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Gustaf af Geijerstam

Die Menschen auf Braenna

 
e-artnow, 2017
Kontakt info@e-artnow.org
ISBN 978-80-268-7535-2

1

Inhaltsverzeichnis

Kari, die Witwe auf Braenna, erwachte und lauschte in die Stille hinaus. Die Hündin, die den ganzen Tag geknurrt und nach dem Walde hinübergeblafft, hatte sich beruhigt. Das wütende Gekläff, das Kari in Schlaf und unruhige Träume begleitet hatte, war verstummt. Sie schloß die Augen, – wollte weiter schlafen, es war sicher erst Mitternacht, und die winzige, bleigefaßte Scheibe stand wie ein mattgrauer Fleck in der weichen Dunkelheit, Es hatte den ganzen Tag geregnet, aber jetzt hatte es aufgehört und der Wind hatte sich gelegt. Durch das dumpfe Brausen des Flusses, der jetzt in der Frühjahrsschmelze mächtig rauschte, hörte sie den spröden Ton von Tropfen, die vom Torfdach fielen.

Die Hündin heulte wieder, sie blaffte nicht, sie winselte unheimlich und jammernd, – nicht so, als wenn sie das Kommen von Leuten ankündigte oder als wenn Landstreicher den Hof betraten, so heulte sie auch nicht um Wölfe oder Bären. Sie hatte eine neue Sprache, die Kari nicht verstand, die sie aber mit stechendem Entsetzen durchfuhr, was ist das? dachte sie. Warum ist die Hündin so toll?

Beängstigende Gedanken strichen an Kari vorbei, Glut, die irgendwo schwelte, um dann loszubrechen, wie in jener Nacht, deren sie sich aus der Kindheit erinnerte, als der Vater sie fast nackt hinaustrug und alles um sie her in Flammen stand, – jener Nacht, als der väterliche Hof abbrannte.

Der Hund verstummte wieder, und die Stille, die nun eintrat, war wie etwas Lebendiges, – Kari meinte sie mit Händen greifen zu können. Aber nun war es wieder da, das, von dem sie nicht wußte, was es war und woher es kam, ob nur aus ihren eigenen ängstlichen Gedanken oder irgendwo weit draußen aus der Nacht, die über der Erde brütete. Es klang wie das Weinen eines Kindes.

Sie hielt den Atem an und lauschte, bis das Blut in den Schläfen zu klopfen begann und sie das Herz wie mit wehen, bangen Schritten schlagen hörte. So hatte sie wohl auch dagesessen und gelauscht, als sie ihr Kind verlor, das klein und hilflos in ihren Armen lag und weinte. Das kleine Mädel, das sie bekam, als ihr Mann schon fort war. Dies leise, gequälte Wimmern, – sie war hier umhergegangen und hatte darauf gelauscht, noch lange nachdem es verstummt war.

Sie schob die Felldecke zurück, stieg aus dem Bett und preßte das Gesicht gegen die Scheibe, aber durch das buckelige Glas sah sie nichts als eine graugrüne Dämmerung, in der undeutlich ein paar alte Schuppen und ein Stück von der regennassen Galerie des Wohnhauses wahrzunehmen waren, in der die Feuchtigkeit glänzte und an einem geschnitzten, verwitterten Pfosten niederrann.

Wieder winselte die Hündin, kurz, heiser, kläffend, fast wie ein Fuchs, und jeder Ton schnitt Kari mit dumpfer Unruhe in die Brust. Ein Frösteln überlief sie, aber sie konnte sich nicht entschließen, wieder zu Bett zu gehen. Es war, als würde sie dort draußen gebraucht, als verlange irgend etwas nach ihrer Hilfe.

Still blieb sie am Fenster stehen und lauschte und wieder strich es an ihren gespannt wachen Sinnen vorbei, dies schwache Wimmern eines weinenden Kindes, wenn sie die Augen schloß, hörte sie es näher, stärker – es war, als hätte es lange geweint und wäre müde geworden. Es kam nicht vom Hof her – aus den alten Häusern und Gebäuden, die ihn schweigend umgaben. Die Nacht selber trug es von irgendwoher mit sich, von dort, wo die Felder aufhörten und der Wald begann, dunkel unter grauen Hochebenen und Bergen mit Schneestreifen.

Es ließ nicht nach. Kari zog einige Kleider an und ging zögernd zur Tür. Die Klinke kreischte so laut in der Stille, daß sie zusammenfuhr, der alte bekannte Ton, den sie sonst nicht beachtete, erschreckte sie so, daß sie fast umgekehrt wäre. Leise schlich sie sich durch die große Stube. Sie hörte das schwere Atmen der Knechte und die alte Ingrid, aus deren Nase ein Pfeifton kam, wenn sie schlief, wie das Zischen einer zornigen Wandermaus.

