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Unterwegs

WerkstattBibel

Herausgegeben von

Bibelpastorale Arbeitsstelle SKB, Zürich

wtb. – Deutschschweizer Projekte Erwachsenenbildung, Zürich

Redaktionskreis

Detlef Hecking, Angela Wäffler-Boveland, Peter Zürn

Band 20

Detlef Hecking, Angela Wäffler-Boveland (Hrsg.)

Unterwegs

Biblische Weggeschichten heute

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© 2017 Verlag Katholisches Bibelwerk GmbH, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Olschewski Medien GmbH, Stuttgart

Satz: Rund ums Buch, Rudi Kern, Kirchheim/Teck

Druck und Bindung: SOWA Sp. zo.o., Warschau

www.bibelwerk.de

ISBN 978-3-460-08520-6

e-ISBN 978-3-460-51005-0

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

I.

Bibeltheologische Einführung

1

10.000 Schritte im Land der Ideen

2

Wege, Laufen, Gehen: Biblische Streifzüge

3

Flucht-Wege

4

Vergewisserungs-Wege

5

Pilger- und Wallfahrts-Wege

6

Verhaltens-Wege und Gottes-Wege

7

Abschieds-Wege

8

Volk Gottes unterwegs

II.

Methodische Einführung

1

Die Idee

Vorstellungen

2

Die Werkstatt

Themeneingrenzung

Suchbewegungen

3

Methoden

Methode und Text

Methode und Ziel

Weg als Methode

Die Kunst des Verstehens

4

Ausblick

Abkürzungsverzeichnis

III.

Bibelarbeiten

1

Der Weg aus dem Paradies (Gen 3)

Brigitte Becker, Erika Hostettler, Nicole Huijser

2

Der Weg des Wortes (Jes 55)

Chow-Ming Lutz-Ewan, Susanna Schedler-Weber, Margot Willemse

3

Listige Wege zum Leben (Jos 9)

Detlef Hecking, Ulrike Liesa Rudel-Weichert, Emilie Schuhmacher

4

Mit Elija und Elischa unterwegs zum Jordan (2 Kön 2)

Christine Albrecht, Katharina Funk, Hildegard Halter-Thaler, Ulrike Liesa Rudel-Weichert

5

Frauen unterwegs (Rut 1)

Esther Hartung, Mariagrazia Isler-Bresciani, Katja Wißmiller

6

Das breite und das enge Tor (Mt 7,13-14)

Yvonne Leu, Angela Wäffler-Boveland, Remo Wiegand

7

Gerade Straße: Die Berufung des Saulus (Apg 9)

Margrit Iseli, Sidonia Kasper, Adelheid Lipp, Angela Wäffler-Boveland

Weiterführende Literatur

Autorinnen und Autoren

Buchreihe WerkstattBibel

Vorwort

Gehen, Laufen, Wandern ist gesund – ob gemütlich oder rasant, zum Zeitvertreib oder mit sportlichem Ehrgeiz. Seit einigen Jahren ist es in Mode gekommen, dabei sogar die eigenen Schritte zu zählen. Der Markt mit elektronischen Schrittzählern und Smartphone-Apps boomt. Dazu beigetragen hat die Charité Hochschulambulanz für Naturheilkunde der Berliner Universitätskliniken: Dort wurde 2008 das Projekt „10.000 Schritte im Land der Ideen“ lanciert, um Menschen zu motivieren, täglich 10.000 Schritte zu gehen.1

Schritte im Land der Ideen: Diese anregende Wortverbindung ist auch ein passendes Stichwort für diesen 20. Band unserer Projekt- und Buchreihe WerkstattBibel zu biblischen Weg-Geschichten. Denn biblische Weg-Geschichten erzählen zwar von konkreten Wegen biblischer Figuren, die oftmals auf historischen Landkarten nachvollzogen werden können. Doch geht es dabei nur selten darum, wie jemand von A nach B kommt. Im Blick sind innere und äußere Prozesse, die, durch das Unterwegssein angeregt, in Be-Weg-ung geraten.

Das haben wir in der Projektgruppe erlebt, in der wir die hier vorgestellten Bibelarbeiten entworfen, ausprobiert und reflektiert haben. Die Bibelarbeiten haben uns neue Texte kennenlernen und alte Lebenserfahrungen in neuem Licht sehen lassen. Dabei hat sich, anders als in den meisten anderen Bänden der WerkstattBibel, keine konsequent einheitliche Methodik eingestellt. Die Bibelarbeiten setzen das jeweilige Thema vielmehr auf eigenständige, dem Text angepasste Weise um.

