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ULRIKE VOIGT (HG.)

Das Fenster
der Seele öffnen

Einfach beten

Mit einer Einführung von Anselm Grün

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Ein CAMINO-Buch aus der

Umschlaggestaltung: wunderlichundweigand, Schwäbisch Hall

www.caminobuch.de

ISBN 978-3-96157-002-7

Einführung von Anselm Grün

Biographien und Gebete

Franz von Assisi

Die Mystikerinnen von Helfta: Mechthild von Magdeburg, Gertrud die Große, Mechthild von Hackeborn

Martin Luther

Jeanne-Marie Guyon du Chesnoy

Matthias Claudius

Søren Kierkegaard

Charles de Foucauld

Dietrich Bonhoeffer

Dag Hammarskjoeld

Dom Hélder Câmara

Mutter Teresa

Martin Gutl

Dorothee Sölle

Berühmte Gebete

Textnachweise

Das Vater Unser

Das Vater Unser ist das »Grundgebet der gesamten Christenheit«. Es fand schon in der urchristlichen Gottesdienstliturgie einen festen Platz und wird bis heute von Christen aller Kirchen und Konfessionen gebetet, meistens gemeinsam und in jedem Gottesdienst. Dieses Gebet hat Jesus nach der biblischen Überlieferung seine Jünger selbst gelehrt. Der bekannteste Text verwendet die längere Version mit insgesamt sieben Bitten, die im Matthäusevangelium (innerhalb der Bergpredigt, Matthäus 6,9–13) enthalten ist. Im Lukasevangelium gibt es eine kürzere Version mit fünf Bitten. Das Vaterunser ist auch einer der bekanntesten Texte der Bibel.

Vater unser im Himmel

Geheiligt werde dein Name.

Dein Reich komme.

Dein Wille geschehe,

wie im Himmel, so auf Erden.

Unser tägliches Brot gib uns heute.

Und vergib uns unsere Schuld,

wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.

Und führe uns nicht in Versuchung,

sondern erlöse uns von dem Bösen.

Denn dein ist das Reich

und die Kraft und die Herrlichkeit

in Ewigkeit. Amen.

Einführung
von
Anselm Grün

Beten ist eine persönliche Angelegenheit. Jeder betet für sich selbst mit den Worten, die seine je eigene Situation vor Gott ausdrücken. Wir beten auch gemeinsam in unseren Gottesdiensten. Das Gebet, das wir am häufigsten beten, ist das Vaterunser. Es sind die Worte, die Jesus selbst uns zu beten gelehrt hat. Er hat uns diese Worte geschenkt, damit wir beim Beten immer tiefer in seine Haltung Gott gegenüber hineinwachsen. Die Worte des Vaterunsers sind für das Matthäusevangelium der Schlüssel zum wahren christlichen Leben. Denn die Worte des Gebetes werden dann durch die Bergpredigt ausgelegt. Die Worte wollen uns in ein neues Tun hineinführen.

Obwohl jeder für sich selbst betet und seine eigenen Worte finden muss, greifen wir gerne nach Gebeten, die andere verfasst haben. In diesen Gebeten kommen wir dem Geist des jeweiligen Beters nahe. So, wie wir im Vaterunser dem Geist Jesu begegnen, so sehnen wir uns danach, in den Gebeten anderer ihren Geist zu erspüren und uns von diesem Geist inspirieren zu lassen. Wir können die Gebete der Heiligen oder der spirituellen Schriftsteller nicht so nachbeten wie das Vaterunser. Aber von Zeit zu Zeit hilft uns ein Gebet, das ein anderer Mensch in seiner persönlichen Suche nach Gott verfasst hat, unsere eigenen Gefühle Gott gegenüber zum Ausdruck zu bringen. Und manchmal bringt uns das Gebet eines anderen erst in Berührung mit den eigenen Gefühlen, die unter der Oberfläche alltäglicher Sorgen verborgen liegen und manchmal zu ersticken drohen. So wollen uns die Gebete anderer helfen, das eigene Beten zu befruchten. Sie machen uns Mut, unsere eigenen Worte beim Beten zu finden und unsere verborgenen Gefühle Gott gegenüber auszudrücken.