Sie stand draußen in der Galerie und sah, wie hell die Nacht war, – obwohl der Nebel wollig und schwer über allen Bergen lag. Nein, es regnete nicht mehr, aber alles glänzte kalt von Feuchtigkeit, – die ausgetretenen Steine der Türschwelle, das harte, welke Gras auf den Hausdächern, wohin die Ziegen nicht kamen. Und es roch streng und kalt nach Humus und Dünger von frischgepflügten Ackern.

Die Hündin kam herangeschlichen, grau, mit angelegten Ohren, den buschigen Schwanz zwischen die Beine geklemmt. »Still, Paßauf!« Sie beschwichtigte den Hund, als er Laut geben wollte, und er folgte ihr zögernd, als sie auf das große Einfahrttor zuging, das schwer, verschlossen und dunkel zwischen mächtigen Pfosten hing. Sie schob es einen Spalt weit auf und lockte den Hund, aber er wollte nicht, – er kroch hierhin und dorthin, und als sie ihn wieder scharf und bestimmt rief, rannte er zwischen die Gebäude und kam nicht wieder zum Vorschein. Unsicher blieb Kari in dem großen Tor stehen, was hatte der Hund nur? Ihr wäre es wie ein Gefühl der Sicherheit gewesen, ihn mitzunehmen. Am liebsten wäre sie zurück ins Haus gegangen, aber sie blieb doch stehen, während sie das Gefühl hatte, daß ringsum Gefahren lauerten, im Dunkel der Galerien und der verschlossenen Räume, auf den weiten Äckern, die sich mit sprossendem Korn und Gras dehnten, in dem schwarzen Wald und dem Nebel, der sich an grauen Hügeln mit zerzausten, winterverheerten Bäumen festklammerte. Alle Berge lagen in schwere, schwarze Wolken eingehüllt. Alles war so flach, fremd und unendlich. Traurigkeit beschlich sie, eine Lebensmüdigkeit, wie sie nie gekannt hatte, wieder dachte sie an das Kind, das sie verloren hatte, die Brust schmerzte. Alt fühlte sie sich, – klein, weich und schwach, wie sie hier stand, während rings alles schlief.

Alles um sie her, was ihr eigen war, wurde so klein, und sie selber auch, – sie war nur ein winziges kleines Ding, das hier in der Nacht stand, ohne zu wissen, warum. Sie begriff es nicht, – sie war doch sonst nicht so, – was ging nur in dieser Nacht mit ihr vor?

Wie sie da etwas gebeugt und grübelnd stand, die kräftige, aufrechte Gestalt, die den Kopf so sicher trug, die breite Stirn unter dem blonden Haar, das straff über die Schläfen gekämmt war, die großen grauen Augen, der Mund mit den schmalen Lippen, die energische Rundung des Kinns, – lag eine Last auf ihr, und sie hatte nicht die Festigkeit und Ruhe, wie ein Mensch sie hat, der eine Verantwortung trägt, der herrschen muß.

Plötzlich stand der Hof vor ihren Augen, wie er damals gewesen war an jenem Johannistage, da sie als Braut hier einzog, – funkelnde Sonne auf allen Höhen, alle Häuser mit Blumen und Grün zum Fest geschmückt, das gellende, hitzige Kreischen der Fiedeln und die Schüsse, die von den Bergen widerhallten, als sie und per durch das laubgeschmückte Tor ritten, und das Pferd, durch all den Lärm aufgeschreckt, sich aufbäumte, so daß sie fast die schwere vergoldete Brautkrone verloren hätte, die sie auf dem vollen Haar trug.

Auf dem Hof trat ihnen der Küchenmeister entgegen mit dem Willkommenstrunk in einem großen Silberbecher. Per trank daraus, und als sie getrunken hatte, nahm er den Becher, drückte ihn übermütig und lachend zwischen den starken Händen platt und schleuderte ihn unter die Leute. Sie erinnerte sich dieser Zeit, – festliche Tage und Nächte waren es, und über allem Per, der Mann, groß und stark. Ach ja, – Herrgott. Aber plötzlich lachte sie. Ihr fiel ein Wettreiten ein, das sie unternommen, – die Pferde hatten sie mit Bier wild und toll gemacht, und wild und toll waren auch die Reiter. Damals war es ihr nie eingefallen, vor irgend etwas Angst zu haben, was sie auch ausfindig machten, was sie auch taten, es war alles nur Spiel.