Bei der Auswahl biblischer Weg-Geschichten standen wir angesichts Hunderter spannender Texte vor der sprichwörtlichen Qual der Wahl. So sind manche bekannten Texte in diesem Band nicht enthalten. Zugleich haben Texte Aufnahme gefunden, an die man bei biblischen Weg-Geschichten wohl nicht zuerst denkt wie z.B. der Text vom Weg und Wirken des göttlichen Wortes in Jes 55.

Für die Entwicklung der Bibelarbeiten traf sich zwischen September 2014 und Mai 2015 eine Gruppe engagierter WerkstattBibel-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter in Zürich. Die einzelnen Bibelarbeiten wurden jeweils in Kleingruppen vorbereitet, in der Gesamtgruppe durchgeführt, ausführlich biblisch-theologisch und methodisch diskutiert und schließlich verschriftlicht. Für die vielfältigen Bibelarbeiten und den großen ehrenamtlichen Einsatz sei allen Mitwirkenden von Herzen gedankt:

Christine Albrecht

Yvonne Leu

Brigitte Becker

Adelheid Lipp

Katharina Funk

Chow-Ming Lutz-Ewan

Hildegard Halter-Thaler

Ulrike Liesa Rudel-Weichert

Esther Hartung

Susanna Schedler-Weber

Erika Hostettler

Emilie Schuhmacher

Nicole Huijser

Remo Wiegand

Margrit Iseli

Margot Willemse

Mariagrazia Isler-Bresciani

Katja Wißmiller

Sidonia Kasper

 

Ebenso danken wir allen Mitwirkenden der letzten 15 Jahre – den Dutzenden ehrenamtlichen Mitwirkenden wie auch unseren Vorgängerinnen und Kollegen Dieter Bauer, Regula Grünenfelder, Daniel Kosch, Brigitte Schäfer und Peter Zürn, die frühere WerkstattBibel-Gruppen und –Bände betreut haben – für ihre inspirierende Arbeit an neuen Formen der biblischen Erwachsenenbildung!2

Mit diesem 20. Band schließen wir die Reihe WerkstattBibel ab. Das Konzept, eine inhaltlich zusammengehörige Gruppe biblischer Texte und eine dazu passende, oft neu entwickelte bibelpastorale bzw. erwachsenenbildnerische Methode miteinander zu verbinden, hat über 15 Jahre lang kreative Bibelarbeiten inspiriert.

Zürich, Dezember 2016

Detlef Hecking

Angela Wäffler-Boveland

Bibelpastorale Arbeitsstelle des

wtb – Deutschschweizer Projekte

Schweizerischen Kath. Bibelwerks

Erwachsenenbildung

1Vgl. www.zehntausendschritte.de

2Die ersten Bände der ökumenischen Buchreihe erschienen im Jahr 2001. Einige der ersten Bände gingen auf das frühere Projekt „Gemeinsam die Bibel lesen und erleben“ des Schweizerischen Katholischen Bibelwerks zurück.

I. Teil

Bibeltheologische Einführung

1 10.000 Schritte im Land der Ideen

JHWH führte Abram hinaus und sprach: „Sieh doch zum Himmel hinauf und zähl die Sterne, wenn du sie zählen kannst!“

Gen 15,5

Wer an „biblische Personen unterwegs“ denkt, begegnet eher früher als später Abram und Sarai. Ihre Geschichte ist legendär: Zusammen mit Abrams Vater Terach und ihrem Neffen Lot sind sie schon von Ur in Chaldäa nach Haran ausgewandert (Gen 11,31). Später lassen sie Terach dort zurück und ziehen in hohem Alter weiter bis nach Kanaan. Im Gepäck haben Abram und Sarai die Verheißung, dass Gott sie dort zu einem großen Volk machen werde (Gen 12,1ff). Doch auch in Kanaan finden sie keine Ruhe: Hungersnöte lassen sie in Ägpyten Zuflucht suchen (Gen 12,10), und das verheißene Kind bleibt so lange aus, dass es darüber zu bedrohlichen Verwicklungen kommt (Gen 16). Gott bekräftigt zwar seinen Bund und gibt den beiden ihre neuen Namen Abraham und Sara (Gen 17). Doch auch dann dauert es noch, bis sich die Erfüllung der Verheißungen ankündigt.

