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Tomas Espedal

Biografie

(Vergessenheit)

Tagebuch

(Epitaphe)

Briefe

(Ein Versuch)

Aus dem Norwegischen von
Hinrich Schmidt-Henkel

Biografie

(Vergessenheit)

Ich beneide – bin mir aber dessen nicht wirklich sicher –

all jene, über die man eine Biographie schreiben kann

oder die ihre eigene Biographie schreiben können.

– Fernando Pessoa

I

1999

Ich habe fast ausnahmslos, das kann ich jetzt – trotz aller Aufbrüche und Adressen – feststellen: Ich habe immer in Wohnungen und Zimmern in so genannten Arbeitervierteln gelebt, nicht weit entfernt von einer Fabrik, oft direkt dabei (als wären meine Zimmer Bestandteil eines größeren Plans). Die Straßen sind sich immer gleich: lange Reihen grauer oder verwitterter weißer Steinhäuser, einförmige Fassaden, nur durch die gerahmten, vom bläulich-unwirklichen Schein der Fernseher beleuchteten Fenster und durch die schweren Treppenauf­gänge unterbrochen, die von den menschenleeren Bürgersteigen hineinführen. Überall hört man hier spielende Kinder, sieht sie aber nie; vielleicht gehören sie einer anderen Zeit an, vielleicht spielen sie nicht mehr auf der Straße. Aber ihre Geräusche klingen noch nach, die Namen, die Stiefel im Kies, das Knirschen, all das hallt zwischen den Häuserwänden wider.

Der Fabriklärm. Dampf wird durch ein Ventil abgelassen. Dann der Rhythmus der Maschinen, die harten, fülligen Klänge von Metall und Glocken, rollenden Rädern, laufenden Stahlseilen; unsichtbare Schwingungen und Schläge in der Luft, jähes Abbrechen des Lärms. In dieser Stille kann ich aus den Nachbarwohnungen das Wasser hören; es steigt auf und fällt durch Abläufe und Rohre hinunter, zur Erde und in sie hinein. Über mir, nur durch die dünne Decke aufrecht gehalten und getrennt, durch den Boden: eine Tür wird geöffnet, Füße, nackt, der unverkennbare Rhythmus von Haut auf Lino­leum. Wasser trifft auf Wasser. Konzentriert. Hart. Und dann die Wassermassen, die wie dem Auge verborgene Wasserfälle durch die Wände hinabrauschen.

Es ist kalt. Ich stehe auf, schließe das Fenster, lege mich still wieder ins Bett neben sie, sie schläft. Sie hat das Gesicht ihrer Mutter, noch unfertig, denselben Mund, die Lider werden später schwer auf den Augen liegen, die dunklen Linien, die hübsche Nase, all das Unbenennbare, das sich wie ein Gesicht im Gesicht herausbilden wird.

Das helle, vom Schlaf verwuschelte Haar bedeckt ihr halbes Gesicht, sie hat sich die Bettdecke über den Hals gezogen, bis an den Mund, ich sehe sie fast nicht. Sie ist meine Tochter.

Durch das Schlafzimmerfenster sehe ich nichts außer Häuserfassaden. Aus den Schornsteinen steigt kein Rauch, die Fenster sind von Gardinen verdunkelt. Eine Lampe zeichnet sich ab, manchmal Schatten, sie tauchen auf und verschwinden wie Figuren in einem Marionettenspiel. Ich stelle mir oft vor, sie seien Menschen: ein Mann mit einem besonders schweren Gesicht, eine Frau ohne andere Merkmale, als dass sie einst schön gewesen ist.

Ich sehe eine Familie, durch die Gardinen hindurch, als ob der dicke Stoff tatsächlich ein Bühnenvorhang wäre. Das Licht wird eingeschaltet. Die Wohnung wird in Dienst genommen, Stühle werden vorgezogen, Türen werden geöffnet und geschlossen, die Straßen werden bereit gemacht. Die Fabrik leuchtet, die Autos starten, die Häuser leeren sich. Es wird still. Was zurückbleibt – als wir endlich aufstehen, sie und ich –, sind Reste.

Jetzt können wir hinausgehen, hinaus in diese Kulissen. Wir treffen auf rasche, dunkle Reflexe, sie sind durchschaubar, oder allzu konkret: Unsere Blicke werden zurückgeworfen, unvermeidlich sehen wir in diesen Gestalten nichts anderes als uns selbst.

Wir verlassen die Straßen. Gehen an Hinterhöfen und Gartenzäunen vorbei; Tulpen, Hagebutten, schon jetzt, Hand in Hand, am Wohnblock vorbei, an der Schule, ja, alles Leben ist in die flachen Gebäude hineingesogen worden, in die ebenmäßigen Gartenflecken; eine Blutbuche, rostrot, die aus Steinen gemauerte Kirche mit den scharfen schwarzen Schatten des Baumes und seines Laubs. Und dennoch ist die Kirche im Vergleich zum Krankenhaus verschwindend klein; im Vergleich zu den vielen klotzigen Monumenten, die zu einem Gebiet zusammengewachsen sind, dem Krankenhausgelände. Ein Park. Hier irgendwo liegt die Mutter meiner Mutter, der Vater meiner Mutter, liegen meines Vaters Vater und Mutter, hier – an Orten, die ich nicht kenne – liegen die meisten Mitglieder meiner Familie.