So lange Per lebte, lebten auch Hof, Wald und Felder, – alles lebte. Es waren schöne Jahre. Dann kam der Unfriede mit den Schwedischen, – er zog fort und kam nicht zurück. Er hätte zu Hause bleiben können, hätte nicht mitzuziehen brauchen, aber das lag ihm nicht. Und so schlimm es war, empfand sie es doch als einen Stolz, daß er so gewesen.

Nein, er kam nicht wieder. Kari starrte auf all die Jahre, die sie hier umhergegangen war und gewartet hatte, – gewartet, weil sie nie Gewißheit bekam. Er kehrte nicht zurück, – wo er gefallen war, wann und wie, das hatte sie nie erfahren. Nur die Jahre, die eins nach dem andern vergingen, löschten die Hoffnung aus, daß er endlich einmal wiederkommen würde.

Und die Jahre, die seitdem vergangen waren! Die Söhne hatte sie, Peter und Stig, und dann das Kleine, das sie verlor, das allerliebste, vielleicht weil der Tod es genommen hatte oder weil sie es gerade zu der Zeit bekam, als sie einsam wurde. Sie hatte keinen neuen Mann genommen, obwohl Freier genug gekommen waren, und die Leute hatten genörgelt und geredet, wie sie es zu tun pflegen, wenn einer seinen eigenen Weg geht. »Ich kann ja nicht sicher sein, daß ich wirklich Witwe bin«, sagte sie wohl, wenn sie gut gelaunt war, ganz und gar war das nicht Scherz, denn im vollen Umfang konnte sie es nie verstehen, konnte nicht glauben, daß Per tot war.

So war sie ihren einsamen Weg gegangen, den Hof und alles, was zum Hofe gehörte, hatte sie geleitet. Hart hatte sie sich gemacht, zunächst weil sie glaubte, das müsse so sein, um die Leute zum Gehorsam zu zwingen, dann aber war es ihr eine Gewohnheit geworden.

Die Leute vergaßen, daß sie jung war, ja, sie vergaß es selber. Ihr Leben war zu Ende, obwohl sie Witwe geworden war, ehe sie noch ihr dreißigstes Jahr vollendet hatte. Ihre Freude war es, auf dem großen Hof umherzugehen, zu sehen, wie alles sich ordnete und wie nichts unter ihren Händen verloren ging, Die Familie wollte sie vorwärtsbringen und das, was der Familie gehörte. Ihren Söhnen konnte sie dies alles einmal geben, was ihr zu verwalten zugefallen war. Sie sollten sehen, daß sie es nicht verringert hatte.

Sie stand da und vergaß, was sie eigentlich veranlaßt hatte, hinauszugehen. Und während die Erinnerungen auf sie einströmten, fühlte sie sich wieder jung – all das, was sie in den vielen Jahren nicht berührt hatte, tauchte empor, kam auf kleinen, behutsamen Kinderfüßen herangetrippelt. Sie fühlte es wie rosige, weiche Händchen auf ihrer Brust, kleine, gierige Mündchen, die von ihr lebten. Sie errötete lieblich und jung, wie sie da stand, und die Glut, die auf Wangen und Hals brannte, war wohltuend und voller Süße.

Das Geheul des Hundes oben zwischen den Gebäuden riß sie plötzlich in die Wirklichkeit zurück. Sie schloß die Augen, denn dort unten, wo der Wald schwarz an das bebaute Feld grenzte, hörte sie wieder das zarte Wimmern eines Kindes, das nach Luft rang. Und jetzt hörte sie, bang und wunderlich zärtlich zugleich, daß jemand weinte, war es das ausgesetzte Kind, das dort am Waldmoor umging, das zwischen Gras und Wurzeln umherkroch und nach christlicher Erde, nach Wärme und Frieden jammerte?

Das Kind, das hier auf Braenna umhergegangen war, von dem die Leute erzählten – ja, die alte Ingrid hatte kleine, blutige Kinderspuren auf dem gefrorenen Schnee gesehen, wenn das Licht durch die mit Eisblumen bedeckten Fenster darauf fiel. Kari fühlte, wie ihr heiß und heftig, in einer Woge von Zärtlichkeit, die Tränen in die Augen stiegen. Daß eine Mutter so an ihrem Kinde handeln konnte!

Sie wollte das suchen, was dort im Waldesdunkel weinte, wollte es suchen und ihm helfen, wenn Gott wollte, würde es wohl Frieden finden. Wenn sie Jesu Namen nannte, würde es in der Erde schlafen können, ohne den Himmel zu vermissen, der ihm verschlossen war. Daß eine Mutter so etwas tun konnte!

