand, den lästigen Mann um billigen Preis los zu werden.

Lars Germund Mörk hielt sich damals in Paris auf und schien sich in der Hauptstadt Frankreichs ganz daheim zu fühlen. Gleich nach seiner Ernennung jedoch reiste er nach Hause und setzte sich sogleich auch auf Kolsäter fest, wo er von Anfang an auf großem Fuße lebte und viele Gäste bei sich sah. Denn Exzellenz war ein prunkliebender Herr. Außerdem war er damals seit zwei Jahren mit einer jungen, heißblütigen Französin verheiratet. Und um sie zu bewegen, Paris gegen den kalten Norden zu vertauschen, hatte Exzellenz sie versichert, daß Schweden ein Land sei, in dem man mindestens ebensogut zu leben verstehe wie in Frankreich.

Viele Histörchen wurden von der alten Exzellenz berichtet; und vor allem weiß die Familienchronik zu erzählen, daß er ein Feind alles dessen war, was Mörk hieß. Die alte Exzellenz hatte nämlich ein hitziges Temperament und eine außerordentlich hohe Meinung von sich selbst. Und darum kam sie leicht mit allen Menschen in Konflikt. Die Familie Mörk war mehrfach verschwägert mit den Brandts auf Skogaholm, und diese nahmen darum auch einen ganz besonderen Platz im Wohlwollen der Exzellenz ein. Die alte Gnädige auf Malmhyttan, die ihn in ihrer Jugend einmal gesehen hatte, pflegte in ihrer drastischen Weise von ihm zu sagen: »Er war ein echter Mörk – vom Scheitel bis zur Sohle. Das muß ich am besten wissen, die ich mich meiner Lebtag mit den Brandts und der Familie habe herumschlagen müssen. Just darum konnt' er sie auch nicht ausstehen. Und weiß Gott – es trauerte ihm keiner nach, als er starb.«

Es lag in diesem Urteil etwas von der Beweisführung der Nachwelt, die sich bekanntlich nicht immer das lateinische Sprichwort zum Muster nimmt. Hätte die alte Exzellenz in unsern Tagen gelebt, so hätte sicherlich einer der vielen, die die Schwierigkeit, die Mysterien des Seelenlebens auseinander zu wirren, mit fremdländischen Ausdrücken bemänteln, ihn einen Querulanten genannt. Unbestreitbar war, daß Exzellenz leicht mit den Menschen in Streit geriet und schwer in Frieden leben konnte. Das Verhältnis zur Familie war nur ein Glied in der langen Kette mancherlei andrer Konflikte. Als er alle Möglichkeiten, sich noch mehr Feinde zu machen an den verschiedenen Höfen, die damals in Schweden in rascher Folge einander ablösten, erschöpft hatte, wurde er nach Paris versetzt, und als sein unruhiges Blut nach weiteren zehn Jahren ihn ins Vaterland zurücktrieb, zog er sich in die Einsamkeit der Wälder zurück und ließ sich auf Kolsäter nieder – damals ein niederes, einstöckiges Gebäude mit einem großen, altmodischen Dachstock, von dem verschiedene kleine Zimmer mit Fenstern und Erkern nach allen möglichen Richtungen sich gegen den alten Park und die Seeseite herausarbeiteten.

All das ließ sich nicht bestreiten; und doch ist damit nicht gesagt, daß die Exzellenz immer im Unrecht war, wenn es auch infolge irgendwelchen eigentümlichen Zusammenwirkens von Umständen und Naturgesetzen in Wirklichkeit meist so schien. Sicher ist, daß der Keim zum Haß gegen die ganze Welt, der in der Natur des alten Herrn lag, ihm zuletzt über den Kopf wuchs. Der Grund hierzu ward während einiger gewaltsam bewegter Tage auf Kolsäter gelegt, die damit begannen, daß das alte Haus geschlossen und alle Gäste kurz abgewiesen wurden, mit dem Bescheid, Exzellenz empfange nicht, und damit endeten, daß die Gnädige eines dunklen Februarmorgens im Kabriolett davonfuhr und alles, was sie an Kleidern und Juwelen besaß, mitnahm.