Wir suchen sie. Zwischen anderen Toten, anderen Familien finden wir die Steine und die Namen. Elly Alice. Alfred Johan. Aagot Constanze. Erling H. Johannessen, als ob all die zweifachen Vornamen ausgleichen sollten, dass wir eine kleine Familie waren.

Und jetzt erkenne ich, wie klein das Mädchen an meiner Hand ist. Über ihr kann ich das Meer sehen und die Brücken, die zur Stadt hineinführen. Die alte Eisenbahnlinie läuft ein Stück parallel zum Fluss, bevor die Schienen in dem Tunnel unter dem Berg verschwinden, in dem sie enden. Der Fluss mündet ins Meer, das zu einem Bassin eingefasst ist, einem Sportboothafen. Rund um den Hafen verläuft ein Fußweg, gebaut mit dem Abraum von den neuen Autobahntunneln. Der Weg führt zum Bahnhof und in der Gegenrichtung zu der stillgelegten Werft, die wir durch Laub und Bäume hindurch undeutlich erkennen. Bald wird sie sechs Jahre alt. Sie ist größer als diese Grabsteine, sie schaut hinab und liest laut die Namen derer vor, die nicht wissen konnten, wer sie, die ihren Namen trägt, sein würde.

Familie

Ich kann es nicht lassen, ich sage es. Ich sage: Du ähnelst meiner Tochter. Sie antwortet auf dieselbe katastrophale Art und Weise. Sie sagt: Und du siehst wirklich aus wie mein Vater.

Sie sitzt mir gegenüber auf der Terrasse. Von unserem Tisch aus sehen wir, wie der Fluss in einer Kurve unter der Brücke verschwindet, wo er das Licht verliert. Oben am Geländer stehen zwei junge Männer. Sie sind betrunken und haben ihre Oberkörper entblößt. Der eine springt und trifft die Sonne, bevor er unter der Brücke verschwindet.

– Bist du allein?

Ich versuche, den Blick zu heben. Sie hat Sommersprossen über der Nase und unter den Augen. Sie trägt ein tief ausgeschnittenes, hellblaues Kleid mit schmalen Trägern. Sie blickt zum Fluss, als sie es sagt.

– Er ist mein erster richtiger Freund. Und er ist ganz anders als du.

– Wie ist er?

– Er ist wie ich, sagt sie.

Wir sitzen zwischen den Sonnenschirmen in der Sonne. Sommergäste. Die anderen sitzen im Schatten. Hinter uns hat die Bedienung die großen Glastüren aufgeschoben. Aus dem Restaurant ist Musik zu hören. Wir trinken aus und ich sage, sie soll mit mir in das Hotelzimmer hinaufkommen. Es ist groß und hell. Ein Schreibtisch, Spiegel und Bett, wie ein Jugendzimmer. Ein Balkon mit Ausblick über den Garten und den Pool, Geräusche von Wasser und Kindern und Hitze. Sie tritt sich schwungvoll die Schuhe von den Füßen. Zieht die Gardinen zu. Alles ist dunkel und Jugend, und ich kann nicht anders, ich muss daran denken, welche großen Verbrechen nötig sind, um das Verlorene wiederherzustellen.

– Danach gehen wir schwimmen, sagt sie.

Namen

Ihr Name ist in das Messingschild graviert, das immer noch unter dem Glasfenster an der Tür hängt: Elly Alice Olsen. Er hat seinen Namen an zwei Orten. Er ist an keinem Ort.

Und hier wohne ich. In ihrem Namen. Eine von acht Wohnungen. Zwei auf jeder Etage. Eine schmale, steile, braun gestrichene Treppe, in den Wohnungstüren Milchglasscheiben. Unten auf der Treppe riecht es nach Kohlen und Essen. Im Keller sind eine Gemeinschaftsdusche, Verschläge und eine Treppe in den Hinterhof, wo sich ein Gestell zum Kleidertrocknen befindet und ein kleines Beet mit Blumen, die jedes Mal zertrampelt werden, wenn die Kinder Ball spielen. Manchmal riecht es im Treppenaufgang nach Tabak und Alkohol, nicht nur an Samstagen.

Ich schließe die Wohnungstür auf, ein kleiner Eingangsflur, Küche und zwei Zimmer, in dem einen steht das Bett, in dem sie in der Dunkelheit liegt, mit geschlossenen Augen. Auf dem Nachttisch: das Telefon, die Gläser mit Tabletten und Wasser. Eine Fotografie. Darauf bin ich zu sehen. Ich setze mich auf die Bettkante, nehme ihre Hand. Der kleine Junge steht an einem Teich im Park und füttert die Enten. Sie, die sterben wird, steht hinter dem Jungen und hält die Papiertüten mit aufgeschnittenem Brot. Sie schlägt die Augen auf, sucht nach dem Namen, und aus einer langen Reihe von Lebenden und Toten wählt sie meinen. Die Mutter meines Vaters. Sie erinnert sich an nichts mehr richtig. Sie sagt: Ich bin müde, und wenn du ins Bett gehst, darfst du nicht mehr zu lange lesen, und denk daran, das Licht auszumachen, gute Nacht.

Gute Nacht.

Ich lege mich neben sie ins Bett wie gewohnt, und kurz bevor ich einschlafe, spüre ich, wie sie zusammenschrumpft und verschwindet.