Rasch, als fürchte sie, schwankend zu werden, sich anders zu besinnen, ging sie über den Acker, vorbei an dem großen Hünengrab mit den alten, kahlen Espen und den mächtigen Steinen, die in einem Kranz den Fuß des Hügels umgaben. Unwillkürlich trat sie vorsichtiger auf, aber alles war still – der Hüne schlief wohl in seinem steinernen Hause, schlief, wie alles schlief in dieser seltsamen Nacht. Jetzt heulte der Hund wieder oben auf dem Hof – es war, als rufe er nach ihr, als warne er sie.

Kari faltete die Hände, als sie weiter ging. In Jesu Namen, flüsterte sie leise, in Jesu Namen.

Da hörte sie einen lauten, drohenden Ton in dem Hünengrabe hinter sich, als ob ein Hammer auf einen Amboß schlägt. Der Ton hing lange in der Luft, wie das Klingen einer großen Kirchenglocke.

Es war sehr seltsam, aber sie bekam keine Angst. Vor ihr lag der Hochwald, dessen weiße Birken koboldhaft und verkrüppelt zwischen trotzigen Tannen und knorrigen Kiefern leuchteten. Die dichte Wacholderhecke, die das bebaute Feld schützen sollte, lag schwarz und von dem schweren Schnee des Winter plattgedrückt da. Kari stand einen Augenblick still und lauschte in die Dunkelheit, – aber jetzt hörte sie nichts. Leise ging sie weiter. Es roch streng nach vermodertem Laub und tauendem Boden. Überall sickerte und tropfte es von Feuchtigkeit.

Plötzlich schoß ihr das Blut zum Herzen – ihr wurde so seltsam und beklommen zumute –, leibhaftig und nah hörte sie Wimmern und ein müdes Schluchzen –, so wie Kinder wimmern und schluchzen, wenn sie sich in Schlaf weinen. Sie tastet sich in den Wald hinein, dem Ton folgend, und dort unter einer hängenden Tanne sieht sie es liegen, ein kleines, nacktes Mädchen, das die Beine an den Leib gezogen hat.

Es lebt, sie sieht, daß es sich bewegt. Kari preßt zornig den Mund zusammen, hebt das Kind auf und hüllt den blaugefrorenen, zitternden, kleinen Körper in ihren Mantel. Sie sieht sich rasch um, blickt auf das Gesichtchen, das vom Weinen verschwollen ist. Pack! murmelt sie vor sich hin, so gehen Tiere nicht mit ihren Jungen um!

Es funkelt etwas mit nassem Glanz im Moos zu ihren Füßen, – sie hebt es auf. Alte, vergoldete Münzen, Löwen und allerlei Figuren, auf eine kunstvolle Kette gezogen, die aus goldenen, verflochtenen Fäden geschmiedet ist. Das Geschmeide schimmert so seltsam hier in der Dunkelheit, es ist, als brenne es ihr auf der Hand, und sie wirft es von sich – es war kalt wie eine Schlange.

Da hört sie die Hündin wieder heulen, – und ein Schreck durchfährt sie, – ist das ein Echo, das hinter ihr aus dem Walde mit langem, zitterndem Schrei antwortet?

Rasch tastet sie sich zurück. Zweige, die schwer sind von kalter Nässe, schlagen ihr in das Gesicht, sie stolpert über glatte Wurzeln und welkes Gras; sie hält das Kind so fest, als hätte sie Angst, es würde ihr aus den Armen verschwinden. Sie will nicht hören, nur gehen, nach Hause kommen, aber da ertönt hinter ihr wieder der Schrei wie ein gellendes Lachen, – oder ist es ein Weinen?

Der Wald wird lebendig um sie her, es tappt neben ihr dahin, behutsam und schleichend, in Schatten und Finsternis verborgen. Wenn sie stehen bleibt, schweigt alles, lauert, wartet, – und wenn sie geht, kommt es wieder mit.

Wieder und wieder hört sie das Lachen hinter sich, – es wächst an zu herzzerreißendem, heulendem Weinen. Das Kind in ihren Armen beginnt zu schreien, lauter und immer lauter, zappelt mit Armen und Beinen, wirft sich hin und her, – es ist, als riefe es nach irgend etwas drinnen im Walde und bekäme Antwort.

Sie versucht es zu beschwichtigen, redet ihm gut zu, aber es will nicht verstummen. Außer sich, zerrt sie das Mieder auf, reißt das Hemd in Fetzen und legt das Kind an die Brust. Die kleine Nase stößt suchend gegen ihre nackte Haut, die harten Gaumen saugen sich fest und zerren gierig an der leeren Brust.