Näheres über die Geschehnisse jener Tage ward nie bekannt, und man konnte bloß ahnen und erraten. Die Menschen jener Zeit klagten weniger als wir, und in bezug auf häusliche Skandale waren die Lippen versiegelt. Exzellenz lag nach diesem Vorfall zwei Tage lang zu Bett, und als er sich wieder zeigte, war er etwas grauer als zuvor, aber sonst wie immer. Von diesem Tag an jedoch war Kolsäter jedem Besucher verschlossen, und das lange Sonderlingsleben der Exzellenz nahm seinen Anfang.

Um diese Zeit nun traf ein Ereignis ein, das dem alten Herrn das gab, was ihm bisher stets gefehlt hatte – nämlich ein bestimmtes Ziel, auf das er all den Groll häufen konnte, den er ein langes Leben hindurch in reichem Maß in sich angesammelt hatte, das den Haß, der ihm zum Bedürfnis geworden war, sozusagen in einen ideellen Haß wandelte, der ihn in seinen eigenen Augen hob und ihm den Anschein einer politischen Persönlichkeit gab, die sich aus Verachtung für die schlechten Zeiten, in der sie das Unglück hatte geboren zu sein, in ihre Einsamkeit zurückgezogen hatte. Und auf diese Weise rüttelte eben dieses Ereignis den alten Mann auf, gab ihm sozusagen eine Art Interesse, für das er leben konnte.

General Bernadotte wurde nämlich zu dieser Zeit Kronprinz von Schweden, und über diesem Ereignis vergaß der alte Mann beinahe die Schmach, die sein eigenes Haus betroffen hatte. Die Nachricht erfüllte ihn nämlich mit einer ganz unbeschreiblichen Wut, und sein patriotischer Zorn kannte keine Grenzen. »Der Thron, den Gustav Wasa mit seinem ehrlichen schwedischen Hintern abgesessen hat,« pflegte er zu sagen – »von dem Thron aus soll künftighin ein Emporkömmling, der nicht einmal unsere Sprache spricht, unsern verlotterten schwedischen Adel regieren!« Irgendwelche andre Glieder der Nation als den Adel erkannte Exzellenz überhaupt nicht an.

Dieser Gedanke schien so nach und nach das einzige zu sein, was den alten Herrn noch am Leben erhielt. Er sah die Personen, die seine Widersacher gewesen waren, sterben. Er sah die Familie aussterben und besuchte aus diesem Anlaß sogar einmal den alten Kirchhof von Torsby. Auf dem Kirchhof von Bonga – dem Kirchspiel, zu dem Kolsäter gehörte – lag zu jener Zeit noch kein Mörk begraben. Er sah sich selbst alt werden und seine Tage in einer sonderbaren Untätigkeit vergehen. Um ihn wechselten die Jahreszeiten, der Schnee fiel und schmolz, die Bäume grünten und schüttelten ihre Blätter ab, die Felder wurden weiß zur Ernte und die Ernte ward in seinen Scheunen geborgen. Die Hämmer des Hüttenwerks donnerten die Wochentage hindurch und verstummten auf vierundzwanzig Stunden, wenn der Sonntag kam. Nichts berührte ihn. Einsam, in seine Träume verschlossen, lebte der alte Herr dahin. Von kleiner, untersetzter Gestalt, winters in einen Pelz mit Zobelkragen gehüllt, sommers im weißen Nankingrock und riesigen Panama-Hut, wanderte er auf seinem Besitztum umher, nickte allen, die grüßten, zu und redete laute, unzusammenhängende Worte vor sich hin. Im Haus verkehrte er nur mit dem Großknecht, einem alten, hageren, wortkargen Mann, und dem Bedienten, der seine Kleider reinigte, sein Zimmer aufräumte, ihm morgens die Hafergrütze brachte und den Rotwein temperierte. Björling – so hieß der Diener – war zwanzig Jahre jünger als sein Herr und dank der Gunst, die er genoß, allgemein gehaßt, gefürchtet und beneidet. Schwammig, kriecherisch und frech folgte er der Exzellenz im Haus wie ein Schatten, erwartete den Gebieter, wenn er heim kam und öffnete ihm die Tür, wenn er ausging. Draußen ging der alte Herr stets allein und duldete nicht, daß jemand seine Schritte bewachte.