Vater

Danach schwimmen wir. Sie kann sich gerade so über Wasser halten, ihr Körper versinkt, wird aber von Armen und Beinen und den raschen Schwimmzügen oben gehalten. Sie reckt den Kopf über das Wasser, den Mund geschlossen, die Augen offen, du musst atmen und die Augen zumachen, rufe ich, aber sie schwimmt auf ihre Weise, sie kämpft darum, über Wasser zu bleiben, bis sie müde wird und mit den Füßen nach dem Boden des Pools tastet. Ja, jetzt kannst du schwimmen, sage ich. Aber sie ist nicht zufrieden und springt los, die Arme vor den Kopf gestreckt, sie hält den Kopf erhoben, und auf diese Weise springt sie voran durchs Wasser, immer auf und ab. Ich lache, sie wird wütend. Du darfst keine Angst haben, Wasser ins Gesicht zu bekommen! Gib dich hin, hab keine Angst! Aber sie steigt bereits die Badeleiter hoch, läuft über die Steinplatten zum Liegestuhl und wickelt sich ins Handtuch. Du bist geschickt, sage ich, sie will nicht antworten und sie will nicht hören und sie will nicht mehr baden, sie zieht sich an. Sie geht zum Hotel. In den neuen Ledersandalen und dem hellblauen Kleid, mit Sonnenhut und Sonnenbrille marschiert sie an Restauranttischen und der Freiluftbar vorbei, und ich sehe, wie man ihr nachblickt. Ich laufe ihr hinterher, nehme ihre Hand und ziehe sie an der Rezeption vorbei in den Fahrstuhl, und ich weiß, es sieht aus, als würden wir streiten. Aber sie sagt nichts und sie will nicht hören und ich rede zum Fahrstuhl und zu den Etagen und zum Flur und zu den Türen und zum Hotelzimmer mit dem Bett und dem Spiegel und den vorgezogen Gardinen. Es ist der erste Tag der Ferien. Sie wirft sich aufs Bett und strampelt mit den Armen und den Beinen, und als sie endlich den Mund aufmacht und die Augen schließt, füllt sie das Zimmer mit einem allzu erwachsenen Schrei.

Mutter

Sie wiegt 15 Kilo weniger als noch vor zwei Wochen. Sie verliert das Leben, es fällt von ihr ab, wie ausfallendes Haar. Nie zuvor waren ihre Augen lebendiger. Sie sitzt auf der Treppe zwischen Schlafzimmer und Wohnzimmer. Sie zündet sich eine Zigarette an.

– Hier sitze ich besonders gern, sagt sie.

Wir lachen. Zum ersten Mal seit meiner Kindheit lehne ich mich an ihre Brust, die feucht wird.

Es ist nicht schwer, über den Tod zu reden. Wir reden unablässig über den Tod. Wir reden über den Garten und die Nachbarn, der Tod ist da. Wir reden über unsere Eltern und Kinder, der Tod ist da, und wir können nicht anders, wir vergessen und reden über all das Gute, das gewesen ist, und der Tod war schon damals da, und egal, worüber wir reden, der Tod ist in jedem einzigen Wort und in jedem Atemzug und in dem kleinsten Bestandteil von dem, was wir sind, und wir können nicht einmal über Insekten und Schuhe reden, ohne dass wir beide springlebendig werden. Endlich wird die Welt wiedererschaffen in all ihrer ursprünglichen Schönheit. Sie wird sterben, und die Welt wird leben. Sie springt auf wie eine bunte Blüte, direkt hier vor unseren Augen.

Wo

Wo ist sie geblieben. Ich stehe in der Tür und sehe sie wie immer dort liegen, zwischen den Büchern und den Kissen, im Bett, im Schlafzimmer. Sie wirkt stiller, ruhiger, vielleicht – es ist immer noch möglich, das zu denken – schläft sie, sie schläft still heute Nacht, sie schläft ruhig heute Nacht, vielleicht schläft sie traumlos heute Nacht, eine sorgenfreie Nacht, eine kinderlose Nacht, eine Nacht ohne Träume davon, zu verschwinden, ein anderes Leben zu leben, ein reicheres, wilderes und kompromissloseres Leben. Aus dem Schlaf kann sie immer zurückkommen, aber sie schläft nicht, der Schlaf hat sie verlassen, und sie kommt nicht zurück, endlich ist sie davongekommen, sie vermisst uns nicht einmal.

Adresse

Sackgasse. Dunkelheit an beiden Enden, nach rechts, bei der mit einem Tor versperrten Einfahrt zur Fabrik, nach links (aus dem Bett, der kalte Fußboden, durch die Küche, die Treppe hinunter, ohne Jacke, ohne Mütze, wieder krank, wieder mutterlos) bei der Schranke und dem Kontrollhäuschen, das die Arbeiter auf dem Weg in die Werft passieren. Mein Vater geht in die eine Richtung, sein Vater in die andere. Ungefähr in der Mitte der Straße das Haus. Ein Haus wie alle anderen. Die Fassade neu gestrichen, trügerisch blau. Haustürschloss, die Namen auf kleinen Zetteln. Arbeiternamen. Das Haus verschlossen. Doch die Straße ist offen; bei der geschlossenen Werft ist eine Brücke gebaut worden. Schwertransporter und Autos und, selten einmal, Fußgänger. Wir gehen den Bürgersteig entlang, sie muss zur Schule. Ich halte sie an der Hand. Hin und zurück. Die Glockenschläge. Schultor und Schulhof, die hohen gemauerten Wände: Sie verschwindet mit der lockeren Schar, in das regulierte Licht hinein. Hier – im Eingeschlossenen – beginnt und endet alles.