In diesem Buch können Sie die Gebete großer Beter lesen und meditieren. Beten heißt aber nicht nur, mit Worten zu beten. Das lateinische Wort für beten – orare – meint zwar, dass wir mit dem Mund beten, dass aus unserem Mund Worte kommen, mit denen wir beten. Doch Beten ist mehr als Worte zu machen. Jesus verbringt oft die ganze Nacht schweigend vor Gott. Da hat er nicht viele Worte gemacht, sondern war einfach in Gottes Gegenwart. Er hat die Stille vor Gott gesucht. Die war für ihn eine Quelle der Inspiration und offensichtlich eine Hilfe, sein Leben nach Gottes Willen auszurichten und Entscheidungen zu treffen. So hat er zum Beispiel nach einer Nacht des Gebetes seine Jünger berufen. Im Gebet wurde ihm klar, wen er in den Kreis der Apostel aufnehmen konnte (vgl. Lk 6,12ff).

Was geschah, wenn Jesus die ganze Nacht vor Gott im Gebet verbrachte? Ich stelle mir vor, dass Jesus in der Stille der Nacht seinem Vater begegnet ist. Er hat sein Herz für ihn geöffnet, es in der Stille gereinigt vom Lärm der Menschen, dem er tagsüber oft ausgesetzt war. Und so konnte er vom Geist seines Vaters erfüllt werden. Er war seinem Vater nahe, ist ihm im Gebet begegnet. Das ist für mich das Wesen des Gebetes: Gebet ist Begegnung mit Gott. Die Begegnung verwandelt. Ich gehe anders aus der Begegnung heraus als ich hinein gegangen bin. In der Begegnung mit Gott begegne ich immer auch mir selbst, aber auf neue Weise. Ich sehe mich im Lichte Gottes. Ich erkenne in der Begegnung mit Gott, wer ich eigentlich bin. Die Begegnung mit Gott zeigt mir nicht nur meine Fehler und Schwächen auf, nicht nur meine Schattenseiten, sondern auch meine wahre Berufung und meine göttliche Würde. Evagrius Ponticus, ein »Wüstenvater« aus dem 4. Jahrhundert, sieht daher im Gebet den Ort, an dem der Mensch seine höchste Würde erkennt, die Würde, von Gottes Geist erfüllt zu werden. Im Gebet erfahre ich, dass ich Sohn und Tochter Gottes bin, dass die Welt keine Macht über mich hat. Die Begegnung ist nicht nur etwas Äußeres, so wie es das deutsche Wort vermuten lässt. Vielmehr geschieht in der Begegnung etwas in meinem Inneren. Da werde ich in meinem Herzen berührt. Da komme ich in Berührung mit meinem wahren Wesen. Es geschieht tief in meinem Herzen eine innere Verwandlung. Ich werde vom Geist Gottes durchdrungen und so werde ich nach der Begegnung anders denken und fühlen, anders sprechen und handeln.

Lukas hat uns wie kein anderer Evangelist immer wieder vom Gebet Jesu erzählt. Dabei ist das Gebet oft ein stilles Sein vor Gott – manchmal die ganze Nacht. Aber Lukas erzählt uns auch die Worte, mit denen Jesus gebetet hat. Das gilt nicht nur für das Vaterunser, das Jesus die Jünger lehrt, als sie ihn fragten, wie sie beten sollen. Im Lukasevangelium ist ausdrücklich davon die Rede, dass die Jünger Jesus darum bitten, sie zu lehren, was und wie sie beten sollen. Daher zeigt ihnen Jesus, mit welchen Worten sie beten sollen und in welcher Haltung. Jesus erzählt ihnen zwei Beispiele, um ihnen zu zeigen, sie sollten mit Gott sprechen wie mit einem Freund und wie mit einem guten Vater (Lk 11,5–13). Lukas erzählt aber auch, dass Jesus konkrete Worte im Gebet gesprochen hat. So leitet Lukas das Sterben Jesu am Kreuz mit einem Gebetswort ein: »Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun« (Lk 23,34). Und Jesus stirbt betend: »Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist« (Lk 23,46). Beide Gebetsworte am Kreuz zeigen, dass Jesus im Gebet die Situation verwandelt. Er verwandelt die Situation des Hasses und der aggressiven Unruhe in eine Stimmung von Frieden und Versöhnung. Er beruhigt die Turbulenzen in den Herzen der Mörder durch sein Wort der Vergebung. Und sein letztes Wort am Kreuz verwandelt sein Sterben. Es ist kein grausames Sterben mehr, so wie es die Römer durch die härteste Strafe, die sie kennen, bezweckt hatten. Vielmehr ist es ein sanftes Sterben, ein Sich-Hineinfallenlassen in die liebenden und bergenden Arme Gottes.

