Menschmaschinen

André Skora (Herausg.)

cover

© 2017 Amrûn Verlag

Jürgen Eglseer, Traunstein

© der Kurzgeschichten bei den jeweiligen Autoren

ISBN – 978-95869-292-3

Cover- und Umschlaggestaltung:

Christian Günther, Atelier Tag 1

Lektorat: Jasmin Krieger

Alle Rechte vorbehalten

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Fitzroy, Falstaff und andere furiose Menschmaschinen

Der Heizer

Der wilde Reiter

Ultramarinblau

Adam

Böse Träume

Rettung

Der Fall Rohrschach

Rupert

Happy Transition Day!

Die Autoren

Vorwort

Werte Leserinnen und Leser,

künstliches Leben fasziniert schon lange die Gemüter. Während wir damit heute eher künstliche Intelligenz in Form von lernfähigen Computerprogrammen assoziieren und in zahlreichen Werken der Science-Fiction deren Konflikt mit der Menschheit heraufbeschwören, beschäftigten sich Autoren historischer Werke mit Automaten und zusammengesetzten Leichenteilen, belebt durch die Macht der Elektrizität. Galvanis Experimente, die Muskeln mit Hilfe von Elektrizität zucken ließen, inspirierten wohl Mary Shelley zu ihrem Frankenstein. Menschengleiche Automaten spielen bei E.T.A. Hoffmanns Sandmann eine entscheidende Rolle. Und selbst Wissenschaftler und Ingenieure wie der berühmte Nikola Tesla sehen Menschen nur als programmierte Maschinen der Natur.

Frankensteins Monster, Automatenmenschen, Teslas verrückte Erfindungen. Das liest sich wie der Stoff, aus dem das Genre Steampunk gewoben ist. Die Retro-Science-Fiction scheint also dem Thema Mensch-Maschine dieser Anthologie gerecht zu werden.

Für den Cyberpunk, dem weiteren in dieser Anthologie vertretenen Genre, ist das Thema Mensch-Maschine geradezu klassisch. Genregrößen wie Gibsons Neuromancer oder Ghost in the Shell von Masamune Shirow behandeln die Schnittstelle von Mensch und Maschine als zentrales Element.

Wo der Cyberpunk und auch die Science-Fiction die Problematiken der moralisch fragwürdigen Verbindung zwischen ­Leben und Technik in die oft nicht allzu ferne Zukunft verorten, findet sie im Steampunk noch einmal eine neue Gewandung einer »Was-wäre-gewesen-wenn?«-Vergangenheit. Wie sich der Begriff Steampunk vom Cyberpunk ableitet und gleichzeitig abhebt, so hat das Thema Mensch-Maschine im Steampunk ein ganz eigenes Flair. Chrom, Halbleiter und CPUs weichen Zahnrädern, Pneumatiken und Lochkarten – ein eher handfester, nostalgischer, ästhetischer Zugang zu Maschinen, der uns in unserer zunehmend technisierten und komplexen Welt vielleicht gerade deshalb anspricht.

An anderer Stelle (im Rahmen der Welt von »Eis&Dampf«) habe ich mich bereits zu diesem Thema ausgetobt, wodurch mir wohl die Ehre zuteilgeworden ist, das Vorwort für diese Anthologie schreiben zu dürfen. Daher war ich sehr gespannt darauf, wie sich andere diesem Thema nähern – ob klassisch wie bei Shelley und Hoffmann oder in einer eher futuristischen oder phantastischen Art und Weise. Ich freue mich, dass André Skora dieses faszinierende Projekt ins Leben gerufen hat, und dass sich so viele Autorenkollegen und -kolleginnen dafür begeistern ließen, die nicht davor zurückgeschreckt sind, sich mit der Maschine einzulassen.

Und nun, werte Leserinnen und Leser, schaufelt Kohle in eure Dampfbeine, wärmt die Schnittstellen in eurer Datenbuchse und schließt eure galvanischen Zellen an! Viel Spaß zwischen Mensch und Maschine!

Christian Vogt

Fitzroy, Falstaff
und andere furiose
Menschmaschinen

von Thorsten Küper


Nach der unruhigen und stickigen Nacht im Zug wäre es früher ein großartiges Gefühl gewesen, die Nase in den Wind zu halten, den gequälten Körper nach Stunden auf engstem Raum der Länge nach zu strecken.

Früher, in einem anderen Leben. Für mich bedeuten solche Momente schon lange nichts mehr. Diese Art des Wohlbehagens werde ich nie wieder spüren. Nicht, dass ich mich damit nicht arrangiert hätte. Es ist nur einer dieser kleinen vorbeihuschenden, beinahe nostalgischen Augenblicke. Das vergängliche Aufflackern eines lang erloschenen Gefühlslebens.

