Yo-Ho Piraten

 

 

13 unterhaltsame Kurzgeschichten

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Marc Hamacher (Hrsg.)

 

 

 

 

Leseratten Verlag

 


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Yo-Ho Piraten

ISBN 978-3-945230-25-1

1. Auflage, Allmersbach im Tal 2017

 

 

 

Cover: Tanja & Marc Hamacher

Satz und Layout: Tanja und Marc Hamacher

Lektorat: Tanja und Marc Hamacher

Herausgeber: Marc Hamacher

 

 

© 2017, Leseratten Verlag, Allmersbach im Tal

 

www.leserattenverlag.de

 

 


 

 

Vorwort

 

Nach dem aberwitzigen Erfolg mit der FUNTASTIK Anthologie, dem definitiv lustigsten Buch des Jahres 2016, war es wirklich nicht einfach, eine neue Idee für 2017 zu finden. Es gibt so viele interessante Figuren und Berufe, über die man ein Buch machen könnte. Aber von einer besonderen Sorte hatte ich schon länger nichts mehr gelesen: Piraten!

Natürlich sind die Filme von Disney und vor allem Johnny Depp in aller Munde, Augen, Ohren und vielleicht auch noch sonstigen Organen. Aber mir ging es darum, eine Geschichtensammlung voller mutiger Piraten zusammenzustellen, die sich damit messen können.

Das vorliegende Buch zeigt, dass ich mich zurecht auf die Fantasie der Autorinnen und Autoren in Deutschland verlassen kann. Uns erreichte ein Sammelsurium an verschiedensten Geschichten mit unterschiedlichen Stimmungen. In den meisten Beiträgen geht es rumhaltig und abenteuerlich, aber zum Glück auch nicht immer zu ernst zur Sache. Und wir haben auch ganz außergewöhnliche Ideen dabei: Eine Piratengeschichte mit charmantem und kindgerechtem Flair. Piraten nicht nur in der Karibik, sondern auch in der Ostsee. Einige der Piraten fliegen sogar durchs All.

Für Freunde der FUNTASTIK gibt es hier und da ein Wiedersehen mit alten Bekannten. Aber auch neue Autoren haben es in dieses Buch geschafft. Für mich als Verleger ist es immer wieder eine faszinierende Offenbarung, was sich so in den Köpfen der deutschen Fantasten abspielt. Ich hatte meinen Spaß beim Lesen und das wünsche ich auch jetzt allen Leseratten an Bord mit unseren Literapiraten.

 


 

 

Muna Bering

 

Muna Bering – 1975 in Hannover geboren, heute wohnhaft in Franken – hat vermutlich wenig Talent zur Seeräuberei denn:

Sie liebt zwar das Meer, wird aber schnell seekrank.

Trinkt lieber Tee als Rum.

Trotzt jedem Wetter auf ihrem gelben Fahrrad, statt an Bord eines Schiffs.

Hält sich keinen Ara, freut sich dafür jeden Tag über ihren wunderschönen Hund.

Hat keine raubeinige Mannschaft, sondern einen weitestgehend zivilisierten Mann an ihrer Seite.

Erlebt gerne Abenteuer, tut dies jedoch überwiegend im Lesesessel, im Kino oder am Rollenspieltisch.

Kann sich für Schauriges erwärmen, wird aber beim Anblick ihres eigenen Bluts blass um die Nase.

Ist schon viel in der Welt herumgekommen, leider ohne irgendwo Angst und Schrecken zu verbreiten (zumindest nicht absichtlich).

Immerhin kennt sie schmutzige Lieder, hat schon einmal einen Hausboot-Urlaub gemacht und wurde in jungen Jahren von einem Kakadu gebissen. Vielleicht reicht das ja.

 


 

 

Die Nachfolge

 

»Du kommst auch mit, Kratzbürste!«

Die Kratzbürste zuckte nur mit den schmalen Schultern, als sei ihr alles gleichgültig. Ihr schmutziges Gesicht unter der dunklen Haarmähne verriet nicht, was sie dachte.

»Und glaub ja nicht, es sei eine gute Idee, unterwegs abzuhauen«, knurrte Zett. »Auf der Herzinsel gibt es nichts als Dschungel, in dem es von Giftschlangen wimmelt, und Sümpfe voller Krokodile, und der einzige Eingeborenenstamm, der dort haust, frisst Menschen. Wenn du wegrennst, wärst du nicht frei, sondern sehr schnell tot.«

»Vielleicht will ich das ja«, antwortete sie trotzig. »Manchmal ist der Tod die einzige mögliche Variante von Freiheit.«

Kurz überlegte er, ob sie das ernst meinte.

Dann gab er ihr einen Klaps auf den Hinterkopf.

»Red keinen Mist!«, schnauzte er. »Mach dich fertig. Zieh dir Stiefel an! Und nimm Wasser mit.«

Nein, sie würde auf der Herzinsel nicht ausbüchsen, um den Tod zu suchen. Wenn sie ernsthaft sterben wollte, hätte sie in den Wochen, seit Käpt’n Zacharias »Zett« Goldzahn und seine Mannschaft sie entführt hatten, schon zehnmal die Gelegenheit dazu gehabt. Sie hätte beim Deckschrubben über Bord der Wellentochter springen, sich beim Kartoffelschälen die dürren Arme aufschneiden oder sich unten im Lagerraum, wo sie nachts festgekettet wurde, erdrosseln können.

Sie hatte es nicht getan.

Stattdessen hatte sie zweimal versucht zu entkommen. Einmal mit dem Beiboot und einmal im Hafen von San Devila. Und sie wäre beinahe erfolgreich gewesen – und das, obwohl sie ein junges Ding war, nicht einmal ausgewachsen, und bis zu jenem Tag noch keinen Fuß an Bord eines Schiffes gesetzt hatte. Eine elende Landratte. Dennoch konnte sie leise sein wie eine Katze und flink wie eine Maus.

Das war einer der Gründe, weswegen er sie zum Landgang mitnahm: um sie nicht aus den Augen zu lassen.

»Und wenn du doch Reißaus nimmst«, fügte Zett vorsichtshalber noch hinzu, »von mir aus! Du kannst dich vom Sumpf in die Tiefe ziehen lassen, bis dir Blut aus den Augen läuft und die faulige Brühe dir in den Mund quillt. Du kannst dir von einem Leoparden die Gedärme aus dem Leib zerren lassen, während du noch lebst. Oder die Kannibalen sägen dir bei vollem Bewusstsein den Dickschädel auf, um dein Gehirn zu löffeln – wenn du ein solches Ende suchst, nur zu! Aber glaub ja nicht, dass wir nach dir suchen oder dich retten würden. Nay! Vergiss nicht, dass deine verdammten Eltern nicht für dich zahlen und du verflixt noch mal nichts wert bist.«

Die Kratzbürste antwortete nicht. Sie zuckte nur erneut mit den Schultern und wandte sich ab, um sich fertig zu machen.