Das ist auch für uns die Verheißung, die in den Gebeten steckt, die wir in diesem Buch lesen können. Die Worte, mit denen betende Menschen ihre Situation verwandelt haben, mögen auch uns helfen, unsere Angst in Vertrauen zu verwandeln, unsere Einsamkeit in Gemeinschaft, unser Verlassensein in Geborgenheit, unsere Dunkelheit in Licht, unsere Traurigkeit in Freude und unsere Verzweiflung in Hoffnung. Indem Sie, liebe Leserin, lieber Leser, die Gebete in diesem Buch lesen und meditierend in das eigene Herz fallen lassen, kommen Sie in Berührung mit den Erfahrungen, die die Beter mit ihren Gebeten gemacht haben. Und Sie dürfen durch die Gebetsworte anderer die Verwandlung des eigenen Lebens erfahren. Indem Sie diese Worte nachsprechen oder ihnen nachspüren, werden Sie vom Geist erfüllt, der die Beter zu diesen Worten inspiriert hat. Und Sie werden die Bestärkung, Tröstung und Hilfe erfahren, die den Betern bei ihrem Beten zuteil geworden ist.

Es geht in diesem Buch aber nicht nur um Gebete, die andere Personen verfasst haben, sondern auch um die Gebetserfahrungen, die diese Menschen gemacht haben. Sie schreiben auch über das Gebet und über das, was im Gebet geschieht. Nicht immer werden Sie die gleichen Erfahrungen im Gebet machen wie die Autoren dieser Texte. Aber vielleicht bringen die Erfahrungen anderer Sie mit Ihren eigenen Erfahrungen in Berührung, die Ihnen noch unbewusst sind. Indem Sie von der Erfahrung anderer lesen, entdecken Sie, was Sie auch schon einmal gespürt haben, wofür Sie aber bisher noch keine Worte gefunden haben. So leihen Ihnen die Autoren Worte, um Ihre eigenen Erfahrungen angemessen zum Ausdruck zu bringen.

Ich möchte in dieser Einführung nur kurz auf die Autoren, ihre Gebete und ihre Gebetserfahrungen eingehen, damit die vor langer Zeit geschriebenen Texte in Ihre eigene Situation hinein wirken können.

Franz von Assisi

Franziskus war wohl der Heilige, der in seiner Gesinnung Jesus am nächsten kam. Er strahlte die Liebe Jesu aus. Und diese Liebe war einerseits von Fröhlichkeit geprägt, andererseits aber durchaus von Verzicht und harter Askese. Doch von dieser Härte spüren wir nichts in seinen Gebeten. Seine Gebete sind voller Demut und zugleich voller Heiterkeit und Freude. Das Gebet in der Stunde der Bekehrung ist einfach und schlicht. Franziskus spricht Gott als den Höchsten und Glorreichen an. Das ist ein anderes Gottesbild als das unsere. Und doch kommt in dieser Anrede etwas Wesentliches zum Ausdruck. Franziskus war zutiefst betroffen und berührt von der Schönheit und Größe Gottes. Und zu diesem unendlich hohen und großen Gott wagt er nun, in einfachen Worten zu sprechen. Gott möge die Finsternis seines Herzens erleuchten und ihm ein rechtes Empfinden für seinen Willen schenken. Und er möge ihm das geben, was für einen Christen die wesentlichen Gaben sind, die er für seinen Weg braucht: Glaube, Hoffnung und Liebe.