Der Morgen an der Union Station begrüßt uns mit einer leichten Brise vom Fluss her. Auch sie trägt das Aroma von Ruß mit sich. Nicht nur von den Maschinen der Lokomotiven, sondern auch aus den Schloten der Raddampfer, eine gute halbe Meile entfernt von hier. Dieselbe Aura, die auch mich umwölkt nach der Nacht in der viel zu kleinen Kabine, die mir ein von meinem Anblick, oder eher meinen Dimensionen, entsetzter Schaffner zugewiesen hat. Wider Erwarten hat mein Körper die für die nächsten zwei Tage vielleicht letzte Gelegenheit zum Schlaf genutzt, und dafür sollte ich wohl dankbar sein.

Die Hand, die ich meiner Auftraggeberin darbiete, um ihr die drei Stufen hinabzuhelfen, ignoriert sie. Stattdessen rafft sie den eng geschnittenen Rock ihres roten Kleides selbst und steigt, das Kinn stolz erhoben, den Blick auf die morgendliche Stadt gerichtet, auf den Bahnsteig herunter. Es wird kein Zufall sein, dass die Farbe des Stoffes mit jener von Lokomotive und Waggons der Illinois Central Railroad perfekt übereinstimmt.

Cornelia Victoria Baybridges Blick findet mich mit tadelnd erhobener Augenbraue.

»Es ist heiß«, stellt sie fest, so als wäre es an mir, diesen Missstand so schnell wie möglich zu beseitigen.

»Es ist New Orleans«, entgegne ich. »Einer der eher kühlen Tage würde ich vermuten.«

Ihre blassen Lippen formen eine missmutige Linie in dem eigentlich hübschen, aber stets energischen und immer viel zu blassen Gesicht. Eine Lesebrille hat zwei Druckstellen links und rechts ihrer kleinen Nase in die Haut gekerbt. Sie arbeitet viel zu lange. Mehr als mancher Mann es lange durchhalten könnte.

An mir vorbei hält sie nach etwas Ausschau. Die vier Gepäckmänner mit den riesigen Koffern, drei davon ihre, ein großer Schrankkoffer meiner, schließen zu uns auf. Auch dieses Mal entgehen mir ihre neugierigen, bisweilen verängstigten Seitenblicke auf mich nicht. Ich kann in ihren Augen sehen, dass sie sich fragen, welche Rolle dieser, mit seinem Zylinder fast acht Fuß große Mann, im Leben einer unverheirateten Dame spielt.

Sobald sie bemerken, dass ich sie durch die die kleinen runden Gläser meiner blauen Sonnenbrille betrachte und dabei ganz langsam zu lächeln beginne, drehen sich zwei der drei Köpfe ruckartig zurück zu Miss Baybridge.

Sie deutet auf die Reihe wartender Dampfautomobile auf dem Vorplatz vor der Station.

»Achten sie darauf, dass es der Wagen für Miss Baybridge ist«, instruiert sie die jungen Burschen. »Bay-Bridge«, betont sie ihren Namen noch einmal. Sie bedeutet den Trägern mit einer scheuchenden Geste ihrer behandschuhten Hand, sich endlich auf den Weg zu machen und schüttelt unwillig den Kopf. Einen Augenblick schaut sie ihnen hinterher, wie sie sich so schnell als möglich mit den schrankgroßen Koffern die Treppe hinuntermühen. Mehr selbst vor der Gepäcklawine flüchtend als sie noch tragend.

Jungen, manche weiß, manche schwarz, huschen um uns herum, versuchen gegen den Widerstand von Zugreisenden Flugblätter in deren Hände zu legen. Buntes Papier, das die laufende Weltausstellung in Chicago, vor allem aber lokale Theater, Restaurants, Tanzvergnügen und mühsam nicht als solche bezeichnete Bordelle bewirbt. Einer der kleinen Kerle versucht mich geschickt zu umrunden, unterschätzt jedoch meine Schnelligkeit und die Reichweite meiner Arme. Er zappelt hilflos wie am Haken eines Krans, bis ich ihn mit einem sanften Schubser in die entgegengesetzte Richtung wieder absetze.

Als ein infernalischer Trompetenklang die Gebäude erzittern lässt, sucht Miss Baybridge instinktiv meine Nähe. Nur um gleich darauf peinlich berührt umso mehr Abstand zwischen uns zu bringen. Trotz des kleinen Schrecks hat auch sie den Ursprung des Geräusches ausgemacht.

Fitzroys Luftschiff ist als solches unverkennbar. Sein Konterfei verziert die Hülle. Souverän lächelnd, mit dem Blick eines großen Entdeckers, der uns allen den Weg weist. Eine riesige Zigarre im rotbärtigen Mundwinkel seines gigantomanischen Selbstbildnisses. Rauch aus den Maschinen steigt daraus empor.