Mitten in der Angst quillt wieder die Zärtlichkeit in Kari auf. Sie fühlt sich so matt und weich, daß sie sich am liebsten hinsetzen und weinen möchte, – so hat seit so vielen Jahren kein Kind an ihrer Brust gelegen.

Sie geht weiter, taumelt aber so, daß sie zu fallen fürchtet, und die leere Brust beginnt zu brennen und zu schmerzen, – so wie damals, wenn sie mit so einem kleinen Wesen an der Brust eingeschlafen war.

Zwischen den Bäumen wird es hell, – der Wald lichtet sich, sie ist bald wieder daheim, geht unwillkürlich rascher. Als sie hinter dem Zaun auf den Feldern ist, sieht sie, daß der neue Tag zu dämmern beginnt. Hinter sich hört sie wieder den Schrei, und jetzt bekommt er Antwort, – oben von den schwarzen Höhen, wo die Wolken mit hellen Schneeschauern treiben, aus der Unendlichkeit des Waldes unter den schroffen Bergen, – von den weiten Sümpfen her. Als sie durch den großen Torweg geht, fährt der Hund kläffend auf sie zu, – sie beschwichtigt ihn, aber er will nicht still sein, er bellt ihr rasend nach, mit gesträubten Nackenhaaren, als wäre sie eine Fremde.

Als sie leise durch die große Stube in die Schlafkammer schleicht, hört sie einen der Knechte stöhnen, verdrießlich und schläfrig gähnend: »Ich glaub, der Teufel ist in den Wolf gefahren, – es ist, als hätte jemand ihm die Jungen genommen.«

In aller Eile schließt Kari die Tür, legt das Kind auf das Bett und macht Feuer an. Dann wärmt sie Milch, nimmt das Kind auf, um ihm die Milch zu geben, aber es will sie nicht haben, – ihre Hände beginnen zu zittern, so daß sie die Milch verschüttet, – sie sieht, daß das Kind am Munde blutig ist.

Sie entblößt ihre Brust; aus kleinen Bißwunden rinnt das Blut über die weiße Haut, – das Hemd ist blutig.

Frierend zieht sie die Kleider wieder an, – legt das Kind unter die Felldecke des Bettes, setzt sich selber auf die niedere Bank am Fenster und legt den Kopf auf die Hände. Seltsam, das Schmerzen und Brennen in der Brust war wie eine Liebkosung. Die kleinen Bisse, – sie hatte das Gefühl, von ihnen gezeichnet zu sein, und als würden sie nie verheilen und vernarben ...

Schließlich schläft sie ein, und in den Träumen, die kommen, sieht sie einen Wolf auf den Hinterbeinen stehen und durch das Fenster in die Stube sehen; aber er hat nicht die schiefen, lauernden Augen des Wolfes, nein, sie sind tief und leer wie die Augen eines kleinen Kindes.

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Als sie steif und durchfroren erwachte, war es voller Tag, aber grau und schwer, und der Regen goß in Strömen. Zuerst meinte sie geträumt zu haben, dann aber gewahrte sie das Kind im Bett.

Die Knaben erwachten. Peter quiekte munter und bemerkte das, was in Mutters Bett lag.

»Nein, sieh nur«, sagte er zu dem Bruder. Sie krochen aus dem Bett, standen verwundert da und gafften. – »Wo hast du das her?« fragte Peter. Er war der Mutter ähnlich, blond und starkgliedrig wie sie. Stig war dunkel und zart, das Ebenbild des Vaters.

»Ich habe das Würmchen im Walde gefunden«, erwiderte Kari und erzählte einiges.

»Hat das über Nacht so geschrien?«

»Nein, das ist wohl der Wolf gewesen.«

»Daß der Wolf es nicht gefressen hat!« sagte Peter mit großen, bangen Augen.

»Nein, aber jetzt mußt du gehen und die alte Ingrid um warme Milch bitten.«

»Was ist das für ein Geschwätz?« sagte die alte Ingrid in der Tür. »O je«, rief sie und schlug die Hände zusammen, als sie das Kind im Bette bemerkte, »nein, Gott tröste uns, ich dachte, die Jungen schwatzten nur Unsinn! wo hast du das her?«

Kari errötete. Daß sie auf all dieses antworten und all dieses über sich ergehen lassen müßte, hatte sie nicht gedacht – all dieses Gerede hier und im ganzen Tal.