Die wirklich wichtigen, lebensprägenden Wege gehen Abraham und Sara deshalb nicht auf den Straßen zwischen Haran, Ägypten und Kanaan, sondern in ihrem Innern. In ihrem Leben geht es um Aufbruch und Hoffnung, Verzweiflung und Vertrauen, Verunsicherung und Bestärkung. Orientierung brauchen und erfahren Abraham und Sara deshalb weniger an Straßenkreuzungen und Wegweisern, sondern im Land der Verheißungen und Perspektiven, dem „Land der Ideen“ in dem sie ihr Leben lang unterwegs sind. Nicht zufällig werden gerade ihre Lebenswege deshalb über viele Jahrhunderte hinweg zur Inspiration: ProphetInnen und Geschicht(en)schreiber zur Zeit des Ersten Testaments berufen sich genauso auf sie wie noch später der Apostel Paulus, der in ihrem Weg ein Vorbild für die frühchristlichen Gemeinden seiner Zeit sieht.

Das passt dazu, dass wir bei vielen der biblischen Weg-Geschichten – vor allem, aber nicht nur bei jenen im Ersten Testament – kaum sagen können, ob die Wege, von denen dort erzählt wird, jemals konkret gegangen worden sind. Abraham und Rut, David und Mirjam und die vielen anderen biblischen Frauen und Männer, die in den Texten bedeutungsvolle Wege unter ihre Füße nehmen, sind zunächst biblische Erzählfiguren. Die Theologie beschreibt sie mehrheitlich als Kollektivpersönlichkeiten: In ihren Lebens(weg)geschichten entdeckt und erkennt Israel seine Identität als Volk Gottes unterwegs und erfährt sich dabei von Gott begleitet und manchmal auch verlassen, liebevoll geführt oder auch ausgeliefert. In manchen dieser Erzählfiguren, z.B. in den Familiengeschichten des Buches Genesis, verdichten sich die Erfahrungen historischer Gruppen wie z.B. der halbnomadischen Bevölkerung Israels und seiner Umwelt. In anderen wie z.B. Jaël oder Ester personalisiert sich die Hoffnung auf Rettung vor lebensgefährlicher Bedrohung des ganzen Volkes, z.B. durch feindliche Feldherren und Armeen oder im Exil.

Biblische Weg-Geschichten brauchen deshalb keine Historizität, um wahr zu sein. Aber sie brauchen Konkretion und Nachahmung: Sie laden dazu ein, mit den Texten als „innerer Landkarte“ und den biblischen Erzählfiguren als BegleiterInnen eigene Weg-Erfahrungen zu machen. Sie regen dazu an, über eigene Lebenswege nachzudenken, neue Wege auszuprobieren und Schritt für Schritt das Gehen zu lernen: Gehen im Land der Ideen, des Suchens, Fragens und Zweifelns, des Loslassens, Aufbrechens und Ankommens, und in all dem: Schritte im Land des Glaubens. Nur eines wollen sie nicht: dass sich jemand vorschnell an und mit dem Ort zufrieden gibt, an dem er bzw. sie gerade zufällig ist.

2Wege, Laufen, Gehen: Biblische Streifzüge

Der Bote JHWHs fand Hagar an einer Wasserquelle in der Wüste, an der Quelle am Weg nach Schur.

Gen 16,7

Biblische Theologie beschäftigt sich zwar nicht mit dem Schrittzählen. Das Wörterzählen ist aber seit jeher ein wichtiges Mittel jüdisch-christlicher Textanalyse und Bibelinterpretation und steht oft am Anfang der Beschäftigung mit einem Thema: Wo, wie oft, mit welchen Bedeutungen und in welchen Textzusammenhängen kommen bestimmte Worte und Wendungen in der Bibel vor?

Das hebräische Wort für „Weg“ (dérech) wird im Ersten Testament gut 700 Mal verwendet (von Gen 3,24 bis Mal 3,1) und ist damit eines der wichtigsten Substantive und zugleich ein theologischer Kernbegriff des Alten Testaments. Hinzu kommen acht weitere Worte ähnlicher Bedeutung mit insgesamt 130 weiteren Vorkommen.3

Die Bedeutungsnuancen des Wortfeldes sind äußerst zahlreich und vielschichtig. Sie reichen vom „normalen“ Weg über Konkretisierungen wie Reise, Richtung, Feldzug u.ä. bis hin zu metaphorischen Bedeutungen wie Lebenswandel (ca. 1/3 aller Belege überhaupt!), Lebensweg/Ergehen, Ethik (= der zu gehende Weg), Geschichte (= Weg einer Person/ eines Volkes) und schließlich den Wegen/Plänen Gottes.