Das Luftfahrzeug senkt sich vielleicht eine halbe Meile entfernt langsam herab. Dort ist die Anlegestelle. An der Stelle liegt auch Fitzroys Raddampfer. Selbst von hier aus, über die Häuser hinweg unübersehbar durch die beiden fast einhundertdreißig Fuß hohen Schornsteine, die sich wie die Türme einer Kathedrale über die Stadt erheben. Und deswegen heißt sein Schiff auch so.

Die New Orleans Cathedral.

»Ist es seine Arroganz, die man über eine Meile hinweg erkennen kann, oder sind es seine Minderwertigkeitskomplexe?«, fragt sie in der für sie eigenen Art, die mich stets glauben macht, ihre Frage wäre nicht an mich gerichtet, sondern an jemanden der ihr intellektuell gewachsen ist.

»Vielleicht muss er irgendetwas ausgleichen«, spekuliere ich.

Wieder die erhobene Augenbraue. Ihr ist die kleine Zweideutigkeit nicht entgangen.

»Was geschieht denn da?«, will sie von mir wissen, während sie Fitzroys Flugmaschine über dem Dampfer beobachtet.

Ein kastenförmiges Objekt von etwa einem Viertel der Schiffslänge wird an Seilen herabgelassen. Unten greift eine baumhohe, zweibeinige, wie ein riesiger Ritter aussehende Transportmaschine danach und platziert es verblüffend vorsichtig auf der Cathedral, sodass die auffällige Lücke zwischen Oberdeck und Brücke geschlossen wird.

»Es ist Fitzroys Prunkdeck«, erkläre ich. »Er reist in seinem Luftschiff hier an und lässt sich mit seinen Gemächern einfach auf dem Dampfer absetzen.«

Sie betrachtet mich einen Augenblick. »Sie haben sich vorher offensichtlich das entsprechende Hintergrundwissen angeeignet.«

»Ich war davon ausgegangen, dass Sie von mir mehr über Ihren Gastgeber erfahren möchten, Miss Baybridge.«

»Oh, mich interessiert nur eines.« Sie fixiert mich und flüstert. »Ob Sie im Stande sind, unsere Abmachung zu erfüllen …« Unwillkürlich hat sie die Stimme mehr und mehr erhoben, und jetzt ähnelt sie dem Fauchen eines Berglöwen, »… und den für mich unerträglichen und beleidigenden Umstand zu beenden, dass Mr. Fitzroy nach wie vor raucht, trinkt, koitiert und atmet.«

Damit lässt sie mich zurück.

Ich kann nicht leugnen, dass sie mir imponiert.

*

Der Schatten von Fitzroys ablegendem Luftschiff gleitet über uns hinweg, als wir die breite Gangway zum Empfangsdeck auf halber Höhe der New Orleans Cathedral erklimmen. Mit den Schornsteinen ist der Raddampfer fast einhundertdreißig Fuß hoch, imposanter jedoch als die sieben Stockwerke hohen Aufbauten ist die beachtliche Länge von über dreihundertneunzig Fuß. Zwei Schaufelräder an den Seiten und ein deutlich größeres am Heck erlauben Fitzroys Luxusdampfer die Reise über Baton Rouge nach Natchez statt in wie bisher drei Tagen in weniger als zwei Tagen zurückzulegen.

Cornelia verharrt mitten auf der Gangway. Ihre Aufmerksamkeit gilt dem eisernen Riesen, der vor einer halben Stunde das an Seilen vom Luftschiff hängende Prunkdeck in die Verankerungen oben auf dem Dampfer bugsiert hat. Oben im Kopf der Monstrosität kann ich das Gesicht des Steuermanns erkennen, der die Maschine lenkt. Seine Augen blicken teilnahmslos in meine Richtung, während der mechanische Gigant sich vorsichtig rückwärts bewegt. Auf der eisernen Brust trägt er eine Messingplakette mit euphorisch geschwungenem Schriftzug. Baybridge Locomotion.

»Wie ausgesprochen großzügig von Mr. Fitzroy, uns zu gestatten, nach wie vor unseren Namen darauf zu schreiben«, bemerkt Cornelia schnippisch.

Der Zweibeiner steht jetzt mit beiden Beinen in einer wuchtigen Vorrichtung, hinter der eine Art Floss liegt. Die Beine lösen sich aus den Gelenken an den Hüften, während der Torso über einen Zapfen mit dem Floss verbunden wird. Die Beine verbleiben stehend vor dem Dampfer, während der Oberkörper des Riesen nun wie ein Mann in einem Kanu zurücksetzt. Er verschwindet hinter dem Heckschaufelrad. Ich bin mir sicher, er wird jetzt von der Flussseite aus Ladung aus kleineren Frachtkähnen auf die New Orleans Cathedral übersetzen.