»Hast du es im Walde gefunden?« Die alte Ingrid wischte sich mit zitternder Hand die Nase und starrte angstvoll auf ihre Herrin. »Ich hörte wohl, daß eine Tür klappte. Dann bist du also draußen gewesen? O Gott behüte mich vor allem Bösen, was über Nacht unterwegs war! – Daß du das Kind genommen hast!« Es war, als könne sie es nicht glauben, – sie wiederholte es wieder und immer wieder. »Wem magst du es wohl genommen haben? Wahrscheinlich Zigeunern.«

Karis Stimme war ruhig, aber innerlich zitterte sie. »Zigeuner, nein, Zigeuner... Seit dem Winter sind doch keine Zigeuner hier gewesen.« Und ihre Kinder so in den Wald zu legen, lebend und hilflos, das tun Zigeuner doch nicht, das hatte die alte Ingrid nie gehört.

Draußen in der großen Stube, wo das Gesinde bei der Morgenvesper saß, war es ganz still geworden. Die Tür stand offen, – sie saßen und lauschten.

Die alte Ingrid spuckte auf den Boden und bekreuzigte sich, als das Kind im Bett zu wimmern begann. »Das klingt, als ob es ein Fuchsjunges wäre. Leg das Kind wieder dahin, wo du es hergenommen hast, Kari! Wie kannst du nur so etwas aufsammeln – es dem Walde stehlen? Zigeuner? Ja, wenn es ein Zigeunerkind ist, so rächt sich das, denn Zigeuner sind eben Zigeuner. Sie kennen ihre Leute, vielleicht kommen sie eines Tages und verlangen das Kind zurück. Und dann wollen sie nicht nur den Körper haben, wenn diese Leute, die weder an Gott noch an den Teufel glauben, das Kind aussetzen, so tun sie es aus Gründen, die man nicht auszusprechen und nicht zu denken wagt.«

Die alte Ingrid trat zu dem Kinde und sah es an. »Es sieht nicht wie ein Zigeunerkind aus.« Sie hob es auf, drehte und wendete es mit ihren harten Fingern hin und her. Irgendein Koboldzeichen hatte es nicht, so viel sie sehen konnte, – auch keine gespaltenen Ohren, aber ... sah Kari es wohl? ... das Kind hatte zwei kleine spitze Zähne! Gott schütze den, der so etwas nähren sollte! Und die Brauen, die in schwarzem Flaum über der Nasenwurzel zusammentrafen, – das Werwolfszeichen. Milch? O ja! Sie wollte ihm Milch geben: Ratten sollte es kriegen und Fellabfälle!

»Laß das Geschwätz,« fuhr Kari auf und schickte Ingrid und die Söhne hinaus. »Narrengeschwätz!« sagte sie zu sich selber, und setzte sich mit dem Kinde auf dem Schoß auf den Bettrand, um es zu füttern. Die Hand zitterte ihr, sie verschüttete Milch auf den Fußboden, aber doch klang ihr das Geschwätz der alten Ingrid in den Ohren. Nein, sie hätte nicht auf das hören sollen, was draußen in der Nacht rief und lockte, – hätte sich nicht darum kümmern sollen. Jetzt war es hier, würde heranwachsen, hier leben.

Es stach ihr in der Brust, brannte und schmerzte in den kleinen Wunden. Dennoch traten ihr die Tränen in die Augen vor unruhiger, scheuer Zärtlichkeit, als sie das Kind durstig und gierig trinken sah.

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Eines Tages vermißten sie den Hund, – er war verschwunden und blieb verschwunden, wie sie auch lockten und suchten; er mußte davongelaufen sein, oder der Wolf hatte ihn genommen, die alte Ingrid ging schimpfend umher. Das Tier weiß, was es tut, murrte sie, wären wir nur alle so gescheit wie der Köter.

Die alte Ingrid war in den Viehstall übergesiedelt, lag dort in einem leeren Stand, denn wie das Kind schrie, das konnte sie nicht länger anhören, – es schrie Nacht wie Tag. Nein, in der Nacht schlaflos liegen und den ganzen Tag um dieses Wechselbalgs willen verschlafen umhergehen, dann wollte sie lieber da liegen, wo sie jetzt lag! »Sie schreit ja nicht wie ein Christenmensch!« sagte sie.

»Da kann wohl Rat werden«, erwiderte Kari kurz. Sie hatte daran gedacht, daß es wohl nicht getauft sei. Wenn sie nur das Kind in Gottes Hände legen könnte, würde sie Hilfe und Frieden finden, und all das, was sie schreckte, würde verschwinden. Immer größer war ihr Mitgefühl für das Würmchen geworden. Je mehr sie die düsteren Mienen der Leute sah und das zornige Murren der alten Ingrid hörte, um so stärker wurde ihre Zärtlichkeit.