 

Sie setzten zu fünft über: Kapitän Zacharias Goldzahn, genannt „Käpt’n Zett”, sein erster Maat Elias, „der Kleine” – er war mit seinen 39 Lenzen der Jüngste an Bord –, die schwarzhäutige Silberzungen-Susa, der stille Sven und die „Kratzbürste”.

Der Himmel über ihnen war stechend blau. Unter ihrem Ruderboot kreisten Hammerhaie im türkisgrünen Wasser. Je näher sie der Herzinsel kamen, desto dichter und dunkler schien der Urwald zu wachsen und desto lauter wurde das Gekreische der Affen und Papageien.

Sie legten an der Spitze des Herzens an und zogen ihr Boot auf den schmalen Sandstreifen.

»Elias, Susa, Sven! Verteilt euch und findet einen Weg hinein in den Wald. Schlagt zur Not einen!«

»Aye, Käpt’n.« Sie zogen los.

Zett und die Kratzbürste ließen sich auf einigen Steinen nieder und warteten ab.

Früher – vor vier oder fünf Jahren bestimmt noch – hätte ich selber eine Machete geschwungen, dachte er und sah einigen roten Krabben zu, die durch die Brandung eilten, als hätten sie wichtige Termine. Und früher hätte ich auch selbst gerudert.

Heute aber waren seine Arme schwach und zittrig. Er musste seine Feuerbüchse mit zwei Händen halten, wenn er schoss. Seine Beine taugten zwar noch allerhand, aber sein verfluchtes Kreuz machte ihm zu schaffen und das Atmen fiel ihm bisweilen schwer. Als hätte eine Krake seinen Oberkörper umschlungen und würde ihn langsam immer fester zusammendrücken. Dann brannte ihm die Lunge und das Einatmen wurde von einem unan- genehmen Stechen begleitet.

Er grunzte und streckte den Rücken durch, bis dieser knackte.

Es lässt sich nicht beschönigen, dachte er grimmig. Ich bin alt geworden. Und schlimmer noch: krank.

Er hustete und spuckte aus. Der Batzen, der im weißen Sand landete, war von dunklen Blutfäden durchzogen.

Um sich von seinen düsteren Gedanken abzulenken, wandte er sich an die Kratzbürste: »Du fragst dich bestimmt, was ich auf dieser Insel suche, stimmt’s?«

Keine Reaktion. Nicht einmal ihr berühmtes Achsel- zucken. Sie blickte weiter starr auf das glitzernde Meer hinaus, drehte ihm nicht einmal das Gesicht zu.

»Auf dieser Insel gibt es ein Tier«, sprach Zett trotzdem weiter, und er hörte selbst die Gier in seiner rauen Altmännerstimme mitschwingen, »ein einmaliges und ungeheuer wertvolles Tier: den Diamant-Kakadu. Sein Gefieder, so heißt es, ist mit Diamantstaub durchsetzt. In seiner Krone glitzern Goldfedern. Als ich in San Devila von ihm gehört habe …«, er hatte dieses Geheimnis beim Würfeln gewonnen. Der zahnlose Greis, gegen den er gewonnen hatte, hatte nicht zahlen können und ihm schließlich heulend dieses Geheimnis angeboten, um zu verhindern, dass Zett ihn erdolchte. »Da wusste ich, dass ich diesen Vogel finden muss«, erklärte Zett. »Und wenn ich mir dabei Bein, Herz und mein ungewaschenes Genick breche, aye! Ich werde ihn fangen und mit ihm beim Großen Beutefest in Portido antreten. Weißt du, was das ist, Kratzbürste? Das Große Beutefest?«

»Nein.«

»Das Große Beutefest ist ein Wettbewerb. Ein Piraten-Wettbewerb! Er findet nur einmal alle zehn Jahre statt, und wer ihn gewinnt, erntet großen Ruhm. Die Piraten, die teilnehmen, zeigen jeweils ein Beutestück vor, das sie selbst erobert haben – ein sagenhaft kostbares oder seltenes Beutestück! Sie erzählen dazu die Geschichte, wie es in ihren Besitz gekommen ist. Und derjenige, der das spektakulärste Stück mitgebracht und die beste Geschichte erzählt hat, gewinnt.« Zett machte eine kurze Pause. »Wenn es mir gelingt, den Diamant-Kakadu beim Großen Beutefest herzuzeigen, ist mir der Sieg sicher!«

Die Kratzbürste hatte sich mittlerweile umgedreht und musterte Zett stirnrunzelnd. Kurz glaubte er, er hätte sie beeindruckt, dann aber verzog sich ihr Mund zu einem spöttischen Grinsen.

»Ihr Piraten seid ein seltsames Volk«, sagte sie. »Einerseits schlitzt ihr anderen die Kehlen auf, um sie zu berauben, und verschleppt Kinder, um Lösegeld zu erpressen – und das alles, ohne mit der Wimper zu zucken. Andererseits benehmt ihr euch selbst wie Kinder. Ihr veranstaltet alberne Wettbewerbe, um zu sehen, wer der Größte ist, und haltet jede Lügengeschichte, die euch zu Ohren kommt, für wahr. Du glaubst doch nicht im Ernst, dass es diesen Vogel wirklich gibt, oder?«

»Doch. Es gibt den Diamant-Kakadu. Er ist eine legendäre Kreatur – so wie Lanua, die Marmor-Meeres- schildkröte.«

»Na dann!« Die Kratzbürste schnaubte verächtlich. »Dann können wir uns ja mit Zuversicht auf die Jagd nach diesem Vieh begeben. Es wird bestimmt ein wahres Vergnügen, ihn im dichten Urwald dieser Insel zu finden – einen einzelnen Kakadu in tausend Bäumen.«

»Das lass mal meine Sorge sein, Kratzbürste.«

»Warum ist es dir eigentlich so wichtig, diesen albernen Wettbewerb zu gewinnen? Könntest du die Zeit und die Mühe, die es kostet, den Papagei zu fangen, nicht für etwas Sinnvolleres oder Erwachseneres aufwenden? Oder kannst du genau das nicht mehr?«, ergänzte sie und um ihren Mund spielte ein harter Zug. »Bist du zu alt geworden für echte Erfolge, und dieses Beutefest ist deine letzte Hoffnung auf ein bisschen Ruhm? Deine letzte Hoffnung darauf, dass man sich wieder an dich erinnert?«

»Halt’s Maul!«, grollte Zett und schlug ihr mit dem Handrücken auf die Lippen.