»Läuft und schwimmt. Ganz nach Bedarf. Was für eine brillante Maschine.«

»Geschaffen von zwei Genies«, flüstert Cornelia. Mehr nicht. Ich will sie nach den beiden Genies fragen. Doch sie setzt ihren Weg wortlos fort. Ich kann mir allerdings auch so denken, von wem sie spricht.

Das Empfangsdeck könnte auch das Foyer eines großen Hotels sein. Auf allem liegt fast greifbar ein süßlicher Duftmantel aus Blumenbouquets, schweren französischen Parfüms und Tabakrauch.

In einem goldumrahmten Spiegel kann ich mich selbst und Cornelia das Foyer betreten sehen. Aber auch die Blicke, die uns folgen, entgehen mir nicht. Geschäftsmänner auf mit rotem Samt bezogenen Fauteuils mustern uns durch den Rauch ihrer Zigarren. Sie und tuschelnde, viel zu junge Frauen auf den Plätzen neben ihnen.

Es sind nicht ihre Gattinen, daran kann wohl kein Zweifel bestehen.

Am Empfang unter einem riesigen Kronleuchter erwartet uns ein schmalgesichtiger Rezeptionist mit eingefallenen Wangen und einem aufwändig gezwirbelten Schnurrbart.

Er verneigt sich, bevor er die Einladung von Miss Baybridge entgegennimmt, das Papier einer intensiven Begutachtung unterzieht, in deren Verlauf er es sogar gegen das helle Licht des Kronleuchters hält, wohl auf der Suche nach einem versteckten Wasserzeichen, das die Echtheit verifiziert. Kurz darauf reicht er sie ihr mit einer weiteren Verneigung zurück, heißt sie willkommen und deutet auf mich. »Unser Personal wird ihr Gepäck an Bord bringen. Sie benötigen seine Hilfe jetzt nicht mehr.«

»Mr. Covault ist nicht mein Gepäckmann. Er ist mein Begleiter.«

»Ich verstehe nicht ganz.«

»Ich bin Cornelia Victoria Baybridge, wie Sie schon der Einladung entnehmen konnten, die Sie ja so eingehend studiert haben. Bedauerlicherweise nehmen gewisse dubiose Gestalten Witterung auf, sobald dieser Name fällt.«

Er blättert in einem Buch vor sich auf dem Schalter. »Ah ja, ich kann der Passagierliste entnehmen, dass Ihr Begleiter als Leibwächter angemeldet wurde. Es ist nur so, dass er …«

»Ja?«

»Nun, er ist so …« Er ringt um das passende Wort. »… immens.«

Cornelia begutachtet mit verächtlicher Miene über den Rezeptionisten hinweg das riesige Gemälde zwischen den beiden Treppen, die auf das erste Passagierdeck führen. Es kündigt eine Aufführung der neuen Verdi-Oper Falstaff am morgigen Abend an. Allerdings scheint es sich um eine etwas großzügiger ausgelegte Variation des Themas zu handeln. Jedenfalls deutet die Vielfalt ungewöhnlich dürftig bekleideter Damen darauf hin. Diese Interpretation der lustigen Weiber von Windsor dürfte mit ihrem Fokus auf gewisse unverhüllte Reize deutlich skandalöser ausfallen als die europäische.

Cornelias Missbilligung ist offensichtlich. Ausgesprochen wohlartikuliert, noch dazu unüberhörbar und mit einem Unterton, der so scharf ist wie die kreolische Küche, konstatiert sie: »Als Besitzerin von Baybridge Locomotion sehe ich es als geschäftliche Verpflichtung an, der Einladung von Mr. Fitzroy zu folgen, jedoch keinesfalls als ein persönliches Bedürfnis. Mr. Covault wird sicherstellen, dass keiner der anderen Gäste dieses schwimmenden Hurenhauses mich mit einer Vertreterin ihres Unterhaltungsangebotes verwechselt.«

Im Spiegel sehe ich mindestens eine Zigarre aus einem Mund fallen. Junge Damen versuchen errötende Wangen hinter vorgehaltenen Händen zu verstecken.