Den ganzen langen Tag über redete Exzellenz meist mit keinem Menschen. Schweigend ließ er sich von Björling rasieren und ankleiden, stumm saß er bei Tisch – morgens, mittags und abends. Erst wenn das Abendessen verzehrt war, geschah es ab und zu, daß Exzellenz Björling anredete. Dann sprach er über das Schicksal Schwedens und das Unglück, das über das Land gekommen sei durch den Sackerments-Bürgerlichen und verdammten Schweinehund, der berufen worden war, den Thron zu besteigen. Bei dieser Gelegenheit deklamierte er viel von seiner eigenen Vaterlandsliebe. Er hatte ein unglaublich gutes Gedächtnis. Denn dies Gedächtnis war vollgepfropft mit lauter Anlässen, bei denen er Schweden hätte retten können – wenn man es ihm nur gestattet hätte. Unglücklicherweise waren da immer irgend ein paar goldstrotzende Marionetten bei der Hand gewesen, die ihn daran gehindert hatten. Diese wurden dann gewaltsam gestäupt und in effigie verbrannt. Und der fette Bediente hörte diesen seltsamen Bekenntnissen mit in gewohnheitsmäßiger Selbstbeherrschung und berechnender Heuchelei erstarrter Miene zu.

Im Innersten hatte Exzellenz vielleicht doch das Empfinden, daß sein Leben von Grund aus verfehlt war; und vielleicht wollte er mit dem Gespenst, das er auf diese Weise herauf beschwor, nur die Gespenster seines eigenen Bewußtseins bannen. Alt, vergrübelt, saß er so Abend für Abend, prahlte mit seinen eigenen Großtaten, riß das Tun der andern herunter und prophezeite den Untergang der Welt und des Vaterlandes vor diesem einzigen Zuhörer, mit dem er in der Einsamkeit seiner Größe noch zu verkehren geruhte. Bis zum letzten waren seine Züge stramm, seine Bewegungen lebhaft, und mitten in der Wut, die aus seinen Worten sprach, konnte sein Mund manchmal lächeln – ein gutes, kindliches Lächeln, das in dem verheerten Gesicht ganz gespenstisch wirkte.

Eines Abends saß er länger als gewöhnlich stumm vor dem Feuer am offenen Kamin. Der lange, bunte Schlafrock war zurückgeschlagen, so daß im flackernden Flammenschein die kurzen, dicken Beine zu sehen waren. Seine Gedanken schienen andere Wege zu gehen als sonst. Eine ganze Stunde lang tat er den Mund nicht auf. Dann gab er plötzlich dem Kamingitter einen Fußtritt und rief mit einer Stimme, die vor Alter schrill klang:

»Björling!«

Wie eine angezündete Kerze stand Björling vor seinem Herrn. Sein falsches Gesicht nahm einen frommen und teilnehmenden Ausdruck an. Exzellenz sah diesmal minder zufrieden aus als sonst, während er seinen getreuen Diener betrachtete.

»Sag', Björling,« sagte er schließlich, »hab' ich wirklich gar nichts geleistet in meinem Leben?«

Björling war anfangs etwas bestürzt. Aber er war an die Eigenheiten seines Herrn gewöhnt und versuchte, ihn an alle die Taten zu erinnern, mit denen der Alte sonst zu prahlen pflegte und die meist mit irgendeiner hochgestellten Persönlichkeit Schwedens oder des Auslandes im Zusammenhang standen.

Aber Exzellenz unterbrach ihn barsch.

»Gewäsch!« schrie er. »Ich meine etwas Rechtes, etwas, woran man sich halten kann!«

In einem Nu kehrte der Bediente zur Wirklichkeit zurück, und nach der ersten besten Tatsache greifend, die ihm einfiel, sagte er:

»Exzellenz haben Kolsäter umgebaut.«

»Was?« knurrte der Alte.

Der Stuhl fuhr mit einem Stoß zurück, daß er sich überschlug, und wie der alte Sonderling nun so dastand, kreideweiß im Gesicht, geradeaus ins Dunkel starrend, mit der Rechten in der Luft herumtastend, als halte er eine Rede an einen Unsichtbaren, sah er so unheimlich aus, daß sogar Björling vor ihm zurückschrak.