Peripherie

An einem anderen Ort, außer Sichtweite der Fabrik, auf einer Anhöhe mit Aussicht über die Stadt, das Haus meiner Kindheit. Ein blau gestrichenes Reihenhaus, zugänglich über eine Treppe, die von einem Kiesweg aufsteigt, Nachbarn, Schritte. Im ersten Stock das offene Fenster des Jugendzimmers: das Bett unter dem Fenster, der Schreibtisch, die Bücherregale als zusätzliche Wand zum störend lauten Badezimmer. Und auf der anderen Seite des Wassers das Zimmer der Schwester. Das Flügelhorn in einem Kasten auf dem Boden. Dieses Zimmer verströmt nichts außer Stille. Die Eltern schlafen nebenan. Das rote Licht des Radioweckers, die Zeit ist stehen geblieben, als würden wir schon heute Abend durch die halboffene Tür hinausschleichen. Meine Schwester und ich. Die Treppe hinunter, zum Wohnzimmer und der Küche, ein Haus wie alle anderen. Lampen, Gemälde, Bücher und all die Hinterlassenschaften der Toten, die ein Zuhause so enthält. Wir gehen leise vorbei, schleichen wie immer aus der Haustür hinaus, und wenn wir – fast lautlos – diese Tür hinter uns zuziehen, stehen wir elternlos da und blicken zu den Lichtern der Stadt. Wir sind heute kleiner als damals. Wir gehen zum Gartentor, jeder in sein Zuhause, und vom Küchenfenster aus gesehen, werden wir immer kleiner, bis wir hinter den Garagen verschwinden.

Schatten

Eingeschlossen zwischen den Fabrikgebäuden und den Arbeiterwohnungen: die alten Holzvillen. Beschattet von den lückenhaften Baumreihen, die einst die Kleingartengenossenschaften und Obstsorten umstanden; die Frau steht im Keller, Saftflecken auf dem Kleid, das Kind fällt, bereits übergewichtig, überreif, fällt mit den Bäumen und Beerensträuchern und der ganzen verrotteten Familie. Das asphaltierte Gras. Die neuen Schatten: Schornsteine, Kräne, parkende Autos, schöner als die Schlehen- und Weißdornsträucher.

Die Reihenhäuser. Sie stehen jetzt leer. Abgesehen von diesem Mann auf einem Stuhl. Er nimmt weniger als einen Quadratmeter von den einhundertzehn der Wohnung ein. Und dennoch ist das Haus klein im Vergleich zu dieser Einsamkeit. Es bietet nicht mehr Platz als genau für diesen einen Mann, der nun aufsteht und den Fernseher ausstellt. Er geht die Treppe zum Schlafzimmer hinauf, wo er sich – aus alter Gewohnheit – ganz dicht an der Wand ins Bett legt, auf seiner Seite des Doppelbetts.

Schreibtisch

Ich trage beim Schreiben immer meine besten Kleider. Von hier, wo ich sitze, kann ich die Fabrik sehen, in der mein Vater hinter seinem Schreibtisch sitzt. Es ist, als ginge es darum, sich mit den Zähnen in der Arbeit zu verbeißen, sich mit den Zähnen am Schreibtisch festzuhalten. Wenn ich gelegentlich abrutsche, ruft er mich aus seinem Büro dort oben im dritten Stock an: Du solltest dir eine anständige Arbeit suchen! Der strenge Tonfall kann die Sorge nicht verbergen, die sich in der schönen Stimme festgesetzt hat. Ich gebe ihm immer recht, aber jedes Mal denke ich, wie viel besser mein Schreibtisch schmeckt als seiner.

Beruf

Ich habe nie einen Beruf gehabt. Es gibt Zeiten – meist im Sommer oder in den Ferien –, da vermisse ich es, einen Beruf zu haben. Manchmal denke ich an einem Sonntag: Meine Sonntage sind nicht wie die anderer. Manchmal denke ich: Morgen suche ich mir einen Job. Ich stelle mir sofort vor, dass ich hinter einem Tisch sitze. Ein Kalender hängt daneben an der Wand. Ich telefoniere. Esse in der Kantine. Zurück im Büro, zünde ich mir eine Zigarette an. Doch schon nach ein paar Minuten ermüdet es mich, an die Arbeit zu denken, die ich nicht habe. Ich stehe auf. Ziehe mich an und gehe hinaus. Wahrscheinlich fängt es an zu regnen. Möglicherweise sitzen wir in einem Café. Nach einigen Stunden gehe ich allein nach Hause. Und wenn ich die Tür zu der kargen Wohnung aufsperre, freue ich mich aufrichtig darüber, dass ich weder einen Beruf habe noch eine Zukunft.