»Ich bin sicher …« Der Adamsapfel des Rezeptionisten hüpft. »… er ist dieser Aufgabe gewachsen.«

»Wenn er nicht bleiben kann, muss ich das als Ausladung interpretieren. Das wäre zweifellos ein Eklat, den Sie nicht provozieren möchten, nehme ich an.«

»Selbstverständlich nicht. Wir könnten vielleicht …«

»Oh, ich bin sicher …«, mische ich mich nun ein, »… ich kann mich jeder Raumgröße anpassen. Ein Mann meiner Statur ist es gewohnt, sich mit filigranen Schlafplätzen zu arrangieren.«

Hektisch fährt der Finger des Mannes jetzt über die Liste in seinem Buch. »Aber auf dem obersten Deck könnte ich ihnen unter Umständen auch eine etwas größere Kabine für ihren Begleiter zuweisen.«

Ich richte den Blick auf Cornelia. »Die Aussicht über den Mississippi von dort oben muss unvergleichlich sein«, spekuliere ich.

»Mr. Covaults Kabine würde sich unmittelbar neben der meinen befinden?«, vergewissert sie sich mit gehobener Braue. »Er nützt mir nichts, wenn er meine Hilferufe nicht hören kann.«

Der Rezeptionist nickt ergeben. »Selbstverständlich.«

Nur Minuten später bringt uns ein mit Gold und Messing umrahmter gläserner Aufzug nach oben. Sie sieht mich nicht an. Ihre Stimme ist mehr ein Flüstern, aber doch laut genug.

»Ich hatte nicht erwartet, Covault, dass Sie uns mit dieser Taktik so einfach einen Platz auf dem obersten Deck verschaffen könnten.«

»Wir kommen dem Ziel näher.«

»Aber kommen wir ihm in weniger als zwei Tagen nah genug?«

Genau das ist die Frage. Der Aufzug erreicht das oberste Stockwerk. Ich öffne die Tür für sie.

»Da wir nur diese Chance haben, bleibt uns nichts anderes übrig, oder?«

*

Der Opernsaal ist weitaus imposanter als ich erwartet habe. Er kann tatsächlich alle dreihundertundfünfzig Passagiere der New Orleans Cathedral aufnehmen, obwohl ich das für unmöglich gehalten habe. Den ganzen Tag über, bis in den späten Nachmittag, sind nach und nach mehr der geladenen Gäste an Bord gekommen. Einige von ihnen seien, so munkelt man, mit Luftschiffen direkt aus Europa angereist.

Im Augenwinkel beobachte ich Cornelia, wie sie sich bemüht, ihr Staunen zu verbergen, während sie den Opernsaal begutachtet. Aufwändige Stuckreliefs verzieren Wände, Säulen und umrahmen die Bühne, die sich vier Stockwerke hoch erhebt.

Man hat Miss Baybridge einen Sitzplatz in der hintersten Reihe zugewiesen. Es mag an mir liegen, vermute ich. Auf diese Weise kann ich hinter ihr stehend meiner Aufgabe als Leibwächter nachkommen, ohne anderen Zuschauern die Sicht zu nehmen.

»Es muss genauso viel gekostet haben wie ein richtiges Theater«, raunt sie mir zu. »Und doch ist der Charme dieses Etablissements so syphilitisch wie der eines Bordells im French Quarter.«

Viele der Stuckmotive sind mythologischer Art. Geschmacklos arrangierte griechische Gottheiten ringen mit sagenhaften Ungeheuern. Andere sind durch Technologie inspiriert. Luftschiffe, die Bergspitzen überfliegen, Eisenbahnen, die Wildpferde überholen und Dampfschiffe, die sich Wettrennen liefern. Ein nicht unbeträchtlicher Teil der Reliefs jedoch ist erotischer Natur. Oder schlicht obszön. Männer und Frauen geben sich Sinnesfreuden jeglicher Spielart in allen nur erdenklichen Stellungen hin. Es sind nicht nur Früchte, die von Lippen und Zungen umspielt werden.

»Mr. Fitzroy scheint das Flötenspiel zu lieben«, stellt Cornelia sachlich fest.

»Ihr Geschäftspartner gestattet uns einen Blick in seine Seele.« Ich lächle.

»Dieser Mann ist niemals ein Geschäftspartner gewesen. Er ist ein Dieb. Und eine Seele besitzt er schon lange nicht mehr, so er denn überhaupt mit einer geboren wurde.«

Der Vorhang hebt sich.

Auf der erleuchteten Bühne dahinter erwartet uns eine Ansammlung von Darstellern und Tänzerinnen, die ich für das vollständige Falstaff-Ensemble halte. Sie bilden eine Schneise ins Dunkel hinter der Bühne.

Ein Mann tritt aus dem Schatten, jeweils vier Begleiter zu seiner Linken und Rechten, die am vorderen Rand der Bühne einen Halbkreis bilden. Sie tragen schwarze Gehröcke und jeweils zwei Revolver am Gürtel. Es ist seine Leibgarde.