Wohl das bekannteste Gebet, das uns Franziskus geschenkt hat, ist der Sonnengesang. Zahlreich sind die Übersetzungen und Vertonungen. Auch hier spricht Franziskus Gott als den höchsten, allmächtigen, aber zugleich auch guten Gott an. Die Faszination von der Größe Gottes ist verbunden mit dem Gespür für die unendliche Güte und Milde Gottes. Diese Güte Gottes erfährt Franz in seiner Schöpfung. Und so lädt er in diesem Gebet die ganze Schöpfung ein, Gott zu preisen. Die Anrede der Geschöpfe ist voller Vertrauen und Zärtlichkeit. Da nennt Franziskus die Sonne seinen Bruder. Im Italienischen ist die Sonne männlich und der Mond weiblich. Die Sonne schenkt uns das Licht und sie ist schön. In ihrer Schönheit spiegelt sie die Schönheit Gottes. Das ist ein wichtiger Zug der Gebetserfahrung des hl. Franziskus. Sein Gebet ist weniger Bitte als Lobpreis. Und sein Gebet ist Staunen über die Schönheit Gottes. Die Schönheit Gottes spiegelt sich in der Schöpfung wider. Das Gebet ist Antwort auf die wunderbare Erfahrung der Schönheit. Die Schönheit tut dem Menschen gut, sie macht ihn schön. Sie ist ein Geschenk. Loben zielt auf all die Geschenke, die Gott uns gewährt. Franziskus war schon todkrank, als er dieses wunderbare Lied gedichtet hat. Er schaut nicht auf seine Schmerzen, sondern auf die Schönheit, die ihn umgibt. Er schaut auf die Schönheit der Sonne, aber auch den Mond und die Sterne nennt er »kostbar und schön«. So verwandelt das Gebet seine Erfahrung des Leids. Das Gebet wird zu einem Staunen über die Schönheit der Schöpfung und zu einem vertrauten Gespräch mit Gott, einem Gespräch voller Zärtlichkeit und Liebe.

Gott sorgt für die Menschen durch seine Schöpfung. So schaut Franziskus auf den Bruder Wind, auf die Wolken und den heiteren Himmel, auf das Wetter, durch das Gott für den Unterhalt der Menschen sorgt. Und er ist fasziniert vom Wasser, das er seine Schwester nennt. Er nennt das Wasser »gar nützlich, demutsvoll und köstlich und keusch«. Da spürt man, wie empfindsam Franz auf alles geschaut hat, was er wahrnimmt. Und alles wird für ihn zum Bild für Gottes Güte und Schönheit, für Gottes liebevolle Sorge für uns. Und Franz fühlt sich mit allem verbunden. Daher nennt er alle Geschöpfe Bruder und Schwester. Dann nennt er das Feuer den Bruder, der die Nacht erleuchtet. Auch dieser Bruder ist schön und fröhlich, kraftvoll und stark. Und er dankt für die Mutter Erde, die dem Menschen Früchte schenkt, schöne Blumen und heilsame Kräuter und nährende Pflanzen.

Dann sieht Franziskus auf die Menschen. Er verbindet sich vor allem mit denen, die verzeihen und durch Gottes Liebe fähig sind, Schwachheit und Drangsal zu ertragen. Und dann nennt er den Tod seinen Bruder. Auch der Tod soll Gott preisen. Auch er ist eine Wohltat Gottes für den Menschen. Und der, der den Tod im Einklang mit Gott erfährt, wird glücklich gepriesen. In den beiden letzten Strophen wird das Schwere des Lebens genannt, aber in einer Sprache, die das Bittere in Süßigkeit verwandelt, das Schwere in heitere Leichtigkeit. Das ist wohl die tiefste Erfahrung, die Franziskus mit dem Beten gemacht hat: Unser Leben wandelt sich. Das Schwere wird leicht, das Bittere süß, die Schmerzen werden in Liebe und der Tod ins Leben verwandelt.