Die alte Ingrid stimmte ein häßliches Lachen an. Das Kind taufen? Im Feuer vielleicht? Wer sollte im Kirchenbuch als Vater stehen? Der Wolf etwa? Und als Mutter? Hexen und Kobolde? Wo wollte sie einen Vater hernehmen? Wölfe und Käuzchen, all das Getier, das ebenso unheimlich schrie wie das Kind selber. Die alte Ingrid war gewohnt, alles zu sagen, was sie wollte, da sie schon so lange auf dem Hof war. Und niemand hörte mehr auf ihr Mundwerk. Aber jetzt bekam sie Angst, als sie Kari ansah. In jähem Erschrecken kam ihr plötzlich der Gedanke: Jetzt jagt die Kari mich vom Hof!

»Ja, ich habe eben über die Paten nachgedacht«, sagte Kari mit kalter Stimme. »Ich hatte dich ausersehen, das Kind zu tragen.«

»Mich?« stammelte die alte Ingrid und wehrte mit den Händen ab, »mich?«

»Ja, jetzt hast du es gehört!« Kari fragte nicht mehr, sie gab nur ihren Willen kund.

»Du ... du versündigst dich!«

»Ich versündige mich?« fiel Kari ein, »an dem Kind oder an dir?« Sie trat näher an die alte Ingrid heran und sagte leise: »Du hast hier ja kein Altenteil, soviel ich weiß!«

Die alte Ingrid brach fast zusammen. Sollte sie in solche Schande kommen und das um des Kindes willen! Sie wollte gehen, wagte es aber nicht, Kari blickte sie so seltsam an. »Es sei, wie du willst«, murmelte sie und eilte davon, damit Kari nicht sehen sollte, daß sie weinte.

Geduckt und wütend ging sie von nun an umher und schimpfte. All das, was sie Kari nicht zu sagen wagte, sagte sie zu den Leuten.

»Ach, die Kari weiß selber am besten, wer die Eltern des Kindes sind, sollt ich meinen«, grinste einer der Knechte.

Das mußte Kari erfahren haben; einige Tage darauf, als der Knecht im Stall war und die Pferde fütterte, kam sie auch hin. Sie tadelte etwas an dem Geschirr, das nicht so war, wie sie es haben wollte, und als der Knecht eine Antwort gab, sagte sie nur: »Du kannst morgen gehen!« Dann entfernte sie sich, ohne all das zu hören, was er, gekränkt und wütend, ihr nachrief. Die Kari mußte wirklich verhext sein, daß sie einen der besten Arbeiter mitten in der eiligsten Frühjahrsarbeit wegschickte.

Die Kari war nicht mehr die Alte, sie ging umher, als sei sie ständig auf der Hut, und alles Geschwätz verstummte, wenn sie kam. Die alte Ingrid zog wieder aus dem Stall aus, sie war ganz außer sich, wagte nicht länger dort allein abseits von den andern Leuten zu liegen, seit sie hatte versprechen müssen, den Wechselbalg über das heilige Wasser der Taufe zu halten.

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Es regnete und regnete, – der Fluß stieg, grau von Schlamm wälzte er sich das Tal entlang, überschwemmte Feld und Sumpf, nahm Bäume und Mühlen hinweg, hier und da wurde eine Pfahlbrücke vom Ufer losgerissen und schwamm auch mit. Mächtige Lawinen stürzten die schroffen Hänge hinab, zogen mit Geröll, Erde und entwurzelten, geknickten Bäumen breite, braune Furchen durch den schmelzenden Schnee. Es half nicht viel, daß sie gesät hatten, – das Regenwasser rann in starken Strömen über die steilen Äcker und schwemmte das sprossende Korn mit. Das Futter für das Vieh begann knapp zu werden, – es konnte bei diesem Wetter nicht auf die Koppel. Nur Schafe und Ziegen grasten draußen, aber es dauerte nicht lange, bis sie nach Hause zurückkehrten, vor dem Stall standen und jammerten, während sie die Nässe abzuschütteln versuchten.

Unten in den Tälern regnete es, – auf den Bergen gab es Schnee, schweren, nassen Schnee. Die auf den Almen gewesen waren, sagten, daß weder Menschen noch Vieh durchkommen könnten. An solchen Schnee zu dieser Jahreszeit konnte sich niemand erinnern, wenn jetzt die Wärme zu rasch kam, so würde es eine Überschwemmung geben. Das konnte für die Leute in der Niederung schlimm werden, denn dort stürzte sich die Björn wildtosend vom Hochgebirge in den Nordfluß, der schwer und mächtig mit gewaltigen Wirbeln und weißköpfigen Stromschnellen durch das Tal zog.