Applaus brandet auf, als Fitzroy seine Position auf einem kleinen Podest in der Mitte einnimmt. An der Art, wie sie sich bewegen und seine Wächter den Opernsaal beobachten, kann man erkennen, dass sie Kampferfahrung haben. Doch keiner von ihnen ist besonders groß. Der Grund dafür ist offensichtlich.

Fitzroy ist ein verblüffend, um nicht zu sagen enttäuschend kleiner Mann. Mit seinem welligen roten Haar und dem vor Bartwichse glänzenden gezwirbelten Schnurrbart in derselben Farbe, könnte er genauso gut ein Kobold sein. Der Versuch, mit hohen Stiefeln die Illusion von Länge zu erzeugen, kann nicht als Erfolg bezeichnet werden.

»Er ist ein Zwerg«, stellt Cornelia fest.

Ich beuge mich zu ihr hinunter und raune: »Dennoch ist sein Arsch groß genug, dass jeder im Saal einen Platz darin findet.«

Sie blickt sich bestürzt zu mir um. »Mr. Covault!« Doch ihre Entrüstung ist nur gespielt. Das Lächeln hinter der vorgehaltenen Hand verrät sie. Vielmehr noch steht es ihr.

Sie sollte öfter lachen.

Alle Anwesenden, einschließlich Cornelia Victoria Babybridge, sind Fitzroys persönlicher Einladung gefolgt. Es sind Geschäftsfreunde, Vertragspartner, Finanziers, die Eigentümer kleiner Fabriken und Werkstätten, die für Fitzroy arbeiten und vielversprechende Unternehmen, die er für seine Zwecke einspannen will. Männer in schwarzen Fracks und Gehröcken mit hohen Zylindern auf den Köpfen, andere in militärischen Uniformen, mit Säbeln und Revolvern an den Gürteln.

Sie alle sehen mit ehrfürchtig leuchtenden Augen zu ihm auf, als sei der Herr selbst auf einer Wolke herabgestiegen, um sie zu Teilhabern am Himmelreich zu machen. Ihr Applaus dauert an. Wie lange schon? Fünf Minuten? Oder sind es zehn? Es ist nicht etwa so, dass Fitzroy den Beifall in vollen Zügen genießen würde. Seine Mimik und die Haltung sind die eines großen Führers, der seiner Armee, obwohl schon den nächsten Sieg vor Augen, die Zeit gewährt, ihm zu huldigen.

Endlich breitet er die Arme aus. Eine Herrschergeste. Augenblicklich verstummen Applaus und Jubelrufe.

»Ladies and Gentlemen, ich bin überrascht, Sie heute hier zu sehen«. Seine Stimme ist die eines viel größeren Mannes und eines geübten Redners. Wohl moduliert, präzise, souverän. »Sollten Sie nicht in Chicago sein? Wollen Sie wirklich die Weltausstellung versäumen?« Er blinzelt in gespielter Überraschung. »Westinghouse und Tesla sind dort, und unsere gefeierten Missionare des Wechselstroms haben Glühbirnen mitgebracht. 200.000 Glühbirnen, Ladies und Gentlemen.« Einige Männer im Publikum lachen auf. »Mir scheint, Chicago feiert dieser Tage ein großes Lampenfest. Ja, der Stromkrieg wurde endlich entschieden. Zugunsten von Mr. Tesla.« Er klatscht in die Hände. »Wie wundervoll für ihn. Sagen Sie, was wurde eigentlich aus diesem, wie hieß er doch gleich … Edison?« Wieder vereinzelte Lacher, diesmal mehr. »Oh, ich hörte, er lauscht nur noch seinem eigenen konservierten Geschwätz auf Wachswalzen. Oder ist er dazu schon zu taub?« Stürmisches Gelächter erfüllt den Opernsaal und Fitzroy zwinkert der Menge zu. »Gleichstrom oder Wechselstrom, Edison oder Tesla. Mir ist es gleich. Die Herren können Chicago beleuchten oder Paris. Sie dürfen und sollen auch gern unsere Werkstätten und Fabriken illuminieren und ihre Unternehmen, Ladies und Gentlemen, ihre Züge, ihre Schiffe, ihre Luftschiffe. Wir rufen sie dann, um die Birnen in die Fassungen zu drehen.« Mehr Gelächter. »Aber Sie alle hier im Saal – Sie und ich – wir benötigen lediglich etwas Licht, um unsere viel größeren Visionen zu verwirklichen. Ist es nicht so? Westinghouse baut die Lampe. Wir sagen ihm, wo er sie hinstellen darf.« Tosender Applaus erfüllt den Saal. Wieder bringt ihn die Herrschergeste zum Schweigen.