Ihr Kopf flog zurück und sie verstummte. Aber Zett sah, dass sie lächelte, bevor sie sich wieder abwandte, um auf das Meer zu blicken.

Sie wusste, dass sie recht hatte.

Und er wusste es auch.

Seine besten Jahre waren vorbei. Er war alt. Er war krank. Seine verdammte Mannschaft war alt. Und die Wellentochter war auch alt.

Manchmal verstand er die Welt nicht mehr.

In letzter Zeit waren mehrere Vorhaben misslungen: Ein Handelsschiff, das sie hatten entern wollen, hatte verbissen Widerstand geleistet und sie in die Flucht getrieben. Die versuchte Rettung eines befreundeten Piratenkapitäns aus dem Kerker von San Devila hatte leider in dessen blutigem Ableben geendet. Und die Entführung der Kratzbürste war zwar gelungen, aber jetzt weigerte sich ihr geiziger Vater, der immerhin Gouverneur und steinreich war, auch nur ein Kupferstück für sie zu zahlen.

»Behaltet sie. Ich habe genug Töchter. Und die hier lässt sich nicht einmal verheiraten«, hatte er Zett per Brief- taube wissen lassen.

Was war das für ein furchtbarer Vater?

Früher hätte es so etwas nicht gegeben. Früher hatte es auch keine ernsthafte Konkurrenz für Zett gegeben. In seinen besten Jahren – sie schienen noch gar nicht so lange her zu sein, bei Neptuns Nippeln! –  war er gefürchtet und verehrt worden. Andere Piraten hatten ihn vielleicht gehasst, aber sie hatten anerkannt, dass er ihnen überlegen war. In der Haifischbucht hatte man Lieder über ihn gegrölt. Man hatte seine Gerissenheit und seinen Mut besungen.

Heute drängten viele junge Piraten nach – ehrgeizig, ohne Skrupel, respektlos.

In seinen Gewässern war das vor allem dieses eiskalte Weibsstück, das Zett das Leben schwermachte: die Rote Runa. Längst galt sie als die größte Gefahr, die in seinem Revier kreuzte. Man wisperte hinter vorgehaltener Hand Geschichten über sie, nicht mehr über ihn. Geschichten über ihre Grausamkeit und über ihre Habsucht. Kleine Jungs wachten nachts heulend auf, weil sie geträumt hatten, die Rote Runa käme sie holen. Kleine Mädchen malten sich aus, wie es wohl wäre, in ihre Mann- schaft – nur Weiber! – aufgenommen zu werden und die Meere zu befahren, mit Rum im Blut, Goldgier im Herzen und Mord im Sinn. Gerüchten zufolge hatte die gesamte Besatzung mancher Kaufmannsgaleere sich lieber selbst umgebracht, bevor sie in die Hände der Roten Runa fiel. Angeblich färbte Runa ihr Kopftuch mit dem Blut ihrer Opfer und trug Stiefel aus Menschenhaut. Männer, die sie gefangen nahm, entmannte sie und verfütterte die abgeschnittenen Teile an ihr Totenkopfäffchen.

Ob das alles stimmte, wusste Zett nicht.

Aber er wusste, dass er gegen die Rote Runa ein Piratenwitz war. Ein zahnloser Alter. Das kleinere Übel. Und er wusste, dass sie keine Ehre hatte. Er hatte sie vor einigen Jahren zu einem Parley eingeladen, um mit ihr über die Aufteilung ihrer Gewässer zu verhandeln, und sie war ihm mit ihren Flintenweibern in den Rücken gefallen. Sein alter Freund und erster Offizier Tiger-Tim, Schiffsjunge Nubs und Zetts geliebter Ara hatten damals ihr Leben verloren. Wenig später hatte Runa ihn in seinem Versteck überfallen, den Großteil seiner Schätze geraubt und die Grotte zum Einsturz gebracht. Zett und seine Mannschaft waren in letzter Sekunde auf der Wellentochter entkommen.

Das hätte es früher auch nicht gegeben.

Aber was half Lamentieren? Nichts.

Es blieb dabei: Die Kratzbürste hatte recht.

Die Zeiten seiner großen Erfolge und seines Ruhms schienen unwiderruflich vorbei. Er war zu alt, er war zu müde.

Aber wenn es ihm gelingen sollte, den Diamant-Kakadu beim Großen Beutefest vorzuführen, würde man sich wieder an ihn erinnern. Man würde mit Ehrfurcht und mit Staunen zu ihm aufsehen.

Und die Rote Runa, die mit Sicherheit auch an dem Wettbewerb teilnahm?

Sie würde gegen ihn verlieren. Endlich einmal! Sie würde in seinem Schatten stehen. Sie würde im Glanz seines Erfolgs verblassen. Sie wäre ein Niemand. Wenigstens für einen Tag.

Zett sah sich deutlich selbst, mit dem funkelnden Diamant-Kakadu auf der Schulter auf einem Siegertisch im „Zornigen Poseidon” in Portido. Die Rote Runa zu seinen Füßen, mit hilfloser Wut in den Augen und geballten Fäusten. Als die ersten Hoch-Rufe erklingen, hält sie sich die Ohren zu und stürmt hinaus …

Elias’ Ruf riss Zett aus seinem Tagtraum.

»Käpt’n! Wir haben einen Pfad gefunden.«

 

Seine Leute hatten einen überwucherten, aber sichtbaren Pfad entdeckt, der in den Dschungel führte. Vielleicht war es ein Wildwechsel; vielleicht wurde er vom Qicua-Stamm zum Jagen genutzt. Ein Blick auf Kompass und Karte verriet Zett jedenfalls, dass er in die Richtung ihres Dorfs führte.

»Und dort wollen wir hin«, erklärte er. »Die Wilden vom Qicua-Stamm wissen, wo der Diamant-Kakadu zu finden ist.«

»Aber ich dachte, das wären Menschenfresser.«

Es war das erste Mal, dass die Kratzbürste ein kleines bisschen kleinlaut klang. Zett musste grinsen. Ihre Verzagtheit erfreute sein altes Herz.

»Lass das mal meine Sorge sein«, antwortete er munter. »Silberzungen-Susa hier weiß, wie man mit Kannibalen verhandelt. Und zur Not bieten wir ihnen ein Opfer an, um sie für uns einzunehmen … ich weiß schon, wer dafür infrage käme.«

Er lachte und sie machten sich auf den Weg.

Lange hielt seine kleine Freude leider nicht an. Bald schon wurde sie vertrieben von den Mühen der Wan- derung durch den dichten Urwald.

