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Liebe rockt!

Band 3:
Herzeis

von Michaela Santowski

Die Serie „Liebe rockt!“ erzählt die Geschichte von Karina, die es liebt, wenn ihr Leben klar, logisch und strukturiert verläuft. Sie ist eine prima Schülerin und wird deshalb von Nele, der Schuldiva, gemobbt. Und obwohl sie sich zunächst nicht für Jungs interessiert, lässt sie sich auf eine – zum Schluss enttäuschende – Beziehung ein. Als auch die zweite Beziehung ein unliebsames Ende findet, erkennt Karina, dass man sich selber am besten schützen kann, indem man keinerlei Gefühle zulässt und wandelt sich immer mehr vom strebsamen Mauerblümchen zum männerverschlingenden Vamp. Doch kann sie ihre mühsam aufgebaute Fassade bis in alle Ewigkeiten aufrechterhalten oder beginnt sie schon beim nächsten Mann zu bröckeln?

Band 3: Herzeis: Karina und Anja wohnen in einer gemeinsamen Wohnung in Frankfurt. Ihr Studium finanzieren sie durch Model-Jobs. Es mangelt nicht an Spaß und Männern in ihrer beider Leben. Allerdings scheint Karina ein vollkommen anderer Mensch geworden zu sein, rücksichtslos und eiskalt, nach ihrer großen Liebesenttäuschung mit Jonas. Sie spielt mit den Männern, die ihr alle bereitwillig zu Füßen liegen. Alle bis auf Dennis, der immun gegen ihren Charme zu sein scheint. Amüsiert beobachtet Anja, wie sich Karina die Zähne an ihm ausbeißt. Könnte es Dennis gelingen, Karina wieder zu sich selbst finden zu lassen?

Die Autorin

Michaela Santowski, geb.1972, lebt mit ihrer Familie im Taunus. Ursprünglich stammt sie aus der Gegend um Hannover. Nach dem Abitur machte sie eine Lehre zur Hotelfachfrau in einem renommierten Hotel in Hannover. Im Jahr 2000 absolvierte sie einen zwei Jahre dauernden Fernlehrgang in Belletristik an der Axel Anderson Akademie in Hamburg. Aufgrund ihres Jobs als Flugbegleiterin zog sie 1998 nach Frankfurt. Sie hat bereits fünf Romane in Eigenregie veröffentlicht.

Ihr Motto: Man sollte immer über das schreiben, was man selber erlebt hat. Und wenn es nur ein ganz kleines Detail ist, das sich als roter Faden durch ein Buch ziehen kann. Nähere Infos: www.michaela-santowski.de

Copyright © 2017 mainbook Verlag, Gerd Fischer
Alle Rechte vorbehalten
eISBN 978-3-946413-53-0

Lektorat: Gerd Fischer
Layout und Coverrechte: Lukas Hüttner

Besuchen Sie uns im Internet: www.mainbook.de

Für Leila, Selina und Chantal

Ihr wart ihr größtes Geschenk! Sie ist immer an eurer Seite und passt auf euch auf, auch wenn ihr sie nicht sehen könnt.

Und falls ihr je Hilfe braucht – ich bin da für euch; immer!

Inhalt

Die Autorin

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Zwei Jahre später

1

Karina kämmte ihre langen, blonden Haare, Strähne für Strähne. Im Spiegel starrten sie blaue, verquollene Augen an.

Kein Wunder. Sie hatte eine furchtbare Nacht mit viel hin und her Gewälze und noch mehr Tränen hinter sich. Erneut begann sie zu weinen.

Davinci, ihr Labrador-Golden Retriever Mischling, saß zu ihren Füßen und blickte sie mit schräg gelegtem Kopf an, so als würde er sich fragen, was da Merkwürdiges über Frauchens Gesicht lief.