Exzellenz aber hatte in diesem Augenblick Björling vollständig vergessen. Er starrte zurück in all die Märchen, mit denen er sein Dasein angefüllt hatte, die Märchen von seinem eigenen Ich und seiner eigenen Größe. Und die ganze Zeit über suchte er nach irgend etwas Denkwürdigem – und fand es nicht.

Schließlich erholte er sich wieder, nickte Björling herablassend zu und entgegnete:

»Ganz recht. Ich habe Kolsäter umgebaut. Vergiß das nicht! – Morgen spannst du den Fuchs vors Karriol und holst mir den Kronvogt her. Der ist ja doch so eine Art Jurist. Ein Sackerments-Bürgerlicher übrigens. Sag' ihm, ich hab' mit ihm zu reden.«

Damit ging der alte Herr mit festen Schritten die Treppe hinauf und direkt in sein Schlafzimmer. Die Tür machte er hinter sich zu, und zum erstenmal seit zwanzig Jahren erlaubte er Björling nicht, ihm zu folgen. Mit einem verzerrten Lächeln auf dem blaßfetten Gesicht stand der getreue Diener außen im Korridor und hörte, wie der Gebieter, leise vor sich hinsprechend, noch über eine Stunde lang im verschlossenen Zimmer auf dem Teppich hin und her stapfte, ehe er endlich zur Ruhe ging.

Am Tage darauf kam dann der Kronvogt. Er kutschierte selbst und Björling saß mürrisch hinten auf. An der Treppe stieg er aus und wurde, nach einer geziemenden Wartezeit, in das Zimmer im Erdgeschoß geführt, das Exzellenz sein Arbeitszimmer nannte.

Dick, mit glänzendem, kupferrotem Gesicht, trat der Kronvogt ein. Exzellenz reichte ihm nicht die Hand, sondern gab ihm bloß ein Zeichen, sich in dem Lehnstuhl neben dem runden Tisch mit dem Globus niederzulassen. Er selbst setzte sich vor die geöffnete Chiffonniereklappe, drückte auf die geheime Feder, so daß das Dokumentenfach aufsprang, nahm daraus ein Papier und las es sorgfältig durch. Eine ganze Weile schien es fast, als habe er die Anwesenheit des Kronvogts ganz vergessen. Endlich blickte er auf und sagte:

»Ist Er ein rechtschaffener Mann?«

Der Korpulente im Lehnstuhl fuhr auf; seine breiten Augenbrauen zogen sich zusammen.

»Exzellenz glauben wohl, wir Bürgerlichen ...«

»Ich glaube gar nichts,« unterbrach ihn die Exzellenz. »Aber ich weiß, daß es in unserer Zeit nicht viele rechtschaffene Leute gibt. Und das kommt noch schlimmer. Doch ich will annehmen, daß Er ein rechtschaffener Mann ist. Das Papier soll Er nehmen. Es enthält mein Testament. Niemand darf wissen, daß ich es geschrieben und niemand, daß ich es Ihm gegeben habe. Er soll es mir mit allen Schnörkeln und Faxen der Juristerei ins Reine schreiben. Auf derartiges versteh' ich mich nicht. Und ich unterzeichne. Verstanden?«

Der Kronvogt zog ein großes Taschentuch heraus, schneuzte sich und machte seinen Diener.

»Jawohl, Exzellenz, ich verstehe.«

Exzellenz faltete das Papier umständlich zusammen und reichte es dem Kronvogt. Darauf schwieg er wieder eine Weile und schien den Pendel der vergoldeten Wanduhr zu verfolgen, der über der großblumigen Tapete hin- und herging. Ein seltsam befriedigtes Lächeln spielte um seine Lippen.

»Dann kann ich also ruhig sein?« fragte er schließlich.

»Wieso ruhig?« stammelte verlegen der Kronvogt.

»Nun ja,« lautete die Antwort, »die Welt ist voll von Schweinehunden. Und ich würde mich im Grab umdrehen, wenn jemand, der sich ganz besonders als Schweinehund gegen mich benommen hat, von meiner Hinterlassenschaft bon leben sollte.«

»Leibeserben sind wohl keine da?« fragte vorsichtig der Kronvogt.

Des alten Sonderlings Lippen schlossen sich fest aufeinander, wie hinter etwas, das er mit aller Gewalt verbergen wollte.