Sie stiegen über kniehohe Baumwurzeln, schlugen sich durch schleimig-feuchte Büsche, krochen unter giftigen Ranken hindurch. Ganz anders als auf dem Meer, war die Luft in diesem Dickicht feucht und erdrückend warm. Als müsste man auch sie mit der Machete zerteilen, um einen weiteren Schritt tun zu können. Sie roch nach verrotten- den Pflanzen und den scharfen Aus- scheidungen wilder Tiere.

Es dauerte nicht lange, und sie alle keuchten und badeten in ihrem Schweiß. Zetts Rücken schmerzte vom ständigen Bücken. Sogar seine Beine wurden allmählich schwach. Seine Lungen brannten. Die Waldluft tat ihnen nicht gut. Batzen blutigen Auswurfs markierten ihren Weg.

Bevor die Sonne als blutroter Ball hinter den Bäumen versank, richteten sie sich ein Nachtlager ein. Während die Affen und Vögel über ihnen ein ohrenbetäubendes Dämmerungskonzert gaben, befestigte Elias mit Hilfe der Kratzbürste ihre Hängematten und die Mückennetze in den Ästen. Zett teilte Wachen ein, ließ eine Flasche Rum herumgehen, fesselte der Kratzbürste Hände und Füße und wünschte allen eine gute Nacht.

 

Noch vor dem Morgengrauen des nächsten Tages wurden sie von Schüssen geweckt. Mehrere Schüsse. Sechs oder sieben Stück. Zett fiel beinahe aus seiner Hängematte.

Die Schüsse waren nicht laut gewesen. Sie waren in einiger Entfernung abgegeben worden, und dichtes Blattwerk sowie die morgendlichen Nebelschwaden hatten sie gedämpft. Aber eindeutig: Schüsse.

»Was war das?«, fragte Susa.

»Wird die Wellentochter angegriffen?!«, rief Elias.

»Nay. Das sicher nicht«, antwortete Zett. »Die Wellen- tochter liegt hinter uns. Die Schüsse kamen von vorn.«

»Verfügt der Stamm der Qicua über Feuerbüchsen?«

»Nay. Das glaube ich nicht.«

»Aber wer hat dann geschossen?«

»Wir werden weitergehen müssen, um es herauszu- finden. Also los! Packt zusammen! Und dann geht es weiter. Aber vorsichtig!«

Sie schlichen weiter und machten dabei so wenig Lärm wie möglich.

Zett behielt seine Pistole in der Hand.

Er blieb wachsam.

Er versuchte, seine Rückenschmerzen, seine glühende Brust und seinen rasselnden Atem auszublenden.

Er versuchte auch, die Vorahnung auf eine böse Über- raschung, die ihm am Herzen nagte, zu ignorieren.

Beides gelang ihm nicht.

 

Es war zur Mittagsstunde, als Zetts Vorahnung sich erfüllte. Die Sonne stand genau über ihnen und warf ihr Licht als grüner Dämmer durch das Blätterdach. Der Wald lag still in der Hitze und lauerte. Vor ihnen öffnete sich ihr Pfad plötzlich und führte in flirrendes Licht.

»Wir haben das Dorf der Qicuas erreicht«, raunte Zett. »Susa und Sven kommen mit mir. Elias, du bleibst mit der Kratzbürste hier. Verhaltet euch ruhig!«

»Aye, Käpt’n.«

Noch bevor sie vom Pfad auf die Lichtung traten, roch Zett ihn: Den Gestank nach Rauch und Blut. Dazu Kindergeplärre, ein Schluchzen, das Stöhnen von Ver- wundeten. Das kleine Dorf war niedergemacht worden.

Keine der Hütten aus Bambus und Farn stand mehr, die meisten schwelten noch. Hühner, Hunde, Ziegen und Menschen lagen tot über der Lichtung verstreut. Zetts Stiefel schmatzten im vom Blut aufgeweichten Boden.

Silberzungen-Susa stieß einen deftigen Fluch aus. Sven gab ein würgendes Geräusch von sich. Zett dachte an den Diamant-Kakadu und fühlte seine dunkle Vorahnung in sich wüten.

In einer Hütte, die noch zwei Wände und ein Dach hatte, waren die Überlebenden versammelt. Die wenigsten standen aufrecht. Viele lagen verwundet auf der Erde. Viele Alte, einige Kinder. Sie blickten ihnen ängstlich entgegen. In ihrer Mitte, auf einem erhöhten Lager aus blutigen Decken und Laub, lag ein alter Mann mit langen grauen Haaren und einem blutverschmierten Gesicht.

Eine Greisin, begleitet von zwei bewaffneten Jugend- lichen, trat ihnen entgegen, als sie sich der Hütte näherten. Hastig stieß sie einige zornige Sätze in einer seltsamen Sprache aus, die vor allem aus Pfeif- und Klicklauten zu bestehen schien.

»Sie sagt, wir sollen verschwinden«, übersetzte Susa. »Sie sagt, die anderen Hellhäute hätten diesen Stamm bereits vernichtet. Es gäbe hier für uns nichts mehr.«

»Sag ihr, dass wir mit den anderen Hellhäuten nichts zu tun haben«, rasselte Zett. Die dunkle Vorahnung jaulte in seinen Ohren wie ein Sturm. »Frag sie, wer die anderen waren. Wer hat sie überfallen?«

»Aye, Käpt’n.«

Susa übersetzte, und die Greisin antwortete.

Mit Grabesstimme gab Susa die Antwort weiter: »Es war eine Gruppe Weiber, Käpt’n Zett. Sie sind heute Morgen über das Dorf hergefallen. Sie wurden angeführt von einer Frau mit roten Haaren und sandweißer Haut.«

Zett schloss die Augen.

»Was wollten sie?« Er wusste es schon.

»Sie wollten wissen, wo der Diamant-Kakadu sich versteckt.«

»Haben sie es ihnen gesagt?«

»Aye, das haben sie. Der Schamane des Stammes hat ihnen beinahe sofort gesagt, was sie wissen wollten, um seinen Stamm zu schützen. Dennoch haben sie ihn weiter- gefoltert und einen Großteil der Dorfbewohner getötet.«

»Sag ihr, dass mir das leidtut.« Das tat es wirklich. Die Rote Runa war eine verfluchte Schande für die See- räuberei! »Frag sie, ob wir helfen können. Und dass wir im Gegenzug auch wissen müssen, wo der Diamant-Kakadu auf dieser Insel zu finden ist.«

Zett spuckte einen blutigen Batzen auf die dunkle Erde.