Karina knallte die Bürste aufs Waschbecken. „Ich hasse ihn!“, schrie sie ihr Spiegelbild an. „Ich hasse Jonas! Wie konnte er mir das antun?“

Davinci schlich mit eingekniffenem Schwanz aus dem Bad und legte sich in Karinas Zimmer. Kurze Zeit später folgte sein Frauchen und stand unschlüssig vor dem Schrank. Immer noch im Schlafanzug schmiss sich Karina auf ihr Bett und starrte Löcher in die Luft.

„Wie kann etwas, was mir zum zweiten Mal passiert, noch mehr wehtun als beim ersten Mal“, schluchzte sie und vergrub ihr Gesicht im Kissen.

Vor zwei Jahren hatte sie sich in Martin verguckt. Sie war auf seinen Charme und sein gutes Aussehen hereingefallen und hatte nicht gemerkt, dass er es nur darauf abgesehen hatte, sie ins Bett zu bekommen. Besonders ärgerlich, weil Karina noch Jungfrau gewesen war und Martin folglich ihr Erster. Allerdings hatte sie durch diese Episode Anja, ihre mittlerweile beste Freundin, kennengerlernt. Die hatte dann auch das nächste Drama mit Jonas hautnah miterlebt. Wie Karina sich in den gutaussehenden Schulband-Sänger verliebt hatte und auch von ihm verlassen wurde.

„Schon gut, mein Großer.“ Karina strich Davinci, der ihre Hand leckte, durchs Fell. „Ich schaff das schon. Allerdings wäre es leichter, wenn ich Jonas tatsächlich hassen könnte“, heulte sie erneut los. „Ich bin achtzehn Jahre alt und verliebe mich immer in die falschen. Ist das bei Hunden auch so?“, fragte sie Davinci. „Seid ihr auch so dämlich wie wir Menschen?“

Davinci stupste sie mit der Schnauze an und forderte sie auf, ihn weiter zu kraulen.

Karina seufzte. „Ich glaube nicht. Ihr Hunde seid wesentlich cleverer. Hätte ich doch bloß nicht mit ihm geschlafen. Oder wäre es wenigstens genauso ätzend gewesen wie mit Martin. Aber nein, war ja klar, dass Jonas ein einfühlsamer, aufmerksamer und vorsichtiger Liebhaber sein musste. Ich kann nicht mal an ihn denken, ohne zusammenzubrechen“, jammerte sie.

Sie straffte die Schultern und wischte sich energisch die Augen. „Schluss jetzt mit der Flennerei. Ich habe das schon mal überstanden, ich werde das auch jetzt überstehen. Wenn er bloß nicht so verdammt gut aussehen würde“, versank sie erneut in Selbstmitleid. „Diese dunklen Haare, die immer so aussahen, als wäre er gerade erst aufgestanden“, erklärte sie Davinci, dem alles egal war, solange Frauchen nur weiter kraulte. „Diese unglaublich blauen Augen, die immer gestrahlt haben, wenn wir uns gesehen haben, dieser Wahnsinnskörper und erst dieser Mund“, seufzte sie selbstversunken. Karina stand auf und fing an, sich anzuziehen. „Ich hab so lange meine Gefühle geleugnet, so lange gewartet, bis ich ihn endlich küssen, endlich berühren durfte“, erklärte sie weiter, „und was passiert dann? Jonas entpuppt sich als derselbe Scheißkerl wie Martin. Und ich blöde Kuh hab es nicht wahrhaben wollen. Scheiße!“, fuhr sie auf, sodass Davinci erschrocken aufsprang. „Er ist genauso wie jeder Mann, den ich kenne. Obwohl, eigentlich ist er noch schlimmer. Er verlässt sogar das Land, nachdem er mit mir geschlafen hat.“ Verzweifelt lachte Karin auf. „Wäre es nicht so traurig …“, begann sie, doch dann piepste ihr Handy und kündigte eine WhatsApp an. Karina schielte unschlüssig in die Richtung.

„Guck du nach“, forderte sie Davinci auf, der mit dem Schwanz wedelte.