Aber die alte Ingrid war es wohl zufrieden, denn so lange solches Wetter war, würde man sie wohl in Ruhe lassen. Es war nicht daran zu denken, zur Kirche zu fahren, wenn Kari wirklich so verrückt war, daß sie das, was sie damals gesagt, im Ernst gesprochen hatte.

... »Sieh, was ich gefunden habe«, sagte Peter eines Tages, als er hereinkam, und zeigte eine lange Kette mit alten vergoldeten Münzen und Figuren daran. Kari wurde bleich. Die Leute drängten sich um Peter. So etwas hatte keiner von ihnen je gesehen.

»Wo bist du gewesen?« Karis Frage durchschnitt das leise, verwunderte Geschwätz. »Was hattest du im Walde zu tun?« Sie faßte den Sohn bei der Schulter und schüttelte ihn. »Wo bist du gewesen? Wo hast du dies gefunden?« Der Schmuck gleißte vor ihren Augen wie damals, – kalt wie eine Schlange.

»Er lag auf der Treppe zum Holzschuppen«, flüsterte Peter erschrocken und begann zu weinen, obwohl er es nicht wollte, – es war so peinlich, alle Leute sahen ihn an. Am liebsten hätte er sich bei der Mutter verkrochen, aber das wagte er nicht. Er stand nur und rieb sich mit der geballten Faust immer wieder die Augen.

»Lüge nicht!« Kari umklammerte seinen Arm, »lüge nicht! Wo hast du dies gefunden? Du mußt es sagen!« Ihre Stimme bettelte förmlich.

Peter sah die Mutter unschlüssig an. »Es lag auf der Treppe.« »Du darfst mich nicht belügen, – du sollst es sagen, wie es ist. Du hast dies im Walde gefunden?« Sie schüttelte ihn wieder.

»Ja–a«, schluchzte er unsicher.

»Siehst du, – also hast du gelogen!« Kari ließ ihn los, ganz erschrocken, denn sie wußte ja, daß ihr Sohn jetzt log und daß sie ihn dazu getrieben hatte. Plötzlich bemerkte sie die Gesichter all der Leute, die sie ansahen, fragend, erschrocken und beschämt. Sie versuchte zu lachen, brachte es aber nicht fertig. Hilflos sagte sie. »Ich dachte schon, der Bub hätte im Hünengrab gestohlen!« Sie merkte, wie alle um sie her bei den groben Worten zusammenfuhren, – daß sie so etwas von ihrem eigenen Sohn sagen konnte! Sie nahm die Kette und ging in die Schlafkammer. Hinter sich fühlte sie die Stille, die von keinem Gemurmel unterbrochen wurde, nicht einmal als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte. Sie nahm das Kind auf und legte es auf ihren Schoß. Als sie seinen Augen begegnete, sah sie, daß es sie kannte. Es zappelte mit den Armen, als wolle es sie ihr entgegenstrecken, und sie hatte das Gefühl, daß es ihr zulachte. Es tat so seltsam wohl, so zu sitzen. Ihr war, als gehöre das Kind ihr allein, wie nichts anderes, was sie je besessen hatte. Lange saß sie so und wiegte es bin und her, – ja, es tat wohl, so zu sitzen.

Plötzlich begann das Kind zu weinen. Kari meinte nie ein Kind gesehen zu haben, das so unvermittelt, während es noch eben gutgelaunt war, zu schreien beginnen konnte, ohne jeden Grund, und dann war es nicht zu beschwichtigen, was sie auch anfing. Es war, als weine es nach etwas, was sie ihm nicht geben konnte. Sie nahm den Schmuck, den sie von sich geworfen hatte, und hielt ihn dem Kinde hin. Es griff danach und verstummte sofort. Doch als Kari die Kette wieder wegnahm, aus Angst, das Kind könne sich daran weh tun, begegnete sie wieder den seltsamen Augen, was sie in ihnen sah, konnte sie nicht erklären, aber von neuem überkam sie die dumpfe Angst, – sie wußte nur nicht, wovor.

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Am Tage darauf sagte Kari zu der alten Ingrid: »Am kommenden Sonntag müssen wir mit dem Kinde zur Kirche fahren.« Die alte Ingrid wand sich, versuchte gütlich auszuweichen: Man müsse doch wohl das Wetter abwarten! Kari hörte nicht auf sie.