Silberzungen-Susa und die Alte sprachen länger mit- einander. Die Klick- und Pfeiflaute, die sie dabei von sich gaben, erinnerten Zett an Insekten. Als würden riesige Insekten miteinander verhandeln.

Schließlich nickte Susa mutlos. »Sie können uns nichts über den Diamant-Kakadu sagen, Käpt’n …«

»Aber sie haben doch …«

»Er ist für sie ein heiliges Tier, und allein ihr Schamane hat Wissen über ihn. Der Schamane aber liegt im Sterben.« Susa nickte zur Hütte hinüber, in dem die Verletzten stöhnten. Der alte Mann in ihrer Mitte lag still und blass auf seinem Lager. »Er ist nicht mehr bei Bewusstsein. Sie haben schon alles versucht. Sie können sein Leben nicht retten.«

»Hunderttausend jaulende und heulende Sturmgeister!« Zett stampfte auf. »Hat sich etwa alles gegen uns verschworen?!«

Die Alte sagte etwas. Susa übersetzte langsam: »Sie sagt, eine einzige Chance gäbe es. Es gibt einen Trank, der Leben rettet. Sie weiß, wie man ihn herstellt. Aber sie braucht dafür das Blut einer Jungfrau, die zu anderen Göttern betet als die Qicua. Was auch immer das heißt.«

»Das heißt«, ein breites Grinsen zog sich über Zetts Gesicht, »dass wir ins Geschäft kommen!«

Er hatte Sven zurückgeschickt, um Elias und die Kratzbürste zu holen. Er hatte die Kratzbürste am Nacken gepackt, ihr zugeraunt: »Jetzt kannst du dich nützlich machen!«, und sie vor die halb zerstörte Hütte auf den Boden geworfen.

Dort saß sie nun und blickte sich um. Ihre Augen waren groß vor Entsetzen. Sie starrte auf die blutige Erde unter ihren Knien, starrte die Leichen an, starrte ins Halbdunkel vor sich, in dem Verwundete vor Schmerzen stöhnten und Sterbende röchelnd ihre letzten Atemzüge taten.

Die Alte war hektisch geworden, als Zett die Kratzbürste aus dem Dickicht geschleift hatte. Sie hatte in ihrer seltsamen Sprache Anweisungen gegeben. Ein Feuer war entfacht, ein Kessel darüber gehängt, Wasser und allerlei Zutaten gebracht worden. Guttural singend hatte die Alte angefangen, ihren Wundertrank zu brauen.

In der Zwischenzeit blubberte ein stechend stinkendes Süppchen im Kessel.

Es fehlte nur noch eins.

Die Alte hörte zu singen auf, griff nach einem Messer aus Knochen und trat auf die am Boden hockende Kratzbürste zu.

Zett spannte sich an. Er und seine Leute waren sprungbereit – für den Fall, dass die Kratzbürste sich wehren oder fliehen sollte.

Aber sie tat nichts dergleichen.

Sie sah die alte Frau an. Sie sah das Messer an.

Sie warf einen weiteren Blick auf die Menschen in der Hütte. Dann nickte sie und entblößte beide Unterarme.

»Sag ihr, sie soll so viel nehmen, dass es auch für die anderen reicht«, sagte sie zu Susa. »Nicht nur für den Schamanen. Wenigstens auch für die Kinder. Wenn es geht, für alle.«

 

»Käpt’n Zett«, meldete sich Elias. »Wir sollten jetzt ein Nachtlager aufschlagen. Miss Harriet ist zu erschöpft, um weiterzugehen.«

Elias war der Einzige, der die Kratzbürste bei ihrem richtigen Namen nannte.

»Jetzt schon?!«, grollte Zett. »Kommt nicht in die Kanone! Es ist ja noch hell.«

»Aber sie kann sich nicht mehr auf den Beinen halten. Und ich kann sie nicht mehr stützen. Und tragen schon gar nicht.«

Elias war schweißgebadet. Sein nackter Oberkörper glänzte feucht im Dämmerlicht des Urwaldes, große Tropfen standen ihm auf der Stirn. Seine Brust hob und senkte sich dramatisch. Er war der Jüngste an Bord der Wellentochter, aye, aber er war trotz allem nicht mehr richtig jung.

An einem Arm hing ihm die Kratzbürste: bleich wie ein Gespenst, elend und in sich gekehrt. Zett konnte förmlich sehen, wie ihre Knie zitterten.

Trotzdem.

Sie war seine verfluchte Gefangene! Und ihm taten auch Rücken und Beine weh, aber er kämpfte sich voran.

»Reißt euch zusammen«, knurrte er. »Wir haben es eilig. Die Rote Runa hat mehrere Stunden Vorsprung, schon vergessen?!«

»Nay, das sicher nicht, Käpt’n «, antwortete der stille Sven. »Aber wenn der Schamane die Wahrheit gesprochen hat, wird ihr dieser Vorsprung nicht helfen, nicht wahr? Weil sie nicht weiß, wie sie den Vogel anlocken kann.«

Das stimmte.

Hoffentlich.

»Na gut, ihr Weicheier«, gab Zett nach. »Rasten wir hier. Aber morgen geht es noch vor Sonnenaufgang weiter!«

»Aye, aye!«

»Danke, Käpt’n.«

Der Wundertrank, den die Alte mit dem Blut der Kratzbürste gebraut hatte, hatte gewirkt. Er hatte den Schamanen des Stammes von der Schwelle des Todes zurück ins Reich der Lebenden geholt. Er hatte auch viele andere Verletzte geheilt – nicht nur die Kinder, auch junge Frauen und die Krieger.

»Als Dank will ich euch sagen, wo ihr den Diamant-Kakadu findet«, hatte Susa die Worte des Schamanen übersetzt, kaum hatte der alte Mann wieder sprechen können, »auch wenn es falsch ist, denn der Diamant-Kakadu ist heilig für uns und gehört auf diese Insel. Aber bevor die rote Dämonin ihn fängt – oder wütend zurückkehrt, weil es ihr nicht gelingt, ihn zu fangen – sollt lieber ihr ihn haben. Darum hört zu.« Er hatte ihnen eine Wegbeschreibung gegeben. Der stille Sven, der des Schreibens mächtig war, hatte Notizen gemacht. Aber Zett hatte sich die Angaben auch so merken können: ein erloschener Vulkan in der Mitte der Herzinsel. Ein unendlich tiefer See im Krater des Vulkans. Eine Insel wie ein Reißzahn in der Mitte dieses Sees. Kein einfacher Weg. Viel Kletterei. Viele Gefahren.