Zögerlich ging sie zu ihrem Telefon. Sie drückte auf einen Knopf und das Display wurde hell. Ein Bild strahlte ihr entgegen: sie selbst und Anja. Engelchen und Teufelchen, sagte ihre Mutter immer. Karina mit ihren langen blonden Haaren und ihren blauen Augen und Anja mit den kurzen dunklen Haaren und den braunen Augen. Das Display wurde wieder dunkel.

„Jetzt hat er mich schon so weit, dass ich nicht mal auf mein eigenes Handy schauen möchte. Wie lächerlich!“ Entschlossen entsperrte Karina es und ließ sich die WhatsApp anzeigen.

Hi, Süße. Bin nur ich schrieb Anja. Tja, sie kannte Karina ziemlich gut. Habe gerade Sam getroffen. Jonas ist schon in Frankfurt. Sein Zug vom Hauptbahnhof nach Salzburg geht um 10.26. Ich weiß, es interessiert dich nicht image Kuss

Unwillkürlich fiel Karinas Blick auf die Uhr. Es war jetzt kurz nach neun.

Jonas saß in der Markthalle am Frankfurter Hauptbahnhof und trank Kaffee. Er hatte noch eine halbe Stunde, bevor der Zug fuhr. Und das erste Mal fünf Minuten Ruhe seit er seiner Familie eröffnet hatte, dass er bereits jetzt fahren würde und nicht erst in vierzehn Tagen. Sie waren nicht gerade begeistert gewesen. Felix, sein kleiner Bruder, war dermaßen sauer geworden, dass es kurze Zeit so aussah, als würden sich die Brüder im Streit trennen. Seine Mutter hatte geheult und sein Vater hatte ständig Warum nur? gefragt. Letztendlich hatte Jonas erklärt, dass es völlig egal sei, wann er fahren würde, die Szene wäre die gleiche. Also besser gleich.

Nachdem seine Familie verstanden hatte, dass sie ihn nicht würde umstimmen können, hatten sie darauf bestanden, ihn wenigstens nach Frankfurt zu fahren. Der Abschied war schrecklich. Felix hatte sich wieder beruhigt und ihn fest in den Arm genommen. „Ich hasse dich“, hatte er geflüstert. „Aber das weißt du ja.“ Dann hatte er sich schnell weggedreht, damit Jonas seine Tränen nicht sehen konnte, die er selbstverständlich gesehen hatte. Sein Vater hatte ihn ermahnt, vorsichtig zu sein und gut auf sich achtzugeben und seine Mutter hatte ihm das Versprechen abgenommen, sie täglich anzurufen und auf jeden Fall in einem Jahr wiederzukommen.

Jonas hatte nicht vor, das Versprechen zu halten. Jedenfalls nicht bezüglich der Telefonate. Wie lange er fortbleiben würde, wusste er noch nicht. Vielleicht war er schneller wieder zu Hause als gedacht.

Er hatte die ganze Nacht wach gelegen und an Karina gedacht. An ihre letzten Worte: Nein, Jonas! Melde dich nicht! Von Anfang an war klar, dass es hier endet. Die letzte Nacht ändert daran nicht das Geringste. Du hast mir gezeigt, wie schön Sex sein kann, mehr aber auch nicht. Daran, wie eiskalt sie gewesen war bei diesen Worten, aber auch daran, wie sie ihn immer zum Lachen gebracht hatte, wie ihre Augen gestrahlt hatten, wie es sich angefühlt hatte, mit ihr zu schlafen. Letztendlich war er zu dem einzig möglichen Schluss gekommen: Er liebte sie, Scheiß drauf, dass er erst neunzehn war und eigentlich noch viel zu jung, um sich den Rest seines Lebens an eine einzige Frau zu binden. Und einer Sache war er sich ebenfalls absolut sicher: Sollte sie heute auf dem Bahnhof auftauchen, würde er bleiben. Keine zehn Pferde könnten ihn dann noch von ihr trennen. Aber er wollte ihr diese Entscheidung überlassen. Er selber hatte zu viel Angst vor einer Abfuhr, zu viel Angst, dass sie wirklich jedes Wort so gemeint, wie sie es gesagt hatte. Obwohl Sam meinte, das wäre lediglich Selbstschutz gewesen. Seufzend stand er auf, nahm seine Gitarre in die eine Hand, sein weniges Gepäck in die andere und ging in Richtung Bahnsteig. Wir werden sehen, dachte er, wer letztendlich recht hat.

