Carl-Auer

Michael Müller

Einführung in narrative Methoden der Organisationsberatung

2017

1 Einleitung

1.1 Unternehmen, Coaching und Organisationsberatung

»Coaching« ist bekanntlich ein Begriff, der umso weiter in seinem Bedeutungsspektrum wurde, je häufiger man ihn in den letzten Jahren gebraucht hat. Ich möchte hier nicht auf alle diese Facetten eingehen, dazu findet sich genug in einführenden Büchern zum Coaching (z. B. Radatz 2009). Ähnliches gilt für den Begriff »Organisationsberatung« (vgl. z. B. Königswieser u. Hillebrand 2013). Sehr allgemein könnte man den Unterschied zwischen beiden Begriffen dahin gehend fassen, dass Coaching eher Einzelberatungssituationen im beruflichen Kontext umfasst, Organisationsberatung dagegen Interventionen in Gesamt- oder Teilsysteme von Organisationen. Doch auch diese Grobdefinitionen sind nicht ganz trennscharf, spricht man ja einerseits auch von Teamcoaching, bei dem ein Teilsystem der Organisation beraten wird, andererseits ist Einzelcoaching etwa von Geschäftsführern und Vorstandsmitgliedern gleichzeitig oft unmittelbar eine Intervention, die die gesamte Organisation betrifft. Im Folgenden werde ich die beiden Begriffe, ohne sie genau zu definieren, in der oben erwähnten ungefähren Abgrenzung benutzen.

Eine weitere Vorbemerkung betrifft den systemischen Hintergrund der narrativen Beratungsmethoden, die in diesem Buch vorgestellt werden. Ich verzichte auf eine allgemeine Einführung in die systemische Denkweise und die daraus resultierende beraterische Haltung und verweise auch hier auf entsprechende Fachliteratur (z. B. von Schlippe u. Schweitzer 1999; Simon 2008). Obwohl ich persönlich sehr viel mit narrativen Ansätzen in der Beratung arbeite, wohl auch, weil mich meine eigene Lebensgeschichte von der Beschäftigung mit Geschichten zur systemischen Beratung geführt hat und nicht umgekehrt, wie es vermutlich bei den meisten Lesern, die aus dem »systemischen Feld« kommen, der Fall ist, so bin ich doch nicht der Ansicht, dass narrative Ansätze das allein selig Machende sind. Ich bitte die Leser dieses Buches, das Folgende als eine Bereicherung ihres Methoden- und Werkzeugkoffers zu sehen und für sich selbst zu prüfen, welche dieser Methoden ihnen liegen und für ihre eigenen Beratungssituationen passend sind. Zudem sind diese narrativen Ansätze immer auch kombiniert mit anderen systemischen Methoden zu denken. Wenn ich im Folgenden empfehle, Fragen zu stellen, ist intendiert, dass man sich aus dem systemischen Frageninventar (z. B. dem zirkulären Fragen) bedienen möge, und bestimmte Ansätze sind letztlich systemische Methoden, denen die narrative Perspektive eine Zusatzdimension gibt.

1.2 Narrative Ansätze in Beratung und Coaching

Geschichten, also Äußerungen in narrativer Form, werden seit jeher in nahezu jedem Coaching- und Beratungsgespräch angewendet: Der Berater bittet den Klienten zu erzählen, unter welchen Umständen das Problem, das ihn in die Beratung geführt hat, zum ersten Mal aufgetreten ist, wie es sich entwickelt hat, welche Lösungsversuche er bisher schon unternommen hat und so weiter. Oder der Klient erzählt, wie seine bisherige Karriere verlaufen ist, und entwickelt dann die Geschichte in die Zukunft hinein, beschreibt, wie er sich weiterentwickeln möchte und wie er dabei die Hilfe des Coachs benötigt. Auch Werkzeuge oder methodische Ansätze wie die Wunderfrage oder die Lebenslinienarbeit basieren letztlich auf narrativen Ansätzen: auf der erzählenden Konstruktion der Erlebnisse am Tag nach dem »Wunder« oder in der erzählenden Rekonstruktion des bereits zurückgelegten Lebenswegs und der Planung der nächsten Schritte. Und auch der Berater selbst erzählt viel: in der Supervision von seinen Fällen, im Privatleben von seinen Erlebnissen und Erfahrungen, wie jeder andere Mensch auch. Narrativität ist also für jeden Coach, Berater, Organisationsentwickler und Therapeuten ein bekanntes, ganz selbstverständlich erscheinendes Werkzeug. Warum also ein ganzes Buch zur Einführung in die scheinbar ohnehin vertrauten narrativen Methoden?