»Das ist es, was er auch der Roten Runa gesagt hat«, hatte Susa übersetzt, und Zett sah den Schamanen selbst- zufrieden grinsen, »aber er sagt, dass sie den Vogel dennoch nicht fangen können wird. Denn er ist scheu und schlau und flink und versteckt sich. Er wird sich niemals einem Fremden zeigen. Die einzige Möglichkeit, um ihn zu Gesicht zu bekommen ist es, ihn zu locken. Und zwar mit seinem eigenen Ruf. Denn der Diamant-Kakadu ist ein einzigartiges Tier. Er ist schon lange, sehr lange alleine. Wenn man seinen Ruf imitiert, denkt er, einen Art- genossen gefunden zu haben. Er kommt angeflogen und zeigt sich zutraulich. So und nur so, sagt der Alte, lässt sich der Diamant-Kakadu fangen.«

Abschließend hatte der Schamane ihnen den Lockruf beigebracht. Es war eine Abfolge trillernder Pfiffe, die eine hübsche Melodie formten.

Alle hatten es versucht, sogar die Kratzbürste, die blass und mit blutverschmierten Unterarmen an einer Hüttenwand gelehnt hatte und von einigen Frauen des Dorfes versorgt worden war.

Zett war es nicht gelungen, den Pfiff nachzuahmen. Vielleicht waren seine alten Lippen zu trocken, zu faltig, zu dünn. Auch Susa und Sven waren wenig erfolgreich gewesen.

Aber Elias und die Kratzbürste hatten sich talentierter gezeigt.

»Wenn ihr im Vulkan auf dem Reißzahn seid«, hatte der Schamane gesagt, »dann lasst diese beiden pfeifen.«

Aye, das werde ich tun, dachte Zett jetzt, ausgestreckt in seiner Hängematte und blinzelte nach den Sternen weit oben über ihm, hinter Mückennetz und Blätterdach. Morgen. Morgen wird ein großer Tag.

Und mit einem weiteren Tagtraum darüber, wie er im allgemeinen Jubelgegröle vom Siegertisch aus der Roten Runa ins Gesicht spuckte, schlief er ein.

 

Kurz nach Mittag des folgenden Tages erreichten Zett und seine Leute den erloschenen Vulkan und begannen mit dem Aufstieg.

Es war ein mühseliges Unterfangen.

Bald wurde der Wald lichter und der Himmel zeigte sich über ihnen als große blaue Kuppel. Die Sonne glühte über ihren Köpfen.

Sie fluchten, keuchten und schwitzten.

Zetts Brust brannte wie Feuer und schien langsam immer enger zu werden.

Aber ich werde nicht aufgeben!, dachte er verbissen und zwang seinen Atem hinein in seine Lungen und wieder heraus.

Ich bin der Kapitän. Ich will diesen Papagei, und wenn ich mir dabei Bein, Herz und mein ungewaschenes Genick breche! Es darf nicht an mir scheitern.

Das letzte Stück bis oben zum Kraterrand war eine fast senkrechte, bestimmt acht Schritt hohe Felswand.

Sie standen in ihrem Schatten und sahen ratlos an ihr hinauf.

Schließlich ließ Zett sich mit einem Ächzen auf einen Stein sinken und nickte der Kratzbürste zu.

»Du«, schnauzte er kurzatmig und spuckte aus. »Du nimmst ein Seil mit Haken und kletterst als Erste hoch.«

Die Kratzbürste nickte nur mürrisch und ließ sich von Sven das Genannte aushändigen. Das Seil schlang sie sich um den Oberkörper, den Haken befestigte sie an ihrem Gürtel. Wie immer verriet ihr schmutziges Gesicht nicht, was sie dachte oder fühlte.

Aber seine Leute hatten Einwände.

»Ist das wirklich eine gute Idee, Käpt’n?«, fragte Susa. »Sie ist noch immer schwach und verletzt. Und sie wird wohl kaum eine Menge Klettererfahrung haben.«

»Es wird Zeit, dass sie sich nützlich macht. Und sie hat genug Klettererfahrung. Das hat sie in San Devila bewiesen. Außerdem ist sie vielleicht verletzt, aber von uns allen die Jüngste.«

»Dennoch sollte ich als Erster hochklettern«, sagte Elias. »Was haben wir davon, wenn Miss Harriet abstürzt und sich verletzt?«

»Keinen großen Verlust«, antwortete Zett grimmig und lachte humorlos, »so viel ist sicher. Ihr verdammter Vater zahlt nichts für sie, schon vergessen? Dich dagegen möchte ich nicht verlieren. Also wird die Kratzbürste als Erste hochklettern und das Seil oben befestigen. Wenn sie es nicht schafft, kannst du es ja immer noch versuchen. Also los!«, blaffte er die Kratzbürste an. »Beweg deinen Arsch!«

Sie gehorchte.

Vorsichtig machte sie sich daran, die Steilwand zu erklettern. Sorgfältig tasteten ihre Hände und Füße unentwegt nach Halt auf kleinen Fels- vorsprüngen oder in schmalen Spalten, und Elle für Elle arbeitete sie sich hoch. Das Seil um ihren Oberkörper war schwer und behinderte sie, aber sie gab keinen Laut, keinen Fluch, kein Flehen von sich. Sie keuchte schwer und ein dunkler Schweißfleck wuchs zwischen ihren Schulterblättern. Als sie noch nicht halb oben war, brachen ihre Wunden neu auf, und die Verbände an ihren Unterarmen färbten sich frisch rot.

»Beim Klabautermann, sie schafft es nicht«, flüsterte Elias nervös, als sie einmal abrutschte und eine Lawine kleiner Steine auslöste, die den wartenden Piraten unten vor die Füße kullerte. »Sie schafft es nicht!«

»Sie wird es schaffen.«

Aber auch Zett konnte den Blick nicht von der Kratzbürste abwenden. Sie machte ihre Sache gut, das musste er anerkennen, vor allem für eine Landratte. Sie war jetzt fast oben.

Mit Besorgnis fragte Zett sich plötzlich, ob er den Aufstieg überhaupt schaffen würde – selbst mit Seil würde es für ihn eine Qual werden, das ahnte er schon jetzt.

»Was, wenn sie einfach abhaut, sobald sie oben angekommen ist?«, fragte Susa. »Wenn sie das Seil nicht herunterlässt? Wenn sie es durchschneidet, sobald wir dranhängen?«

»Warum sollte sie das tun?«, fragte der stille Sven ruhig, ehe Zett etwas erwidern konnte. »Sie ist nicht dumm. Sie hat nichts davon, uns auf dieser Insel in den Rücken zu fallen. Das weiß sie.«

Er sollte recht behalten, so wie auch Zett recht behielt: Die Kratzbürste schaffte es nach oben. Mit finsterer Miene befestigte sie den Kletterhaken zwischen zwei Felsen, schleuderte ihnen das Seil nach unten und brach schweiß- überströmt zusammen.