„Ich muss total verrückt sein“, murmelte Karina, als sie das Auto am Bahnhof parkte. „Was will ich eigentlich hier?“

Trotzdem stieg sie aus.

Kurz darauf betrat sie das Gebäude. Ihr Blick fiel auf die Anzeigetafel. Der Zug nach Salzburg fuhr auf Gleis 9 ab. Je näher sie dem Gleis kam, desto langsamer wurden ihre Schritte. Was, wenn er sie gar nicht sehen wollte? Wenn er eher genervt war, sie zu sehen? Wenn er tatsächlich alles so gemeint hatte, wie er es gesagt hatte? Keine Beziehung. Er wolle niemanden zurücklassen. Denn so sehr Karina sich auch einredete, ihn nur kurz verabschieden zu wollen, wusste sie genau, dass sie mehr wollte. Sie wollte seine Lippen nochmal spüren, wollte seine Hände fühlen, wie sie durch ihre Haare strichen, wollte ihn bitten, bei ihr zu bleiben.

Sie blieb stehen. Nein, das war keine gute Idee!

Sie drehte sich um. Aber das war auch lächerlich. Wenn sie schon mal hier war, konnte sie auch zu ihm gehen. Oder nicht?

Karina raufte sich verzweifelt die Haare. Was soll ich bloß tun? Entschlossen ging sie festen Schrittes zu Gleis 9. Sie erkannte ihn schon von weitem und musste schmunzeln. Das größte Gepäck, das er dabei hatte, war natürlich seine Gitarre. Er stand etwas verloren am Gleis und sah in die Richtung, aus der der Zug kommen würde. Schnell versteckte sich Karina hinter einer Säule. Er sah so gut aus. Seine Jeans saß locker auf den Hüften. Er trug ein rotes T-Shirt, das seine Oberarme betonte. Karina konnte selbst auf diese Entfernung ein Stück seines Tattoos erkennen, das er auf dem Oberarm hatte: wegfliegende Vögel und das Wort Hope darunter. Oder vielleicht bildete sie sich das nur ein, weil sie wusste, dass dort eins war. Um die Hüften hatte er sich eine Jacke geschlungen. Seine dunklen Haare waren wie immer völlig durcheinander. Gerade in dem Moment, als Karina beschloss, zu ihm zu gehen, drehte er sich in ihre Richtung. Er konnte sie nicht sehen, da die Säule sie gut verbarg. Trotzdem verließ sie schlagartig der Mut. Es war wohl einfacher, sich jemandem zu nähern, der einen nicht sah, als ihm unmittelbar in die Augen zu blicken. Karina hatte Angst vor dem, was sie darin sehen würde, wenn sie, wie sie hoffte, locker-lässig auf ihn zu schlenderte. Ärger oder gar Ablehnung würde sie nicht verkraften. Also blieb sie, wo sie war. Kurze Zeit später erklang aus den Lautsprechern die Durchsage, dass der Zug nach Salzburg demnächst einfahren würde. Jetzt oder nie, dachte sie, doch ihre Beine bewegten sich nicht.

Jonas blickte sich um, als würde er jemanden suchen. War seine Familie womöglich hier? An diese Möglichkeit hatte sie gar nicht gedacht. Dann hatte sich das ganze sowieso erledigt. Sie würde sich mit Sicherheit nicht vor seinen Eltern und seinem Bruder zum Gespött machen. Allerdings konnte sie niemanden entdecken. Dafür sah sie, wie der Zug langsam in den Bahnhof einfuhr. Sie schluckte. Los doch, beweg dich!, forderte sie sich auf. Doch ihr Gehirn weigerte sich, den Befehl an ihre Füße weiterzuleiten. Sie stand einfach nur da, verborgen hinter der Säule.