»Haben Sie unseren Fitzboy vor dem Schiff bewundert? Er beherrscht den zweibeinigen Gang, operiert bei Bedarf aber auch vom Wasser aus.« Offenbar spricht er von dem Giganten, den wir draußen in Aktion erlebt haben. »Sechsundzwanzig Tonnen kann er stemmen und bewegen, und wenn Sie die mit vier M1893 Gatling Guns versehene Version erwerben, wird unser Präsident selbst es nicht wagen, Sie auf ihrem Grund und Boden anzugreifen.« Er hebt mahnend den Zeigefinger.

»Was übrigens die Südstaatler unter uns angeht: Meine Herren, lassen Sie sich nicht durch seine silberne Rüstung verunsichern. Wenn Sie in unserer ach so befreiten und gleichberechtigten Welt abends vor dem Kaminfeuer wehmütig eine weiße Kapuze streicheln … nun, Sie bekommen ihn auch mit gänzlicher schwarzer Lackierung.« Jemand applaudiert. Vereinzelt schließt man sich dem an.

Unter den wohlhabenden Männern im Saal befindet sich tatsächlich ein gutes Dutzend Farbiger, die nach der Befreiung ihr Glück gemacht haben. Einige von ihnen lächeln gequält mit. Zwei oder drei von ihnen mustern Fitzroy schmallippig aus zornigen Augen.

»Dieser rassistische Bastard biedert sich selbst beim Clan an«, zischt Cornelia. »Die Syphilis soll dieses verkommene Subjekt bei lebendigem Leibe fressen.«

Ich beuge mich zu ihr hinab und flüstere ihr ins Ohr. »Ich dachte, wir waren uns einig, dass wir darauf nicht warten wollen.«

»Selbstverständlich wollen wir das nicht. Aber Sie sind mir bislang eine Antwort auf die Frage schuldig geblieben, wann und wie Sie es beenden wollen.«

»Zum richtigen Zeitpunkt.«

»Der wann ist?«, fordert sie ein weiteres Mal zu erfahren.

Meine Lippen sind direkt an ihrem Ohr: »Wenn Sie bereit sind, Ihr Leben zu opfern, dann gern gleich hier auf der Stelle. Beabsichtigen Sie jedoch noch einige Jahrzehnte in dieser Welt zu verweilen, dann halten Sie sich an meine Instruktionen.«

Fitzroy tritt derweil an den Rand der Bühne. »Sie, meine Damen und Herren, und ich. Wir denken weiter. Wir denken über Lastenheber auf zwei Beinen hinaus. Über Eisenbahnen, Luftschiffe, Raddampfer. Wir denken an eine neue Generation von Maschinen, wir denken an handelnde Maschinen«, er senkt die Stimme, als wolle er über ein Geheimnis sprechen, um das zu wissen nur diesem engen Kreis erlaubt ist. »An handelnde Maschinen und solche, die schon sehr bald selbst denken werden. Und jetzt gestatten Sie mir, Ihnen den Star unserer morgigen Opernpremiere zu präsentieren.« Er reißt die Arme hoch, als würde er einen Boxchampion ankündigen.

»Ladies und Gentlemen. Bitte heißen sie Falstaff Willkommen!«

Fitzroys Blick sucht das Publikum, während er noch immer in seiner großen Pose dasteht. Manche von ihnen lächelt er an, gelegentlich zwinkert er. Doch nichts geschieht. Endlose Augenblicke lang. Die Pause dauert so lange, dass die Zuschauer zu tuscheln beginnen. Hat der Star des Abends die Flucht ergriffen? Ist er nicht bereit für seinen Auftritt? Vielleicht hat er getrunken und ist in den Armen einer Gespielin eingeschlafen? Ich höre junge Frauen so etwas flüstern.

Im Hintergrund der Bühne rührt sich etwas. Schritte auf Holz sind zu hören. Starke Beine unter einem schweren Körper setzen einen Fuß vor den anderen.

Falstaff muss zentnerschwer sein. Aber auch in Europa wurde er ja in den Opernhäusern von einem sehr korpulenten Sänger verkörpert. Die Gestalt, die sich nun langsam aus dem Schatten hinter der Bühne ins Licht bewegt, ist nicht die eines fettleibigen Bühnensolisten.

Erst glaube ich, dass der Fitzboy von draußen auf die Bühne kommt. Aber die Silhouette ist zu klein. Die eines sehr großen Mannes, ja, aber kein Gigant.

Als Falstaff ins Licht tritt, sacken Unterkiefer herunter, Konkubinen stoßen ehrfurchtsvolle Seufzer aus, Männermünder raunen staunend.