»Ich habe einen Sohn gehabt,« erwiderte er kurz, »er starb in Paris.«

»So können Exzellenz nach Gutdünken über Ihr Vermögen verfügen.«

Wieder spielte das zufriedene Lächeln um die dünnen Lippen des alten Herrn. Plötzlich sagte er:

»Jetzt kann Er gehen. Aber schieb Er den Schweinehunden einen Riegel vor, damit ich ruhig sterben kann!«

Der Kronvogt ging, und was zwischen den beiden Männern verhandelt worden war, blieb, solange die alte Exzellenz lebte ein Geheimnis für alle. Bloß ein Punkt der Unterredung wurde bekannt und weckte auf dem ganzen Gut großes Aufsehen. Exzellenz hatte einen Sohn gehabt, und dieser Sohn war in Paris gestorben. Mit keinem Menschen hatte er je hierüber gesprochen, und nicht einmal die Gnädige hatte während ihrer kurzen Glanzperiode ein Wort über diese Sache verloren.

Björling nahm sich die Neuigkeit sehr zu Herzen. Denn sein ganzer Stolz war, daß Exzellenz nie ein Geheimnis vor ihm gehabt hatte. Auch der Besuch des Kronvogts wollte ihm nicht so recht hinunter.

Der Kronvogt kam in der folgenden Woche wieder und ward im selben Zimmer, wie das erstemal, vorgelassen. Ganz wie früher wurde die Tür abgeschlossen, und Exzellenz in seinem Stuhl vor der Chiffonniere las das Papier sorgfältig durch. Darauf unterzeichnete er es und siegelte es mit seinem Petschaft. Und damit kein Zweifel an der gesetzlichen Gültigkeit des Testamentes aufkommen konnte, setzten der Kronvogt und der zu diesem Zwecke herbeigerufene Großknecht als die vom Gesetz vorgeschriebenen beiden Zeugen ihre Namen unter den der Exzellenz. Der Großknecht, als des Schreibens unkundig, zeichnete sein Hauszeichen ein, und Exzellenz schrieb dann eigenhändig den Namen unter das Zeichen. Als er wieder mit dem Kronvogt allein war, wandte er sich zu diesem und sagte:

»Jetzt kann ich also ruhig sterben?«

Da in den Worten eine Frage lag, glaubte der Kronvogt dieselbe ehrerbietigst bejahen zu müssen; und Exzellenz sah auch äußerst gnädig und erleichtert aus. Dann zog er ein großes Kuvert aus der Tasche und wies es dem Kronvogt. In der geraden, holperigen Beamtenschrift der Exzellenz stand da des Kronvogts Name und Adresse verzeichnet. Und mit einer gewissen Feierlichkeit steckte der alte Herr in dies Kuvert einen Hunderttalerschein, legte es dann auf das Testament und schloß die Ahornschieblade zu. Zuletzt zeigte er dem Kronvogt das Geheimnis der verborgenen Feder und fügte hinzu:

»Jetzt bin ich sicher, daß Er bei meinem Ableben nicht zu tun vergißt, was getan werden soll!«

Der Kronvogt fand hierauf keine andere Antwort als einen demütigen Bückling, und ganz wie vorigesmal schnitt Exzellenz die Unterredung ab mit einem:

»Jetzt kann Er gehen!«

Diesmal jedoch reichte er dem Kronvogt zum Abschied zwei Finger und fügte milder hinzu:

»Er hat seine Sache recht gemacht, Dahlmann. Ich danke Ihm!«

Und damit fuhr der Kronvogt wieder fort durch die Allee von Kohlsäter, und erst nachdem die alte Exzellenz das Zeitliche gesegnet hatte, erzählte der Hüter des Gesetzes von den geheimen Unterredungen, die er und Exzellenz miteinander gehabt hatten. Und die Dienstboten und der Großknecht konnten sich auf Tag und Stunde hin erinnern, wann es gewesen war. Nämlich genau zwei Tage vor der großen Entdeckung, daß unter dem Holzschober vom vorigen Jahr die halbverweste Leiche eines neugeborenen Kindes lag, dessen sich eine von den Mägden auf dem Hofe auf diese Weise entledigt hatte. Aller Gerechtigkeit und Ordnung zum Trotz entging sie auch der Strafe; denn niemand vermochte herauszubringen, wer die Schuldige war, wenn auch alle eine Bestimmte unter dem weiblichen Personal des Hofes in Verdacht hatten. Es war eine Dirne, die Björling früher heimlich besucht, jetzt aber längst verlassen hatte, weshalb sie auch vom Dienst im Herrenhause in die bescheidenere Stellung einer Stallmagd versetzt worden war.