Der Zug fuhr ein. Jonas sah sich noch ein letztes Mal um und stieg ein. Die Türen schlossen sich, der Zug fuhr an und Karina trat hinter der Säule hervor.

„Geh nicht!“, flüsterte sie. „Ich liebe dich!“ Doch sie sah nur noch die Rücklichter.

Nachdem sie dem Zug eine gefühlte Ewigkeit hinterher gestarrt hatte, sank sie schließlich auf eine Bank. Sie hatte das Gefühl, jemand habe ihr alle Luft zum Atmen genommen. Ihre Brust fühlte sich viel zu eng an und sie war einfach nicht in der Lage, tief Luft zu holen. Stattdessen keuchte sie und begann, hemmungslos zu schluchzen, verbarg den Kopf in ihren Händen und wünschte sich, tot zu sein. Sie wusste nicht, wie lange sie dort gesessen hatte, als sie neben sich eine Frauenstimme vernahm: „Mein Gott, Mädchen. Er wird doch bestimmt wiederkommen.“ Kurz darauf fühlte sie eine Hand auf ihrer Schulter. Diese Geste sollte wohl tröstend sein. Karina blickte hoch und sah in das lächelnde Gesicht einer alten Dame. Und mit einem Mal wurde ihr bewusst, dass er nicht mehr wiederkommen würde. Jedenfalls nicht mehr in ihr Leben.

Die Dame lächelte sie immer noch an. Karina straffte ihre Schultern, stand auf und entgegnete mit kalter Stimme: „Sie irren. Er kommt nicht wieder. Besser, ich akzeptiere das endlich.“

Auf dem Weg zurück zu ihrem Auto begann sie auch ein neues Leben. Ein Leben ohne Jonas. Und ohne Gefühle, weil sie diese nicht mehr zulassen würde. Niemals wieder! Niemand würde ihr je wieder so wehtun, wie er es getan hatte.

2

Sandra, Karinas Mutter, öffnete ihrem jüngeren Bruder die Tür.

„Gott sei Dank bist du da“, begrüßte sie ihn und drückte ihn fest an sich. Luca erwiderte erstaunt die Umarmung seiner Schwester.

„Mal ganz abgesehen davon, dass ich immer komme, wenn ich eine Nachricht von meiner Schwester erhalte, die da lautet SOS, war ich gerade bei Natalie und hätte sowieso nochmal reingeschaut.“

Natalie war nicht nur Lucas Freundin, sondern wohnte auch direkt gegenüber.

„Was ist passiert?“, erkundigte sich Luca. „Ist der Rasenmäher defekt und dein Mann darf nicht erfahren, dass du ihn kaputtgemacht hast?“, scherzte er und betrat das Haus.

„Es geht um Karina“, ignorierte Sandra die Anspielung ihres Bruders.

Sofort trat ein besorgter Blick in Lucas Augen. „Geht es ihr nicht gut?“

Luca und Karina hatten eine besondere Beziehung. Aufgrund des geringen Altersunterschiedes, der knapp zehn Jahre betrug, waren sie eher Freunde als Onkel und Nichte. Luca wusste mit Sicherheit einiges mehr über Karina als ihre eigene Mutter.

„Körperlich ist alles in Ordnung“, erwiderte Sandra, „aber sie verlässt seit vier Tagen ihr Zimmer kaum, isst wenig bis gar nichts und sagt mir einfach nicht, was los ist. Anja ist die ganze Woche unterwegs. Die kann ich also nicht um Hilfe bitten. Ich bin echt verzweifelt, Luca! So kenne ich meine Tochter nicht.“

Ohne ein weiteres Wort ging Luca die Treppe hoch und klopfte an Karinas Tür.