Sein silberner Körper erinnert an den des Fitzboys, aber er wirkt menschlicher mit den Metallausformungen, die an Muskeln erinnern sollen und seinem glänzenden Kopf ohne Sichtfenster, durch das man einen Steuermann ausmachen könnte. Stattdessen gibt es zwei schrägstehende Augen, die denen einer Raubkatze gleichen. Umso abstruser wirkt das Hirschgeweih, das man ihm aufgesetzt hat. Es ist das eines stattlichen Zwölfenders, aber nicht aus Knochen, sondern aus Metall, und zwischen den Enden wandern Funkenentladungen empor. Vielleicht aus Teslaspulen, wie ich vermute.

Noch während ich zu dieser Schlussfolgerung gelange, lässt Falstaff eine infernalische Arie über die Zuhörer im Saal hereinbrechen. Einigen jungen Damen weicht die Farbe aus den zarten Gesichtern, aber die Musik verfehlt ihre Wirkung auch auf die Herren nicht.

Nur Augenblicke später verstummt Falstaff und hinterlässt einen Raum, der so still ist, als wäre er plötzlich luftleer.

Eine junge Dame erhebt sich im Publikum, nähert sich langsam entlang des Mittelgangs der Bühne, um ehrfürchtig davor stehenzubleiben. Unterhalb von Falstaff, der aus seinen unmenschlichen Augen auf sie herabblickt. Ihre Beine geben vor Leidenschaft nach, sie sackt auf die Knie. Ihre Hände graben sich in ihr Dekolleté, bieten Falstaff ihre weiblichen Formen dar.

Dessen künstlicher Körper reagiert. Unten, zwischen seinen eisernen Schenkeln, richtet sich ein wachsendes eisernes Gemächt auf.

Ich durchschaue, dass dies ein Teil der Vorstellung ist.

Fitzroy hebt anerkennend die Brauen. »Es scheint, dass Falstaff die ihm entgegengebrachte Sympathie erwidert. Offensichtlich werden wir gerade Zeuge, wie sich Mensch und Maschine ineinander verlieben.«

Im nächsten Augenblick ergießt sich eine Fontäne schäumender Gischt aus Falstaffs künstlichem Phallus direkt ins Gesicht der jungen Dame, die gierig zu trinken beginnt.

Fitzroy schlägt entrüstet die Hände auf seine Wangen. »Ein Eklat, Ladies und Gentleman, sowohl auf, als auch vor der Bühne.« Niemand rechnet damit, dass er seine Hand in den Strahl der weißen Flüssigkeit hält, um mit forschendem Gesichtsausdruck den Saft von seinen Fingerspitzen zu kosten. »Ich kann Sie beruhigen. Es ist französischer Champagner«, ruft er aus. »Ein ausgesprochen stimulierender, nebenbei bemerkt. Lassen wir also das Fest beginnen.«

Aus dem Boden vor der Bühne erhebt sich eine Pyramide von Champagnergläsern, die Falstaff auf die ihm eigene Weise füllt, während die Zuschauer in Jubel ausbrechen.

Cornelia ist aufgesprungen. »Diese Darbietung ist nicht nur geschmacklos, sie ist obszön und verletzend, um nicht zu sagen diabolisch. Ich will gehen«, fordert sie, macht aber doch keine Anstalten, den Saal zu verlassen. Es gelingt ihr nicht so schnell, der grotesken Inszenierung auf der Bühne den Rücken zu kehren. Sanft ziehe ich sie mit mir aus dem Saal heraus. Dies ist nicht der Ort, an dem eine untadelige junge Dame heute gesehen werden sollte.

»Woher nimmt er nur all den Champagner?«, fragt sie verwirrt, während wir die Treppe nach oben nehmen.

»Vermutlich hat er lange zölibatär gelebt«, spekuliere ich.

Sie setzt zu einer Entgegnung an, aber ich komme ihr zuvor.

»Die Reise war anstrengend, Sie sollten sich ausruhen, Miss Baybridge.«

»Was glauben Sie? Ist Fitzroys Falstaff wirklich eine Maschine?«

»So wenig wie Sie und …«, ich kann den Satz so nicht fortsetzen. »Nein, er funktioniert ähnlich wie einer Ihrer Fitzboys, da bin ich mir sicher.«

»Also steckt jemand darin, der ihn steuert?«

Ich wünschte wirklich, die Antwort darauf wäre so banal und harmlos.

»Ich denke, irgendwo vermisst jemand einen Opernsänger.«

»Wie meinen Sie das?«

»Ich bringe Sie jetzt in Ihre Kabine.«

»Und wo werden Sie sein?«

Geduldig lächelnd antworte ich: »Nun, ich hoffe, Sie entsinnen sich nach wie vor daran, wie ich ihnen ankündigte, Miss Baybridge, dass ich eine erhebliche Menge Bargeld werde ausgeben müssen. Mr. Falstaff war so freundlich, mich daran zu erinnern, wonach mir in den nächsten Stunden der Sinn steht.«