Meine Antwort lautet: Weil in der Arbeit mit dem Erzählen noch sehr viel mehr Potenzial steckt, als meist in der Beratungspraxis angewendet wird. Beschäftigt man sich näher mit den Elementen und Bauplänen von Geschichten, wird man neue Möglichkeiten entdecken, wie man mit Geschichten in einem Beratungsgespräch arbeiten kann, die weit über die Rekapitulation von Lebens- und Problemgeschichten in der Anamnese oder der Auftragsklärung hinausgehen.

Auch Methoden der narrativen Therapie, wie sie etwa von Michael White und David Epston (vgl. 2009; White 2010) entwickelt wurden, nutzen diese Potenziale nur zum Teil – aber sie nutzen einen zentralen Aspekt narrativer Realitäts- und Sinnkonstruktion: den der Verbindung von Narration und Identität. Auf die Übertragbarkeit des Ansatzes von White und Epston auf Beratung im beruflichen und organisationalen Kontext werde ich daher ausführlich eingehen – aber auch auf andere narrative Ansätze in der Beratung, die andere sowie ich alleine oder gemeinsam mit anderen entwickelt haben.

Das Erzählen ist nicht nur eines der mächtigsten Instrumente zur Kommunikation und zur Informationsspeicherung, das die Menschheit jemals entwickelt hat, sondern Narrationen sind auch entscheidend an der Konstruktion der Identität von Individuen und sozialen Systemen beteiligt: Letztlich sind es die autobiografischen Erzählungen, die wir uns selbst und die andere über uns erzählen, die unsere Identität ausmachen. Und auch die Identität von Unternehmen und Organisationen wird durch die Geschichten, die Mitarbeiter und Führungskräfte, Kunden oder die Medien erzählen, konstruiert, am Leben gehalten und kommuniziert. Entwicklung und Veränderung sind immer (auch) Arbeit an der Identität: Halte ich es für möglich, dass ich etwas besser kann, als ich bisher dachte? Welche Handlungsoptionen gibt es, an die ich bisher noch überhaupt nicht gedacht habe? Welche neuen, hilfreicheren Handlungsmuster lassen sich in einem Unternehmen entwickeln? Alle Prozesse, die zu den damit angesprochenen Veränderungen führen, verändern natürlich auch das Selbstverständnis der Person bzw. der Organisation – und dann natürlich wiederum das Bild, das die Umwelt von ihr entwickelt. Diese Prozesse verändern also die Identität. Wenn aber Identität als Summe von Geschichten beschreibbar ist, dann liegt nahe, dass man Geschichten auch als Methoden nutzt, um mit und an dieser Identität zu arbeiten.

Die meisten Coaching- und Beratungsmethoden, die in dieser Einführung beschrieben werden, beschäftigen sich mit »Identitätsgeschichten«, mit authentischen Geschichten aus dem jeweiligen (Um-)Feld des Klienten bzw. Klientensystems. Keine Beachtung finden Beratungsmethoden, bei denen fiktive Geschichten – häufig etwa sogenannte Weisheitsgeschichten oder Beispielgeschichten aus einem mit dem jeweiligen Thema der Beratungssituationen vergleichbaren Kontext – gewissermaßen ins System »eingespeist« werden in der Hoffnung, Reaktionen auszulösen. Das liegt vor allem daran, dass der Autor mit solchen Methoden wenig Erfahrung hat und sie die wenigen Male, da er sie ausprobiert oder ihre Anwendung beobachtet oder von ihnen gelesen hat, wenig überzeugend fand. Selbstverständlich kann es in einigen Fällen sinnvoll sein, durch Erzählen neue Ideen zu streuen, durch Pointen Menschen auf neue Handlungsoptionen zu bringen. Doch das Potenzial solcher Interventionen ist nach meiner Erfahrung sehr beschränkt; allzu fremd und wenig praxisnah erscheinen diese Geschichten häufig dem System; wer sich dennoch für solche Methodiken interessiert, dem sei das Buch von Christina Budde (2015) empfohlen.