„Ich habe keinen Hunger, Mama.“

„Wie gut, dass ich nichts zu essen dabei habe“, erwiderte er und trat, ohne eine Antwort abzuwarten, ins Zimmer. Einen kurzen Moment lang konnte er seinen Schreck nicht verbergen, als sein Blick auf seine Nichte fiel. Doch er hatte sich schnell wieder im Griff.

Karina saß am Schreibtisch und starrte ins Leere. Ihre Haare waren strähnig und sahen ungepflegt aus, ihre Augen waren groß und verquollen, ihre Arme hingen kraftlos an ihr herab.

„Ich habe keinen Hunger“, wiederholte sie tonlos, als hätte sie seine Antwort nicht vernommen.

„Wie du aussiehst, brauchst du nichts zu essen, sondern eine kräftige Schulter zum Anlehnen“, konterte Luca und zog sich einen Stuhl heran. Er ließ sich ihr gegenüber nieder und ergriff ihre Hände. Sie waren eiskalt.

„Du bist schwanger“, stellte er fest, „und glaubst, du könntest es Sandra und Matthias nicht sagen?“, riet er.

Karina blinzelte und sah ihn an. Schnell erkannte Luca, dass er falsch lag.

„Du hast dich in Anja verliebt und sie erwidert deine Gefühle nicht?“, versuchte er es erneut.

Wieder keine Reaktion.

„Man hat dir die falsche Abinote mitgeteilt, du bist eigentlich durchgefallen und musst das Jahr wiederholen.“

Sie blickte ihn weiter stumm an.

„Okay, meine Süße. So wird das nichts, obwohl ich meine Vorschläge sehr kreativ fand. Entweder du entschließt dich, mit mir zu reden oder ich rufe Jonas an und zitier ihn hierher. Vielleicht weiß er etwas.“

Luca zuckte zusammen, als Karina aufschrie. „Diesen Namen will ich nie wieder hören.“

Volltreffer!

„Hey“, sagte er ruhig und zog sie in seine Arme. „Endlich weiß ich, wo der Hase läuft!“ Sanft strich er über ihren Rücken. „Erzähl mir mehr!“

Luca war der Einzige, der über die tiefen Gefühle, die Karina Jonas entgegenbrachte, Bescheid wusste.

„Keine Chance!“, entgegnete sie, fing aber gleichzeitig heftig an zu weinen.

Luca hielt sie fest in seinen Armen und wartete, bis sie ruhiger wurde. Dann schob er sie sanft von sich, strich ihr eine Haarsträhne aus der Stirn und sah sie an. „Rede mit mir“, forderte er sie auf.

„Er ist weg“, flüsterte sie so leise, dass Luca sie kaum verstand.

„Weg?“, hakte er nach.

Sie nickte nur.

Er wischte ihr die Tränen fort. „Du meinst, er hat seine Europareise früher angetreten?“

Wieder ein Nicken.

„Und das wirft dich so aus der Bahn? Versteh mich nicht falsch, aber du wusstest, dass er fährt. Was machen denn da zwei Wochen mehr oder weniger?“

„Ich habe mit ihm …“

„Oh“, stieß er aus. „Das macht die Sache natürlich kompliziert.“

Lautlos liefen Karina erneut Tränen über die Wange. Sie schloss die Augen. Luca sagte kein Wort. Er hielt einfach nur ihre Hand. „Ich hatte so sehr gehofft, er würde bleiben“, fuhr sie fort. Mit traurigen Augen blickte sie Luca an. „Ich habe gehofft, er würde genauso empfinden. Dass es reichen würde, um hierzubleiben, dass ich reichen würde, um hierzubleiben.“

Luca strich ihr über die Haare und zog sie eng an sich. Es bereitete ihm körperliche Schmerzen, seine Nichte leiden zu sehen.

„Warum ist er trotzdem gegangen?“, schluchzte sie an seiner Schulter und klammerte sich an ihn.

„Darauf weiß ich keine Antwort“, gab er zu.