In der griechischen Übersetzung des Alten Testamentes, der Septuaginta, sowie im Neuen Testament deckt das äquivalente griechische Wort (hódos) ein ähnlich breites Bedeutungsspektrum ab. Erweitert man die Analyse auf Wortfelder wie Laufen, Gehen usw. (z.B. das hebräische Verb halách und das griechische poreúomai), kommen mehrere Tausend ebenfalls sehr vielschichtige Stellen hinzu. Und schließlich gibt es zahlreiche Texte, die inhaltliche Weg-Motive aufweisen, ohne überhaupt eines dieser Worte zu verwenden.

Diese Fülle und inhaltliche Vielfalt macht biblische Weg-Geschichten so attraktiv für Bibelarbeiten – und erschwert zugleich eine systematisierende Perspektive. Die hier gesetzten Akzente sind deshalb eine persönlich geprägte Auswahl, eine Handvoll frischen Wassers aus einer überreichlich sprudelnden Quelle. Zahlreiche wichtige Texte wurden allein deshalb nicht gewählt, weil sie bereits in früheren Bänden der WerkstattBibel unter anderen Aspekten behandelt wurden.4 Die folgende Zusammenstellung gibt deshalb die schon sehr beschränkte Textauswahl wieder, aus der die Projektgruppe der WerkstattBibel die fett gedruckten, in Teil III ausführlich bearbeiteten Texte ausgewählt hat, und soll einen kleinen Eindruck von der inhaltlichen Vielfalt biblischer Weg-Geschichten und möglicher Texte vermitteln:

Gen 3

Wege aus dem Paradies

Ex 13f

Flucht aus Ägypten und Rettung am Schilfmeer

Ex 15,22-27

Durch die Wüste zur Oase Elim

Jos 9

Rettende Lügen-Wege der Einwohner Gibea-Sauls

Rut 1

Auswanderung, Rückkehr und Neubeginn

1 Kön 19

Elija unterwegs zum Horeb

2 Kön 2,1-18

Abschiedswege Elijas und Elischas

2 Kön 5

Der aussätzige Syrer Naaman unterwegs in Israel

Ps 31

Du schaffst meinen Füßen freien Raum

Ps 122

Pilgerwege nach Jerusalem

Jdt 10

Judit unterwegs zum assyrischen Feldherrn Holofernes

Jes 35

Blühende Lebenswege in der Wüste

Jes 40

Heimkehr-Wege

Jes 43

Rettungs-Wege

Jes 55

Gotteswege und Menschenwege

Mt 7,13f

Breite und schmale Wege

Mt 21,1-11

Vom Ölberg nach Jerusalem

Lk 2,42-52

Pessach-Pilgern von Nazareth nach Jerusalem

Lk 24,13-35

Von Jerusalem nach Emmaus und zurück

Joh 14,1-21

Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben

Apg 8,26-40

Eine Taufe auf dem Weg nach Gaza

Apg 9

Paulus auf dem Weg nach Damaskus

Röm 11,33-36

Unergründliche Gotteswege

1 Kor 12,31-13,13

Der Weg der Liebe

Phil 2,5-11

Der Weg des Messias

2 Tim 4,6-8

Der gute Lauf des Paulus

3Flucht-Wege

Fürchte dich nicht, denn ich habe dich ausgelöst, ich habe dich beim Namen gerufen, du gehörst mir. Wenn du durchs Wasser schreitest, bin ich bei dir, wenn durch Ströme, dann reißen sie dich nicht fort. Wenn du durchs Feuer gehst, wirst du nicht versengt, keine Flamme wird dich verbrennen.