Der alte Herr war nach diesem Tag nicht mehr derselbe. Am allersonderbarsten aber hatte er sich doch angestellt, als der Großknecht sich erdreisten mußte, zu ihm zu gehen und ihm die Geschichte mit dem unheimlichen Fund unter dem Holzhaufen zu melden. Er hatte den Großknecht bis zu Ende angehört, ohne ihn zu unterbrechen.

»Begrabt das Wurm und laßt mich in Frieden!« brach er plötzlich los.

Der Großknecht wagte einzuwenden, daß eine ungetaufte Leiche nach Recht und Brauch nicht in geweihter Erde begraben werden könne. Aber kaum hatte er diese Worte geäußert, als auch schon die Exzellenz mit geballter Faust auf ihn losfuhr. Die Augen waren blutunterlaufen, die Adern am Hals schwollen dick an und der weiße Schnurrbart sträubte sich, wie der Großknecht nachher berichtete, wie das Fell einer wütenden Katze.

»Sag' dem Schurken von Pfarrer,« brüllte er, »was da ist von dem Kind, soll begraben werden – und das gleich morgen!«

Der Großknecht ging. Natürlich wagte er des Gebieters Befehl nicht auszuführen. Denn der alte Propst in Bonga war ein gewalttätiger Mensch, dem keiner ungestraft Trotz bot. Dem Großknecht war ganz schwindlig zumute, als er über den Hof ging. Die Lästerworte des alten Herrn tönten ihm noch in den Ohren, und er dachte, die Exzellenz hätte wohl selber nicht mehr weit bis zum Grab. Darum schwieg er über das Erlebte. Die Überreste des kleinen Leichnams bestattete er selbst mit dem Stallknecht aus Barmherzigkeit auf dem Birkenhügel hinter der Scheune. Das geschah an einem dunklen Märzabend, und niemand außer den beiden, die die Arbeit verrichteten, kannte die Stelle. Das Grab wurde sorgsam mit Moos und Rasen zugedeckt, daß keine Spur verraten sollte, daß die Erde hier aufgegraben worden war. Und mit jedem Tag, der verging, ward dem Großknecht leichter ums Herz. Denn anfangs hatte er täglich und stündlich gefürchtet, der Herr würde sich erkundigen, ob man seinen Befehl betreffs des Pastors auch ausgeführt habe.

Aber der alte Herr hatte anderes zu denken oder hatte die Sache überhaupt vergessen. Niemals fragte er dem Schicksal der kleinen Leiche nach. Und mehr als nur das hatte er vergessen. Daß er für Schwedens Ehre gelebt hatte und die Bernadottes und deren ganzes Geschlecht haßte, daß das Leben ihm einen seiner Freunde um den andern geraubt und ihm dafür lauter Feinde gegeben hatte, daß er ein selbstherrlicher Mann war und – wenn das Schicksal es bloß gewollt hätte – auch ein großer hätte sein können – all das hatte er vergessen. Alles war im Dunkel seiner Seele versunken. Jetzt dachte er bloß noch an eins: Daß er seit mehr als zwanzig Jahren einsam auf Kolsäter lebte, und daß er seinen Chiffonniereschlüssel bewachen mußte, damit er ihm auch nicht einen Augenblick lang aus den Händen käme. Denn in der Chiffonniere lag sein letzter Wille, und den durfte niemand sehen, ehe er selber nicht mehr war. Mehr und mehr versank die alte Exzellenz in Dunkel. Nicht einmal Björling genoß mehr das Vertrauen seines Herrn. In der letzten Zeit lag er zu Bett und ließ sich das Essen bringen. Er behauptete dabei, er sei nicht krank, es sei ihm nur wohler im Bett. Aber das geringste Geräusch erregte seine Ungeduld, und so oft eine Treppe oder Tür knarrte, schellte er nach Björling und befahl ihm aufs strengste, acht zu geben, daß sich ja kein Schweinehund zu den Türen von Kolsäter einschleiche.