Nichts

Mir wurde früh klar, dass meine eindrucksvollsten Erlebnisse dort stattfanden, wo nichts geschah: hinter einer Tür, in einem Schrank versteckt, in der Dunkelheit hinter den Gardinen oder in den langen Stunden, in denen ich tief im Gras und im Moos lag. Als ich endlich die Schulpflicht hinter mich gebracht hatte, rannte ich mit diesem gewaltigen Jubelgefühl in der Brust aus dem Schultor hinaus; nie werde ich das Licht an jenem Tag vergessen, und wie ich immer leichter wurde, als würde sich all dieser Schul- und Zukunftsquatsch auflösen und rasch in eine Art Gas verwandeln. Von diesem Gas erfüllt, ging ich durch die Stadt, sah die Gebäude und die monumentale Architektur, die unter mir kleiner wurde; die Bäume im Park, Gesichter und Straßen verschwanden und wurden zu Streifen und Mustern auf einer grauen Fläche, die ins Meer überging und in das unendliche Blau unter den Wolken.

Als ich an jenem Abend müde und schwer wurde und nach Haus ging, beschloss ich, mit allem zu brechen. Da erblickte ich das Haus, in dem wir wohnten. Ich schloss die Augen, ich sah meinen Vater auf dem Sofa vor mir, müde von der Arbeit. Meine Mutter vor dem Fernseher, die Möbel, die Teppiche, die Lampen, all die schönen Dinge, die sie beide von ihren Eltern geerbt hatten. Ich stürzte mich in mein Bett, versteckte mich unter der Bettdecke und entdeckte – zu meiner großen Verwunderung –, dass ich schon seit mehreren Tagen hier gelegen hatte.

Anfang

Aufzuwachen, um sich wieder schlafen zu legen, aufwachen, halb schlafen und halb wachen, mit jenen Halbträumen, die sich mit den ersten Morgengeräuschen mischen: Fenster werden aufgestoßen, eine Tonne wird über den Hinterhof geschleift, das Morgenprogramm im Radio: Unfälle, unterbrochen von Wolken und der schräg einfallenden Sonne. Ich setze mich im Bett auf, mache die Nachttischlampe an und lese in einem Buch: »Am liebsten lese ich immer wieder die trivialen Bücher, die neben mir auf dem Nachttisch schlafen.« Und jetzt erkenne ich es, dies ist der Anfang, dies hier ist der Auftakt zum perfekten Tag. Ich lege mich zurück ins Bett, ziehe mir die Decke über den Kopf und versinke in einem Schlaf von Winter und Jugend. Ja, dort steht sie, die große, weiße Mütze auf dem hellen Haar. Der Schnee schmilzt auf ihrem Gesicht, sie zieht ihre Fäustlinge aus und nimmt eine Zigarette: Du kannst doch nicht einfach mit der Schule aufhören. Was willst du eigentlich werden? Ich zucke mit den Schultern, werfe etwas Schnee auf das Gesicht und die Zigarettenglut. Nichts, schnaube ich, absolut nichts.

Ferien

Aus der Stadt hinaus, nicht zu weit weg, nicht zu nah dran, genau den Abstand, der notwendig ist, damit wir weder zu Hause sind noch fort. Das Haus liegt am Wasser. Auf der anderen Seite des Fjordarms sehen wir die Vorstädte: Einfamilienhäuser, Gärten, Bäume und Orte wie diesen, ja, als ob die andere Seite mit ihren Fenstern und Schatten erdacht und erbaut wäre wie ein Spiegel. In den Fenstern die Schiffe, die in die Stadt hinein und aus ihr heraus geschleppt werden, über die wartenden Gesichter hinweg; eine ruhelose Maschinerie von Häusern und Vögeln, die die Glockenschläge bestätigen. Worauf warten wir? Sie liegt auf dem Sofa und blickt auf das Foto ihrer Mutter. Es ist Zeit zum Vergessen, es ist Zeit, sich im Garten in den Liegestuhl zu setzen, ohne Erinnerung, ohne Gedanken an etwas anderes als die schöne Aussicht auf das, was wir bereits kennen.

Bäume

Es hört auf zu regnen, und der Nebel wird leichter, wird vom Licht vertrieben, das sich in den Bäumen festsetzt. Die Äpfel liegen im nassen Gras als kreisrundes Spiegelbild derer, die noch an den Ästen hängen, und das traute Bild der Bäume und der Äpfel am Boden befindet sich im vollkommenen Gleichgewicht, vom Fenster gerahmt. Ich schreibe nicht. Auch heute will ich die Äpfel weder pflücken noch aufsammeln. Bereits kurz nach Mittag bricht die Dunkelheit herein. Jetzt sind es die Äpfel, die leuchten, kleine, runde, glänzende Flecken im Schwarz, die vom Wind in Bewegung versetzt werden. Das schwarze Gras. Die schweren Äste, jäh berührt vom Mondmilchlicht der Wolken. Es fängt an zu regnen, die Bäume verschwinden mit den Äpfeln und dem letzten Licht. Es wird Nacht auf dieselbe Weise, wie wenn im Theater die Bühnenbeleuchtung verlöscht und die Vorstellung vorbei ist. Am besten wäre es jetzt, eine neue Flasche zu entkorken, Zigaretten zu rauchen, mit Freunden zu diskutieren: Die Kunst interessiert mich nicht, die Natur interessiert mich nicht und so weiter. Doch dann schneiden die Autoscheinwerfer von der Straße die Dunkelheit auf, und es wird deutlich, dass es hier nichts weiter gibt als Bäume und Stille. Wenn der Morgen den Hügel heraufkriecht und sich zu einem neuen Tag erhebt, wird das Licht sich wiederholen und alles verändern. Die Äpfel fallen ins Gras, ihrem wartenden Spiegelbild entgegen. Die Bäume sterben und erwachen. Ich sehe sie durch das Fenster wie die Schatten in einem Traum.