Jes 43,1f

Der erste Weg des Menschen ist, nach biblischer Erzählung, ein Flucht-Weg. Gott selbst vertreibt, verstellt den Rückweg, zwingt zum Blick nach vorne (vgl. die erste Bibelarbeit in diesem Band: Der Weg aus dem Paradies: Gen 3). Das bedeutet auch: Perspektive und Zukunft, Verheißung und neues Leben liegen nicht in der Rückkehr an einen Ort oder in eine Zeit, an dem bzw. zu der – angeblich – alles anders und besser gewesen sei. Zukunft eröffnet sich nur im Vorwärtsgehen. Die christliche Bibel drückt das auf besondere Weise aus: Das letzte Hoffnungsbild in der Offenbarung des Johannes verheißt keine Rückkehr ins verlorene Paradies, sondern die Ankunft einer neuen Stadt, des neuen Jerusalem (Offb 21). Dieses Bild greift zahlreiche Motive aus der Paradieserzählung wie z.B. den Lebensbaum und die Flüsse auf und macht damit klar: Gott nimmt die Wege, Erfahrungen und Lebensentscheidungen, die Menschen seit den Anfängen gegangen sind, ernst. Dabei müssen nicht alle Schritte von den Menschen selber geleistet werden. Gott kommt seiner Schöpfung am Ende nicht mit einer Wiederherstellung des Paradieses entgegen, sondern eben mit der Ankunft einer neuen Stadt, dem – ambivalenten! – Inbegriff kulturell-zivilisatorischer Kreativität.

So verliert der Flucht-Weg des Anfangs auch seine ausschließlich negative Bedeutung: Er wird zur Aufforderung und Ermutigung, das Leben selber in die Hand zu nehmen. Dabei liegt es in der Natur von Flucht-Wegen, dass das Ziel oft unbekannt ist oder, der Not und den sich verändernden Umständen gehorchend, geändert werden muss. Auch viele andere Aufbrechende und Flüchtlinge aus späteren biblischen Geschichten sind ohne klares Ziel unterwegs. Abram und Sarai brechen nur auf Vertrauen hin auf „in das Land, das ich (JHWH) dir zeigen werde“ (Gen 12,1). Noach und seine Familie werden zwar gerettet, müssen sich aber in der weg-losen Wasserwüste behaupten und an einem aus den Fluten neu entstandenen Ort weiter leben. Hagar flieht vor der harten Behandlung Sara(i)s in die Wüste und kann auf die Frage nach ihrem Ziel keine Antwort geben – doch sie wird in der Begegnung mit dem Engel zum ersten Menschen in der ganzen Bibel, der JHWH einen höchst persönlichen Namen gibt. Damit verleiht sie ihrer Flucht (und ihrer Rückkehr) eine neue Perspektive (Gen 16).

Einer dieser gelungenen, schlussendlich glücklichen Flucht-Wege wird im Buch Rut erzählt (vgl. die fünfte Bibelarbeit in diesem Band: Frauen unterwegs: Rut 1). Noomis Familie flieht während einer Hungersnot ausgerechnet aus Bethlehem, das übersetzt „Brothausen“ heißt, ins Ausland. Dort geht es ihnen noch schlechter als vorher. Doch am Ende der Geschichte findet nicht nur die einzige überlebende Mutter Noomi, sondern auch ihre treue Schwiegertochter Rut („Freundin“) neues Leben und dauerhaftes Glück in Bethlehem. Zwischen dem lebensgefährlichen Anfang und dem glücklichen Ende der Erzählung liegen jedoch innere und äußere Wege voller Entscheidungen über Gehen und Bleiben, Solidarität und Verlassen, Wagnis und Vertrauen.

Beim Schreiben dieser Sätze im Frühjahr 2016 sind Dutzende von Millionen Menschen weltweit auf der Flucht, und die europäische Politik ringt um die Schließung oder Öffnung von Grenzen, Flüchtlingsquoten und die Gewährleistung (bzw. Verweigerung) elementarster Menschenrechte. Angesichts solcher Realitäten und der vielen Tausenden von Toten, die Flucht, Vertreibung und Migration fordern, mag es zynisch klingen, biblische Flucht-Wege (auch) positiv zu deuten. Entscheidend ist es deshalb, der Perspektive der Flüchtenden selbst Vorrang vor fremden, von außen aufgedrängten Interpretationen oder Verharmlosungen zu geben. Doch nicht nur Flüchtlinge sind unterwegs. Täglich legen Millionen von Menschen weite Wege zurück, um von ihrem Wohn- zum Arbeitsort und zurück zu gelangen. Bis zu einer Stunde pro Fahrtrichtung gilt als zumutbar. Wie diese Wege gestaltet und mit Sinn gefüllt werden, ist eine moderne Herausforderung an die Kreativität einzelner Menschen wie der ganzen Gesellschaft.

4Vergewisserungs-Wege

Jesus kehrte nun, erfüllt von heiligem Geist, vom Jordan zurück und wurde vom Geist in der Wüste umhergeführt…

Lk 4,1