Im Lobpreis Gottes, den Franziskus für seinen Mitbruder Br. Leo geschrieben hat, wird Gott mit wunderbaren Attributen angesprochen. Der große und unendliche Gott wird vertraut, indem Franz ihn immer mit Du anspricht. Du bist der Starke, der Große, der Höchste. Und dann findet Franz alle Eigenschaften, die Gott für uns faszinierend machen: Du bist die Liebe, die Minne, die Weisheit, die Demut, die Geduld, die Ruhe, die Freude, die Schönheit. Die Erquickung. In diesen Eigenschaften wird sichtbar, wie Franziskus Gott erfahren hat. Gott ist für ihn der, der ihm Ruhe schenkt. Gott ist die Schönheit, die wir bewundern und die uns schön macht, indem wir sie anschauen. Und Gott ist die Quelle aller Freude. Auch in diesem Gebet spüren wir wieder die Spannung zwischen dem großen und heiligen Gott und dem vertrauten Gott, der die Menschen mit allen guten Gaben beschenkt. In Gott finden wir all das, was wir ersehnen: Ruhe, Weisheit, Freude, Schönheit, Stärke.

Mechthild von Magdeburg

Mechthild von Magdeburg hatte ein bewegtes Leben hinter sich, als sie ins Kloster Helfta kam, um dort ihre letzten Lebensjahre zu verbringen. Die Sehnsucht nach Gott, nach dem »fließenden Licht seiner Gottheit« (so der Titel ihres Buches) hat sie ihr Leben lang getrieben, sich ganz und gar nach Gott auszustrecken und mit Gott als ihrem Bräutigam eins zu werden. Diese Sehnsucht nach Gott kommt auch in ihrem Gebet zum Ausdruck, das im wahrsten Sinn des Wortes Dialog ist. Zuerst spricht Mechthild zu Gott. Ihre größte Freude ist es, dass sie mit Gott aufrichtig sprechen kann. Das Gebet ist für sie Zuflucht, wenn sie sich von Feinden bedrängt fühlt. Dann flüchtet sie zu Gott. Dann kann sie mit Gott all das besprechen, was sie bedrückt. Gott neigt sich zu ihr herab und er rührt die Saiten ihrer Seele an, um ihre Liebe zu wecken. In dieser Liebe sehnt sich Mechthild danach, dass Gott sie zu sich hinauf zieht. Dann wird sie rein und klar. In sich selber würde sie nur in Finsternis und Schmerz bleiben. Gebet ist für Mechthild Ausdruck ihrer Sehnsucht, mit Gott eins zu sein und in Gott mit ihrem ursprünglichen, klaren und reinen Bild in Berührung zu kommen, das sich Gott von ihr gemacht hat.

Aber Gebet ist auch Antwort Gottes an den Menschen. Mechthild lässt Gott antworten. Gott muss sich zurückhalten. Er kann sich gar nicht in seinem klaren Licht zeigen, sonst müsste Mechthild sterben. Gott hält sie bewusst in ihrem irdischen Leben mit seiner Betrübnis, damit ihre Liebe zu Gott immer tiefer wird und sie sich noch mehr nach Gott sehnt. So wird sie offen für die wahre Schönheit, die Gott ihr zeigen wird, wenn er sie zu sich nimmt. Aber Gott lässt Mechthild nicht nur warten. Er bewegt sie jetzt schon mit seiner himmlischen Musik, damit sie fähig wird, sich nach Gott auszustrecken und auf ihn zu warten. Braut und Bräutigam müssen auch aufeinander warten, damit ihre Liebe sich vertieft.

Beten ist für Mechthild ein Zwiegespräch mit Gott, in dem sie ihre Sehnsucht zum Ausdruck bringt und zugleich auch Trost und Zuspruch erfährt. Indem Gott ihr im Gebet antwortet, stärkt er sie auf ihrem Weg und macht sie fähig, ihren Weg zu Gott auch zu gehen, wenn sie bedrängt wird. Mit dieser Erfahrung will Mechthild auch uns heute Mut machen, dass wir uns immer wieder auf den Weg zu Gott machen, auch wenn wir unter seiner Ferne leiden, auch wenn wir hier von Menschen angefochten werden. Das Gebet ist für uns ein Ort der Zuflucht, an dem wir uns vor den Bedrängnissen der Welt bergen können. Und das Gebet stärkt uns, unsern Weg weiter zu gehen, bis wir einst von Gott emporgehoben werden, um eins mit ihm zu sein für immer.