Frost

Die Stille in der Frühe deutet darauf hin, dass etwas geschehen ist, das Licht im Fenster ist schärfer, dazu die Wärme des Traums und die Kälte im Zimmer. Heute Nacht hat jemand gekämpft. Als die Geräusche kommen, sind sie langsamer, steifer, wie nach einer Verletzung. Der Morgen hinkt. Das trockene, ungewohnte Flüstern von Wind und Blättern, die Äste schlagen kraftlos gegen das Fenster. Als ob die Bäume außer Atem geraten wären. Die Blüten haben sich nicht rechtzeitig schließen können und sind in all ihren Farben erstarrt. In dieser Nacht hat all das überlebt, was nach äußerster Anstrengung seinen Schlaf und sein Erwachen wiedererrungen hat. Auf der anderen Seite des Flusses, wo die Sonne sich hat festsetzen können, sind die Steine wasserfarben und die Spuren der Kälte ziehen sich gemeinsam mit den Schatten zurück. Ich stehe unruhig am Fenster. Hier in der morgendlichen Dunkelheit liegt der Frost noch im Gras. Alles ist weiß und stehengeblieben. Die jähe Kälte hat den Herbst zu einem Bild gefroren. Habe ich jemanden verloren? Ich gehe ins Wohnzimmer hinunter, lege Holz in den Ofen. Zünde das Feuer an und schalte das Radio ein. Der Tag beginnt. Die Sonne trifft auf das Fenster, und als ich es endlich wage wieder hinauszusehen, ist alles wie am Tag davor.

Wolken

Die alte Angst vor Wolken. Sie treiben durch das Haus und die Zimmer, oder wie sich die Wolken direkt über dem Bett sammeln und einem Traum von Wolken ähneln. Sie gleiten über den eingesperrten Himmel, Schatten in den Spiegeln und den Fenstern, ohne Regen noch Wind, leere Bewegungen mit maßloser Kraft: ein Sturm aus der Kindheit. Die Mutter. Sie sitzt im Badezimmer, dem einzigen fensterlosen Zimmer, unter dem Spiegel. Klammert sich an die beiden Kinder. Drückt den Jungen und das Mädchen an sich wie zwei sinkende Rettungsbojen. Es blitzt und donnert, wir sehen es nicht, hören es nicht, das Radio ist aufgedreht, laut, die Töne hallen zwischen den gefliesten Wänden wider, Musik und Nachrichten, das verzerrte Gesicht der Mutter, sie schert sich weder um den Tod noch um den Wetterbericht, sie zischt dem weinenden Kind zu: leise, leise, es ist bald vorbei; es ist nie zu Ende, das Unwetter ist da, auch nachdem es aufgeklart hat und sie zwischen ihnen im Bett liegt. Wir lassen uns nicht beruhigen. Der Wind legt sich, die Wolken lösen sich auf. Und die Kindheit verschwindet mit dem Licht, das aufsteht in der neuen Bedrohung eines wolkenfreien und angstlosen Todes.

Weg

Ich bin fast nie zu Hause, und auf diese Weise wohne ich hier. Diese doppelte Abwesenheit füllt die Wohnung an, richtet sie ein mit den Straßen, durch die ich gehe, den Orten, an denen ich schlafe, Staub von anderen Orten, Reste von Reisen, der Geruch von Süßwasserseen, Geräusche einer Stadt, die ich nie gesehen habe.

Aber wenn ich nicht hier bin, ist alles normal. Dann ist diese Wohnung nichts als ein Zuhause, das wartet. Ein Wartehaus. Worauf wartet es? Eines Abends klingelt es an der Tür, und es ist, als würde die Tür anwachsen, den Türrahmen sprengen und aufreißen, weit aufreißen, aber natürlich bleibt sie geschlossen und ich muss sie öffnen und erwarte, die Frau dahinter zu sehen, das schwere Gesicht, die rauchfleckigen Augen; aber ich muss den Blick senken, und dort steht sie, kleiner, als ich sie in Erinnerung habe, klein, und mich umfängt der plötzliche Wunsch, sie wäre noch kleiner, sie würde hier und jetzt schrumpfen, immer weiter schrumpfen, so dass ich sie kaum noch sehen könnte und sie verstehen würde, dass es lebensgefährlich ist, meine Schwelle zu übertreten. Ja, sie dreht sich weg und kehrt um, klettert die kolossalen Treppenstufen hinab und rettet das Wenige, was noch von ihrem Alter bleibt. Doch nein. Ganz im Gegensatz zu meinem Wunsch scheint sie größer zu werden und klarere Konturen zu bekommen, die Brüste, das Gesicht, die Hände; alles an ihr wird erwachsen, und ich sehe mich genötigt, sie hereinzulassen. Schon nach ein paar Stunden werde ich versuchen hinauszukommen, und sie wird meine Abwesenheit sofort bemerken: Sie wird mich Liebster nennen oder Vater.