Elias kletterte als Zweiter hoch und wickelte die Verbände der Kratzbürste neu, während die anderen folgten.

Zuerst Susa, die wie ein Fisch auf dem Trockenen nach Luft japste, als sie endlich oben angekommen war.

Dann Zett.

Es kostete ihn fast seine gesamte Kraft, sich nach oben zu ziehen.

Als er oben auf dem Felsen zusammenbrach, fühlten sich seine Arme und Beine an wie zitterndes Schilfgras im Wind, und er fürchtete, seine Lunge als blutigen Klumpen auszuspucken. Susa reichte ihm einen Wasserschlauch, und er trank gierig.

»Wir haben es so gut wie geschafft«, hörte er sie sagen. »Dort ist der Reißzahn.«

Zett wischte sich den Schweiß aus den Augen und sah sich um. Susa hatte recht.

Sie hockten auf dem Kraterrand des erloschenen Vulkans. Von hier überblickten sie den Urwald der Herzinsel und sahen bis auf das Meer hinaus. Zetts Herz schlug höher, als er es in der Ferne glitzern sah.

Der Kraterrand schloss kreisrund einen stillen See ein. Dessen dunkelgrünes Wasser lauerte tief unter ihnen wie ein einzelnes wachsames Auge und starrte zu ihnen herauf. In der Mitte des Sees erhob sich eine weiße Felsklippe wie ein abgebrochener Zahn. Sie hatte einen Schopf aus dichtem Grün, in dem Vögel schrien.

Wenn der Schamane die Wahrheit gesagt hat, dachte Zett, dann versteckt sich dort, in diesem Dickicht, irgendwo der Diamant-Kakadu!

Augenblicklich waren die schmerzende Lunge, die brennenden Gliedmaßen und die Blasen an den Händen vergessen.

»Da hinten liegt ein Baum über dem Abgrund«, verkündete Elias in diesem Moment, »den wir als Brücke nutzen können.«

Es stimmte.

Keine hundert Schritt entfernt hing ein langer, mit Flechten überwucherter Baum zwischen Kraterrand und Reißzahn.

»Vielleicht sogar das Werk der Roten Runa und ihrer Weiber«, mutmaßte Zett, während sich hinter ihm der stille Sven als Letzter über den Kraterrand zog. »Wir müssen vorsichtig sein und erst prüfen, ob es sicher ist, hinüberzugehen.«

 

Auf den ersten Blick, und nach einigen Fußtritten, wirkte der Baum wie eine sichere Möglichkeit, auf die Klippe im See zu gelangen.

»Du zuerst«, knurrte Zett die Kratzbürste an. »Wenn es doch eine Falle ist, will ich, dass du das herausfindest.«

»Aber Käpt’n Zett …«

»Keine Widerrede! Es gilt, was schon an der Felswand galt: Sie ist am ehesten entbehrlich!«

Die Kratzbürste hatte bereits ihren Fuß auf den Baumstamm gesetzt.

»Ich mach’s.« Sie brachte es irgendwie fertig, gleichzeitig sowohl zornig als auch gleichgültig zu klingen. Mit ausgebreiteten Armen und erhobenem Gesicht balancierte sie über den Abgrund. Zweige und Aststümpfe und Flechten ertastete sie mit den Stiefelspitzen. Nicht ein Mal warf sie einen Blick hinunter auf das dunkle Wasser tief unter sich.

Die Baumstammbrücke hielt.

Alle – auch Zett – atmeten erleichtert auf, als die Kratzbürste die andere Seite erreicht hatte, eine selbstzufriedene Geste machte und sich auf den Boden niederließ.

Elias ging als Nächster.

Er machte es wie die Kratzbürste, denn es war die beste Art, über den Abgrund zu balancieren.

Dennoch sollte er die andere Seite niemals erreichen.

Plötzlich zerriss ein Schuss das ewige Vogelgeschrei. Ein Schuss wie ein Donnerkrachen. Zett sah, wie Elias sich an die Brust fasste – mit mehr Erstaunen im Gesicht als Schmerz – und in die Tiefe stürzte. Das Geräusch, als er ins Wasser eintauchte, war oben kaum zu hören.

Kurz verschwand sein Körper. Dann war er zurück an der Oberfläche – ein heller Fleck auf einem dunkelgrünen Spiegel. Im nächsten Moment tat sich ein riesiges Maul unter ihm auf, verschlang ihn und tauchte wieder ab.

Elias, „der Kleine”, war fort.

Nichts blieb als wabernde konzentrische Kreise.

»Ha!«, rief eine unangenehme Frauenstimme spöttisch. »Da waren es nur noch drei!«

Die Rote Runa war drüben auf dem Reißzahn auf einem hellgrauen Felsbrocken aufgetaucht, flankiert von drei ihrer Weibsbilder. Die Feuerbüchse in ihrer Hand qualmte noch.

Im ersten Moment war Zett sprachlos. Vor Schreck, vor Entsetzen und vor Wut. Er starrte abwechselnd auf die Stelle im See, an der Elias verschwunden war, und auf seine verhasste Erzfeindin.

»Geh nach Hause, alter Mann«, fuhr diese gerade fort. »Oder spring dem Dummkopf gleich hinterher. Denn …«

Weiter kam sie nicht.

Etwas traf sie hart am Kopf.

Dort, wo ihr rechtes Auge gewesen war, spritzte Blut in die Luft, dann ging Runa zu Boden.

Eins ihrer Weiber jaulte auf und griff sich mit schmerz- verzerrtem Gesicht ans Knie.

Zetts Blick fiel auf die Kratzbürste. Die war drüben aufgesprungen, sah er, und klaubte wie eine Wahnsinnige Steine vom Boden auf, um sie nach den Piratinnen zu werfen.

»Selber ha!«, rief er und versuchte, triumphierend zu klingen. »Du hast einen Fehler gemacht, du arrogante Seeschnepfe! Denn wir sind noch immer vier, nicht drei!«

»Na warte!«, fauchte Runa. Ihr verbliebenes Auge fixierte die Kratzbürste hasserfüllt und sie eröffnete das Feuer.

»Harriet!«, schrie Susa und zog ihre eigene Pistole. »Komm zurück!«

Die Kratzbürste gehorchte und sie gaben ihr Feuer- schutz, während sie geduckt zurück über den Baum eilte.

Kaum war sie wieder auf ihrer Seite – keuchend und mit einer Streifschusswunde an der Schläfe – trat Sven den Stamm in die Tiefe.