Am Tage seines Todes rief der alte Herr die Haushälterin herein und wies gleich darauf Björling die Tür.

»Er meint es nicht gut mit mir,« sagte Exzellenz. »Er hat es nie gut gemeint. Ich hab' ihn nur aus alter Gewohnheit behalten.«

Die Haushälterin bat mit Tränen in den Augen, daß sie den Propst holen dürfe. Exzellenz kicherte böse und wand sich im Bett.

»Weiß er mehr als Mamsell und ich? Nimm die Bibel und lies, wenn's ohne Narrheiten nicht abgehen soll!« sagte er barsch.

In ihrem Leben war die Haushälterin nicht so aufgeregt gewesen. Sie war froh, daß sie sich wenigstens an die Bibel halten durfte; aber was sie daraus las, davon wußte sie später nichts mehr.

Während sie las, schlummerte der alte Herr in die Bewußtlosigkeit hinüber, aus der er nicht mehr erwachen sollte. Die Haushälterin saß bei ihm, voller Angst, den Sterbenden zu stören, voller Angst, daß sie mit ihm allein war, und voller Angst, was der Propst dazu sagen würde, daß niemand ihn an das Sterbebett gerufen hatte. Als das Todesröcheln verstummte, glaubte sie steif und fest zu hören, wie eine Seele zur Hölle fuhr, obgleich sie natürlich nicht behaupten konnte, etwas Bestimmtes gesehen zu haben. Aber ihr war, als fühle sie in diesem Augenblick die Nähe des Bösen. In ihrer Angst sprang sie auf und öffnete die Fenster, daß die Mailuft ungehindert hereinströmte. Ums Leben hätte sie sich nicht ans Bett zurückgetraut, um dem Toten die Augen zuzudrücken.

Björling war's, der seinem Herrn diesen letzten Liebesdienst erwies. Er kam gleich darauf herein, und wie er auch sein mochte – Furcht vor der Exzellenz hatte er nie gekannt. Und wie es um seinen Christenglauben stand, war auch zum mindesten zweifelhaft. Björling war es auch, der unter dem Kopfkissen des Toten den Chiffoniereschlüssel fand und ihn an sich nahm. Darum glaubte aber doch keiner, daß er sich getrauen würde, vor dem folgenden Tage die Klappe aufzuschließen. Da kam der Kronvogt und bemächtigte sich unter Berufung auf der seligen Exzellenz Befehl des Testaments und des Kuverts, das seinen Namen und seine Adresse trug und zu oberst in der Ahornschieblade lag.

Nach der Beerdigung wurde das Testament im Beisein der nächsten Verwandten in der gebräuchlichen Weise geöffnet. Zu allgemeiner Verwunderung stellte sich dabei heraus, daß der alte Herr all seine Habe, bewegliche und unbewegliche, dem ehemaligen Leutnant, gegenwärtigen Hauptmann in der Armee, Karl Henrik Mörk, wohnhaft in Stockholm, vermacht hatte.

Drittes Kapitel

Inhaltsverzeichnis

Hauptmann Karl Henrik Mörk war, als dies Ereignis eintrat, ein Mann von kaum dreißig Jahren, und die Verhältnisse, unter denen dieser unerwartete Glücksfall ihn traf, waren ganz dazu angetan, ihn dessen Wert erkennen und schätzen zu lassen. Weder er selbst noch irgendein Mensch sonst vermochte recht zu fassen, wie die alte Exzellenz überhaupt auf die bizarre Idee gekommen war, diesem fast unbekannten Verwandten das ganze große Vermögen zu hinterlassen. Das einzige, was sich als eine Art Erklärung anführen ließ, war folgendes: Wie schon angedeutet, hatte die alte Exzellenz ein einziges Mal dem Kirchhof von Törsby, wo die Familien Mörk und Brandt so viele ihrer Toten beerdigt hatten, einen Besuch abgestattet. Sichtlich befriedigt von dem Erstaunen, das seine Anwesenheit hervorrief, hatte Exzellenz seinen Platz im Trauergefolge eingenommen, ohne mit jemand ein Wort gewechselt zu haben. Auf dem Kirchhof stand er ganz allein, und es sah fast aus, als merke er nicht einmal, daß sich ganz von selbst ein leerer Raum um ihn bildete. Korrekt und stramm stand er auf seinem Platz. Als der Pfarrer redete und er sich vermutlich unbeobachtet glaubte, zuckten manchmal die Muskeln in seinem Gesicht in einer Weise, die fast einem Lächeln glich. Als die Zeremonie zu Ende war, verabschiedete sich der alte Herr verbindlich von sämtlichen Anwesenden unter dem Vorwand, daß dringende Geschäfte ihn zwängen, sich unmittelbar wieder auf den Heimweg zu begeben. Und alle Anwesenden empfanden dies als eine Erleichterung.