Geburtstag

Die plötzliche Öffnung im Wald, und dort steht das Haus, die Fenster weit über dem noch nassen Gras geöffnet: ein Boot im Hafen aus Erde, bereit weiterzusegeln, festgewachsen in den Matschpfützen und auf dem Hof mit Aussicht zum Fluss und zum Waldrand, wo die Hirschkühe lagern. Trächtig wie Anemonen und Fingerhut, sonntagsträge. Im Schlafzimmer, umgeben von Blumen, dem Schreibtisch und Büchern, unter deiner Mutter, vor deinem Vater und den zwei Frauen hinter ihm, kommst du heraus, die Beine voran, der wasserfeste Körper, das Gesicht ein Ball aus Entsetzen. Das Junilicht sprüht den Geruch von Gülle und Traktordiesel herein. Lachen, Weinen und der Schrei, als du auf dem Boden auftriffst. So rasch, mein Liebstes, dass ich es nicht schaffe, dich aufzufangen. Du stehst auf einem Stuhl in der Mitte des Kreises aus Mädchen und Gesang, in einem geblümten Kleid, mit roten Schuhen und einem spitzen Hut aus blauem Krepppapier, das Gesicht eine Leuchte aus Erwartungen. Draußen vor dem offenen Fenster ein Strom von Autos und Sommerpaaren, die ins Kino oder spazieren gehen wollen. Das Geburtstagslied ist gesungen, du streckst auf einmal die Hände aus, springst vom Stuhl, mir entgegen, und ich fange dich auf.

Komm

Juni, der Tochtermonat, sie ist müde, sie verlangt etwas vom Vater, das er nicht geben kann. Wortlos. Gesichtsfest, eine Handbewegung genügt, er läuft hinzu, es ist zu früh, es ist zu spät, er hat den Augenblick ihrer Kindheit verpasst. Mächtig wie Gewitter strömt der Sommer herein. Er hält das Licht auf, zieht die Gardinen zu, es ist nichts, psst, der Frühling vorbei, der Schlaf bedroht. Die sonnensatten Fliegen, die Träume warten, öffnen sich mottenkugelduftende Zimmer, in den Stoff der Blütenblätter aus Nacht und Niedergang, nieder in das Farb­lose, nieder in die Mutter, die fallenden Minuten zwischen Schlaf und Nie. Kommt sie nicht? Schlaf jetzt, es wird nicht dunkler, es wird nie wieder so, wie es war. Die Dunkelheit hat das Haus verlassen und die weit geöffneten Wiesen, die in Licht gebadet sind. Mondscheinsonne. Es wird hell, Nacht und Liebe sind nicht mehr da. Nein, nicht sie kommt dort, sondern der Sommer. Wir liegen wach in dem Neuen.

Das Haus

Das ruhelose Haus, es ist nie davongesegelt, es blieb liegen, an die Bäume gebunden und an den festgetretenen Pfad, eng an deine Geburt und die Vergessenheit gebunden. Stattdessen verließen wir es, verließen die sinkenden Zimmer mit all dem alten Schrott, der unsere neuen Leben möbliert hatte, dies Leben auf dem Lande. Wie war ich froh! Wir sahen das Haus aus dem Umzugswagen, einen weiß gestrichenen Sarg, ein letzter Blick zurück, das Haus verschwand in seiner moorweichen Mulde, hinter den blumenbestreuten Erdhügeln.

Aussicht

Durch das Küchenfenster gesehen, sind die Fensterrahmen auf der anderen Seite der Straße eine vertikale Reihe quadratischer Löcher, bis hinauf zu den Hausdächern und dem Himmel darüber, ein Aufzug von Familienspiegeln, in denen sie ihr Gesicht an die Fensterscheibe gedrückt hat, als wäre die Luft aus dem Zimmer gesaugt. Die Stockwerke, die Mütter, die zusammengepresste Landschaft hinter den Schultern in einem Wohnzimmer: Parkettböden, Topfpflanzen und die Abwesenheit des Vaters. Wenn wir ins Wohnzimmer gehen und das Gesicht an unser Fenster drücken, müssten wir sehen können, wie er die Fabrik verlässt. Die leuchtenden blauen Overalls, die Helme und Schirmmützen, die Zigarettenglut, sie gehen wie Gliederpuppen. Vielleicht sitzt er schon in einem der Autos, hinter einem dieser Gesichter, die sich nicht nach Hause sehnen. Eines Tages verschwindet er wohl, wir wissen nicht wann, vielleicht entscheidet er sich anders, und das ist das Schlimmste: zu verschwinden, hier, direkt vor den Augen deiner Tochter.

Klein

Sie ist so klein, dass ich mich hinabbeugen muss, um sie zu küssen, oder sie steht auf der Bordsteinkante und ich auf der Straße, oder sie sitzt auf der Küchenbank und ich greife um ihre Leibesmitte, oder sie liegt im Bett und ich sitze auf der Bettkante, um ihr Gute Nacht zu sagen. Oder sie sitzt über mir und ich sehe zu ihr hinauf und fühle mich selbst wie ein Winzling.