 

Die Sonne ging langsam im Westen unter, als Silberzungen-Susa fragte: »Was machen wir jetzt, Käpt’n?«

Sie hatten eine lange Zeit hier gesessen und geschwiegen. Die Rote Runa hatte sich, Neptuns scharfen Töchtern sei Dank, mit den Drecksweibern verzogen – wahrscheinlich, um ihr verlorenes Auge zu beweinen. Oder vielleicht jagte sie da drüben im Dickicht bereits den Diamant-Kakadu.

Zett und seine Leute hatten Elias betrauert. Sie hatten schweigend mit Wasser und Rum auf ihn angestoßen. Sie hatten an ihn gedacht, jeder auf seine Weise.

Er war ein guter Junge gewesen. Eigentlich kein Junge mehr, schon lange nicht – aber Zett hatte ihn bereits gekannt, als er noch ein Bengel gewesen war. Er hatte sogar hin und wieder mit dem Gedanken gespielt, dass Elias eines Tages die Wellentochter übernehmen würde. Nicht, weil er so einen großartigen Piratenkapitän abge- geben hätte. Sondern weil er noch leben würde, wenn alle anderen schon über die Planke gegangen wären.

Aye. Das hatte er zumindest immer angenommen.

Ein Irrtum.

Und sie würden ihm nicht einmal eine vernünftige Seebestattung ausrichten können. Ein trauriges Ende für jemanden, der das weite Meer so geliebt hatte wie Elias.

»Käpt’n Zett«, murmelte Sven. »Wie geht es weiter?«

Zett klopfte mit einem Zeigefinger gegen seinen goldenen Schneidezahn, ehe er grimmig antwortete: »Wir machen natürlich weiter. Wir geben nicht auf. Wir werden diesen verdammten Vogel finden und fangen, und wir werden das Große Beutefest zu Elias’ Ehren gewinnen. Und wenn ich mir dabei Bein, Herz und mein unge- waschenes Genick breche, aye!« Er schlug mit einer Faust in seine Handfläche. »Wir finden morgen einen anderen Weg, um auf den Reißzahn zu kommen. Wir schleichen uns rüber und lassen uns nicht noch einmal von diesen Wasserhexen überraschen.«

Ein trillernder Pfiff unterbrach ihn.

Es folgte ein zweiter. Ein dritter.

Sie stiegen als schmelzende Melodie in den rosa gefärbten Abendhimmel.

Es war der Ruf des Diamant-Kakadus. Und die Kratzbürste war diejenige, die ihn pfiff. Natürlich.

Sie hatte die vergangenen Stunden direkt am Abgrund über dem See gesessen, hatte die Beine in die Tiefe baumeln lassen, geschwiegen und auf das flaschengrüne Wasser unter sich gestarrt, in dem Elias sein Ende gefunden hatte.

Jetzt hatte sie unvermittelt zu pfeifen angefangen.

»Was machst du?!«, schnauzte Zett.

Sie unterbrach sich, sah ihn über ihre Schulter hinweg an. »Vielleicht ist es gar nicht nötig«, sagte sie.

»Was ist nicht nötig?«

»Hier noch eine Nacht zu verbringen. Auf morgen zu warten. Den Reißzahn zu betreten und möglicherweise der Roten Runa noch einmal über den Weg zu laufen. Vielleicht lässt er sich schon jetzt zu uns locken. Der Kakadu.«

Sie wandte sich wieder ab und begann erneut zu pfeifen, ohne Zetts Antwort abzuwarten.

Zett hatte bereits den Mund geöffnet, um zu schimpfen, aber Susa unterbrach ihn, noch ehe er loslegen konnte. »Lass sie doch, Käpt’n. Soll sie es versuchen. Was schadet es?«

»Na gut«, knurrte Zett. »Einen Versuch ist es wert. Hauptsache, sie lockt die verdammte Runa nicht zurück.«

»Und wenn schon? Solange sie dort drüben ist, brauchen wir sie nicht zu fürchten.«

»Ich fürchte sie nicht!«

»Natürlich, Käpt’n. Trotzdem ist es gut, dass ihre Büchsen nicht zu uns herüberreichen.«

»Aye, ich weiß.«

 

Ins Abendrot mischten sich bereits erste blaugraue Dämmerschleier, als die Kratzbürste eine Antwort erhielt.

Weit im Westen versank die Sonne als roter Ball im Meer, und das Hellblau des Himmels war zu einem violetten Tuch geworden, in dem sich erste Sterne zeigten. Der Wald ringsumher stand als Schattenriss vor Grau.

Hier oben aber, am Rande des Kraters, dem Firmament ganz nah, verweilte das letzte Licht des Tages noch ein wenig länger. Weich lag es auf ihren Gesichtern und ließ sie eigentümlich schimmern.

Die Kratzbürste hatte unermüdlich ihre Beine über dem Abgrund baumeln lassen und den Lockruf gepfiffen. Trillernd hatte sie ihn in die Luft geflötet, immer wieder, immer wieder, hinüber zum Reißzahn im See, wo er im Grün der Bäume versunken und verklungen war.

Zett konnte ihn langsam nicht mehr hören.

»Ich finde, es reicht«, raunte er Susa und Sven zu. »Mir bluten bald die Ohren, wenn ich dem nervtötenden Gepfeife noch länger zuhören muss. Wir sollten unser Nachtlager …«

Und genau in diesem Moment mischte sich ein zweiter Ruf in den der Kratzbürste.

Klar und deutlich stieg er aus dem Dickicht jenseits des Abgrunds in den veilchenblauen Himmel.

»Versenk mich doch!«

Zacharias Goldzahn, Silberzungen-Susa und der stille Sven sprangen auf.

Auch die Kratzbürste war kurz erstaunt. Vor Schreck hörte sie auf zu pfeifen und starrte mit großen Augen auf die Klippe hinüber.

»Mach weiter!«, schnauzte Zett. »Los! Weiter, weiter!«

Sie gehorchte.

Sie pfiff.

Ein trillernder Ruf antwortete ihr.

Er klang näher als der erste.

Zett spürte sein altes Herz aufgeregt in seiner Brust hämmern.

Susa hatte die Finger in ihre angegrauten Locken gekrallt, der stille Sven mahlte nervös mit dem Kiefer.

Die Kratzbürste war in der Zwischenzeit ebenfalls aufgestanden. Sie pfiff erneut. Unerschrocken direkt am Abgrund stand sie, den Kopf aufmerksam erhoben. Und pfiff.

Eine dritte Antwort aus dem Grün jenseits der Schlucht – dann brach trillernd ein Tier aus dem Dickicht.