Darauf promenierte Exzellenz einsam auf dem Kirchhof, da und dort bei einem der vielen Steine stehenbleibend, auf denen Familiennamen eingegraben standen. Er schien hierbei so ungeniert, als wären es lauter Unbekannte, die sich um das offne Grab des eben beerdigten Landrichters Mörk versammelt hatten. Auf dieser Wanderung war es gewesen, daß er mit dem damaligen Leutnant Karl Henrik Mörk zusammentraf. Dieser stand ebenfalls vor einem Grab, das auf der Westseite des Chores lag. Und vielen war es damals aufgefallen, daß die alte Exzellenz auf den jungen Mann zutrat, ihm zwei Finger hinstreckte und kurz fragte:

»Wer liegt hier begraben?«

»Mein Vater,« antwortete der junge Mann. »Er ist vor einem Jahr gestorben und ich habe seither sein Grab noch nicht aufgesucht.«

Dabei zitterte der Schnurrbart des jungen Mannes ein wenig. Denn er war ein Mensch, der leicht gerührt war. Und da Exzellenz nichts weiter äußerte, sondern ihn nur scharf fixierte, als mißtraute er dieser vor einem Fremden zur Schau getragenen Gefühlsweichheit, wurde der junge Leutnant ganz verwirrt und fuhr fort:

»Als er starb, war ich im Dienst. Und als der Brief kam, war es schon zu spät zum heimreisen.«

Da veränderte sich plötzlich der Ausdruck im Gesicht des alten Herrn, und dem jungen Mann grad in die Augen blickend, äußerte er mit einem finstern, schwer zu deutenden Lächeln:

»Ich habe meines Vaters Grab überhaupt nie gesehen. Die Wahrheit zu sagen, waren wir nicht die besten Freunde. Und als er starb, war ich im Ausland. Sein Grab ist es eben, das ich hier suche.«

Der junge Karl Henrik zeigte hierauf der Exzellenz, wo das Grab lag, und die beiden Männer schieden. Die Kutscher knallten mit den Peitschen, in rascher Fahrt rollten die Wagen durch den Aprilschmutz, der die Landstraße bedeckte. Den Abfahrenden den Rücken zuwendend, blieb die alte Exzellenz einsam auf dem Kirchhof zurück, über einen niederen eingesunkenen Stein gebeugt, auf dem des Vaters Name in halb unleserlichen, vom Regen und Schnee langer, entschwundener Jahre verwischten Buchstaben stand.

Das war das einzige Mal, daß der Verstorbene und sein Erbe einander gesehen hatten. Irgendwelcher stichhaltige Grund, aus diesem unbedeutenden Anlaß ein Vermögen wegzuschenken, war natürlich nicht vorhanden. Aber die selige Exzellenz war immer ein unberechenbarer Mensch gewesen, und da der Besitz durch dieses Testament doch wenigstens in der Familie blieb, verstummten die Neider diesmal eher, als man erwarten durfte, und Karl Henrik Mörk zog noch im selben Sommer mit seiner Familie nach Kolsäter, um von seinem Erbe Besitz zu ergreifen.

Alles stand im schönsten Flor. Seit Menschengedenken war kein so schöner Sommer gewesen. Der Roggen stand hoch und dicht, die Kleeweiden versprachen die üppigste Ernte, und im Garten reifte ein Reichtum von Obst und Gemüsen. Als die neue Herrschaft an einem schönen Abend gleich nach Mitsommer die lange Lindenallee herauffuhr, blühten Rosen, Jasmin und Heliotrop um das ganze Haus, und hinter den geschmeidigen Birken, die licht auf den grünen Matten standen, hoben sich die stattlichen Tannen und Kiefern des Wildparkes, der sich weit an den Ufern des Sees dahinstreckte.