Niemand

Wie eine beinah unspürbare Störung, wie ein Insekt oder ein Gedanke oder das Kritzelgeräusch auf Papier: Halb Mann, halb Frau, weder Kind noch erwachsen, nackt in diesen Kleidern, still und besorgniserregend, ohne jemals sichtbar zu werden oder zu verschwinden, gehst du vorbei und in das Nebenzimmer und wirst niemand.

II

Frühling

Du hast nie an die Tür geklopft oder Steinchen ans Fenster geworfen. Ich sah dich in Angriffsstellung mit den ausgerissenen Blumen und dem roten Mantel, der das gestohlene Essen versteckte. Der Mantel deiner Mutter, er umflatterte deinen langen, gefährlichen Körper wie die Fahne der Rebellion.

Wie einen Wind ins Haus zu lassen.

Du wehtest um die Möbel und durch das Wohnzimmer, das Schlafzimmer und das, was ich schrieb. Schon nach wenigen Tagen war die Wohnung nicht wiederzuerkennen und ich war ein anderer. Wärmer, weicher, ein Dieb. Du hattest reiche Eltern. Wir bedienten uns an den Getränken, eigneten uns das Auto und das Landhaus an, okkupierten Haus und Betten, nahmen alle Kleider mit, die wir brauchten, und Geld ebenso. Und als von der Vergangenheit nichts mehr zu holen war, machten wir uns über die Zukunft her. Wir zogen um, ließen die Wohnung und die Rechnungen hinter uns, reisten von dannen, um möglichst viel von dem endlosen Frühling mitzunehmen.

Hinaus

Wieder platinblond, wieder kurzgeschoren, wie ein Junge, du läufst wie ein Junge herum, nicht wiederzuerkennen zum dritten oder vierten Mal, Kontaktlinsen und darum eisgraue Augen, oder grüner, roter Mund, Herpes an den Lippen und alles, das du nicht sagst, Sonnenbrille, blaue Flecken, die weißen Blusen, die weißen Hosen, Designerunschuld, hohe Absätze, ein neues Tattoo, du sagst: Revolution, mein Gott, was willst du denn, nichts ist natürlicher.

Veränderung

Das olivenhelle Zimmer in der Via Natale del Grande mit dem großen, zerwühlten Bett und dem runden Esstisch, der von Wand zu Wand zog, denn deine Unruhe war eine Fliege. Abends rollten wir den Fernseher herein und sahen Filme von Pasolini und Visconti, du übersetztest Wort für Wort, bis du einschliefst und ich raten musste, was gesagt wurde. Früh am Tage, vor Sonne und Hitze, vor Telefongesprächen und Besprechungen, liefen wir in Trainingszeug die Treppen zu den Schatten und dem Park hinauf, wo ich dir das Boxen beibrachte. Ich wurde von Raserei geschlagen, die wilden Kindheitsmuskeln und die Vergangenheit, die du in dem Gesicht, das ich versteckte, wiedererkannt haben musst. Wir frühstückten am Fenster oder dort, wo wir den Tisch auffanden, hinter der Tür oder dicht an der Wand, und ich erzählte dir, dass ich keine Veränderungen mochte. Ich liebe Veränderungen, sagtest du, und jeden Tag begleitete ich dich an Orte in der Stadt, an denen ich dich nicht wiedererkannte.

Bühne

Nach dem Abendessen beim Botschafter, draußen vor dem Garten des Botschafters, auf dem Kiesweg, hinter den Gittertoren, du mit Hut und Rock und hohen Absätzen, du zogst den Rock hoch, stecktest Gesicht und Nase in die blühenden Büsche, während du spürtest, wie die Schamlippen geöffnet wurden; der Pfahl der Arbeit, der Rhythmus der Arbeit, die härteste, schönste Arbeit, gesehen nur von den Überwachungskameras und den Wachhunden, winselnd und knurrend, brutal und notwendig.

Ginzburg

Das Dienstmädchen öffnete uns, ein kleines Wesen in schwarzer Uniform mit Häubchen, wie ein junges Mädchen mit uraltem Gesicht, sie führte uns in die dunkle Stube mit den Katzen. Ich wusste sofort, dass du zu groß warst. Wir setzten uns auf das taubengraue Samtsofa, du ließest den Kopf sinken und sankst im Rücken zusammen, verkürztest die Bewegung deiner Arme und tatst alles, um zu schrumpfen. Doch als ich sie sah, wusste ich, du warst zu schön. Wir sprachen über ihre Romane und Novellen, über ihre Ehen und über Pavese, den sie gekannt hatte, und endlich erwähntest du das Theaterstück, das wir übersetzt hatten und in dem du eine Rolle übernehmen wolltest. Nicht die Hauptrolle, sondern die Ilaria in Intervista, Ginzburgs jüngstem Stück und ihrem letzten, wie sich herausstellte, denn zwei Monate nach unserer Begegnung war sie tot. Da sah sie dich an und schnaubte: Sie sind zu groß, die Figuren in meinen Stücken sind klein, piccoli, piccoli, wiederholte sie, und sie sehen auch nicht aus wie Schauspielerinnen!

Brecht

: Sophie Brezing. Lotte Eisner. Marieluise Fleißer.

CC: Hetty Kelly. Edna Purviance. Milfred Harris.

BB: Marianne Zoff. Helene Weigel. Margarete Steffin.

CC: Pola Negri. Lolita McMurray. May Reeves.

BB: Ruth Berlau.

CC: Oona O’Neill!