Mechthild lobt Gott als den, der an ihr handelt, der sie errettet durch seine Barmherzigkeit, sie ehrt durch seine Erniedrigung in der Menschwerdung seines Sohnes und sie erleuchtet durch sein Licht. Gott wird immer schon in der Beziehung zu ihr gesehen. Gott ist nicht der ferne, sondern einer, der an uns handelt. Im Gebet erkennen wir, was Gott täglich an uns tut. Er schenkt uns all das, was wir zum Leben brauchen. Er gibt unserem Leben erst seine Würde und seine Lebendigkeit.

Gertrud die Große

Die andere große Mystikerin aus Helfta, Gertrud die Große, zeichnet sich durch ihre Herz-Jesu-Verehrung aus. Sie erlebt in einer Vision, wie Christus selbst in ihr Herz kommt und vertrauten Umgang mit ihr hält, so wie ein Bräutigam mit seiner Braut, und wie ein König mit der Königin. Gertrud braucht nur in ihrem eigenen Herzen einzukehren, sich auf ihr Herz zu besinnen und mit ihm in Berührung zu kommen, dann spürt sie die liebende und heilende Gegenwart Jesu in ihrem Herzen. Das bedeutet für sie das Gebet: sich ins eigene Herz zurückziehen, um dort bei Jesus, ihrem Bräutigam und ihrem König zu sein. Dann erlebt sie sich selber anders. Sie erlebt sich als Liebende und als Königin, als eine Frau, die selber lebt, anstatt von andern gelebt und bestimmt zu werden.

Doch sie macht noch eine andere Erfahrung. Jesus hat ihr Herz verwundet. So wie sein Herz durch die Lanze des Soldaten verwundet worden ist, so hat Jesus mit seiner eigenen Liebeswunde ihr Herz verwundet. Und diese Wunde führt dazu, dass Gertrud offen ist für die Liebe Jesu. Das verwundete Herz ist zugleich das liebende Herz. Denn die Wunde erinnert sie an die Liebe Jesu, die sie verwundet hat, und an die eigene Liebe, die aus ihrer Wunde zu Jesus hin fließt.

Doch Gertrud erfährt nicht nur die Schönheit der Liebe Jesu, sie erfährt immer auch ihre eigene Verwirrung und Aufregung und sie spürt das Böse in sich selbst. In solchen Augenblicken wagt sie nicht, sich die Nähe Jesu zu wünschen. Doch Jesus gibt ihr in einer Vision Mut, sich gerade dann an ihn zu wenden. Denn nur so kann sie dem Bösen widerstehen. Und gerade so kann ihre Liebe sich vertiefen. Denn sie spürt, wie weit sie von Jesus entfernt ist und wie groß Jesu Liebe ist, dass er sich ihr zuwendet, obwohl sie in sich selbst verschlossen ist und sich vom Bösen beeinflussen lässt. Es ist das Geheimnis der Gnade, die größer ist als unsere Schuld.

Eine andere Erfahrung spricht Gertrud an, die wir alle kennen. Gott erfüllt nicht alle unsere Wünsche. Obwohl sich Gott in seiner Liebe zeigt, bleiben viele unserer Wünsche unerhört und unerfüllt. Jesus begründet das damit, dass er genauer hinschaut, was ihr wirklich fehlt. Die Betende gleicht oft einem Menschen, der blind ist für das, was hinter ihm sich verbirgt. Und so bittet er um das Falsche. Jesus aber hat einen größeren Horizont. Er sieht, was die Bittende wirklich braucht. Diese Antwort, die Jesus Gertrud gibt, mag uns nicht immer zufrieden stellen. Aber sie ist zumindest ein Versuch, die Nichterfüllung unserer Bitten zu erklären. Wir bitten oft um Dinge, von denen wir meinen, wir müssten sie unbedingt haben. Aber Jesus sieht, dass wir um das Falsche bitten. So antwortet er auf eine Weise, die wir nicht verstehen, die uns aber letztlich gut tut. Dieses Bild lässt uns erahnen, dass Jesus unsere Bitten immer hört, aber dass er selbst entscheidet, was für uns gut tut. Wir sollten darauf vertrauen, dass er uns zum Heil wirkt, auch wenn wir das oft nicht verstehen.

Mechthild von Hackeborn