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Sybille Bayard Walpen - Eine Walliser Grossfamilie erzählt Der Clan - Vom Berg - Hier und Jetzt

Vorwort

Als Kind habe ich meine vielen Tanten und Onkel als eigenwillig, etwas ruppig und manchmal auch als ziemlich direkt wahrgenommen. Obwohl sie an diversen Orten im Wallis, in der Waadt, in der Deutschschweiz und sogar in Amerika lebten, traf ich sie häufig in dem von der Familie betriebenen Weinkeller an, in welchem mein Vater Alfons als Kellermeister arbeitete. Dort tranken sie ein Glas Wein und diskutierten mit Kundinnen und Kunden oder mit Mitgliedern der grossen Familie, wobei der Lärmpegel zu vorgerückter Stunde anstieg und die Diskussionen angeregter wurden. An Familienfesten sassen die Geschwister zusammen, gönnten sich ein paar Flaschen Wein und fingen ohne grosse Worte an zu lachen. Laut, ansteckend, salvenartig und nicht enden wollend. Etwas Unausgesprochenes verband sie miteinander, das wir Nachkommen nicht wirklich nachvollziehen konnten und weswegen wir uns etwas ausgeschlossen fühlten.

Ich möchte in diesem Buch den Ursachen dieser geschwisterlichen Verbundenheit auf den Grund gehen. Erzählt wird die Familiengeschichte meiner Grosseltern Oktavia Bayard-Marty und Jeremias Bayard und ihrer elf Kinder in den ersten 70 Jahren des letzten Jahrhunderts in Varen im Oberwallis. Als unabhängige Selbstversorger praktizierten sie das jahrhundertealte System der Stufenwirtschaft, wurden aber zunehmend mit den Auswirkungen von Industrialisierung und Modernisierung konfrontiert. Anhand der Kindheits- und Jugenderinnerungen meiner Tanten und Onkel soll die Alltags- und Sozialgeschichte des damaligen bäuerlichen Lebens wiedergegeben werden, wohlwissend, dass viele Walliser Familien zu jener Zeit unter ähnlichen Bedingungen lebten. In einem langsam erodierenden System von Agrarwirtschaft, Katholizismus und Clanwesen gingen die grossen gesellschaftlichen Veränderungen im Wallis in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit Erleichterungen im Arbeitsalltag, mit neuen Handlungsfreiheiten, aber auch mit veränderten Verantwortlichkeiten einher. Oktavia, Jeremias und die elf Kinder sind mit diesen Entwicklungen auf unterschiedliche Art und Weise umgegangen, wobei auch Faktoren wie Geschwisterreihenfolge oder Geschlecht eine Rolle spielten.

Grundlage dieses Buchs sind Gespräche, die ich in den letzten Jahren mit meinem Vater und seinen Geschwistern geführt habe. Da meine Tante Silvie leider schon verstorben ist, sprach ich stattdessen mit einem ihrer Söhne. Näheres zu Theodor, dem Bruder von Jeremias, erzählte mir dessen Tochter Steffi Dutli-Bayard. Falls nicht anderweitig erwähnt und zitiert, basieren alle Ausführungen auf diesen Interviews. Aus inhaltlichen Gründen ist die Reihenfolge der Kapitel nicht strikt chronologisch nach dem Geburtsjahr der Kinder. Die in den USA oder in der Westschweiz lebenden Geschwister wechselten während der Gespräche häufig zwischen dem Englischen beziehungsweise dem Französischen und dem Walliserdeutschen hin und her, was sich mittels eingefügter Begriffe in den entsprechenden Texten widerspiegelt. Auch wiedergegeben wird an gewissen Stellen eine sprachliche Eigenheit des Varner Dialekts, das Zusammenfallen von Akkusativ und Dativ bei Personalpronomen («Das war für mir wichtig»). Immer wieder werde ich von den Geschwistern direkt angesprochen. Darin spiegelt sich die Gesprächssituation, in der die Interviews stattgefunden haben. Einblicke in Oktavias Alltag boten zwei Haushaltsbüchlein, die sie vor beziehungsweise nach ihrer Hochzeit minutiös geführt hat. Die eingefügten Fotografien wurden häufig von den nach Amerika ausgewanderten Familienmitgliedern oder deren Nachkommen aufgenommen und zeigen eine externe Sichtweise. Auch Norberts Gotte, die Ordensschwester Paula, nahm bei ihren Besuchen in Varen und in der Weid, der Voralpe in der Nähe von Leukerbad, viele idyllische Bilder der Kinder vor Bergkulisse auf. Hierfür wurde meist das beste Sonntagsgewand hervorgeholt.

All diese Quellen sollen helfen, ein möglichst genaues Bild des Lebens in den ersten Jahrzehnten des letzten Jahrhunderts zu zeichnen. Zum besseren Verständnis der damaligen Situation im Wallis stütze ich mich zudem in einzelnen Kapiteln auf die Fachliteratur. Trotzdem ist das Buch nicht ein Spiegel der damaligen Realität. Im Mittelpunkt steht die subjektive Sicht der elf Geschwister auf ihre Kindheit und Jugend. Es sind Erinnerungen an eine Zeit, die weit entfernt scheint, obwohl sie noch gar nicht so lange vergangen ist.

Inhalt

Prolog

An der Schwelle zur Moderne

Das Wallis im Wandel

Familiengründung

Oktavia zieht es in die Welt hinaus

Jeremias führt die Tradition fort

Ein eigenes Haus und viele Kinder

Familienleben

Hedy, *1927

Marie, *1929

Das Stufensystem – Varen, Bodmen, Weid, Varneralp

Blutküchlein mit Äpfeln und die beste Polenta der Welt

Franz, *1932

René, *1933

Silvie, 1934–2009, aus der Sicht eines Sohnes

Politik – die Schwarzen und die Gelben

Dauerbelastungen und ein Zusammenbruch

Arnold, *1943

Norbert, *1943

Alfons, *1941

«Du weisst nicht, wie das Fegefeuer ist»

Kein unbeschwerter Ruhestand

Anny, *1936

Markus, *1938

Erich, *1939

Blick in die Gegenwart

Epilog

Nachwort

Dank

Anmerkungen

Bildnachweis und Quellenangaben

Autorin

Prolog

Kurz vor ihrer Hochzeit mit Jeremias Bayard im Herbst 1926 begleitete Oktavia Marty ihre Schwägerin Josephine im Zug nach Le Havre an die nordfranzösische Küste. Josephine war die Frau von Oktavias Bruder Ignaz. Mit ihren vier Töchtern, die zwischen drei und zehn Jahre alt waren, wollte sie mit dem Schiff nach New York auswandern, wie Tausende von Walliserinnen und Wallisern in den Jahrzehnten zuvor.1 Ignaz hatte das Wallis bereits vor einem Jahr Richtung Amerika verlassen und holte nun die Familie nach. Ganz freiwillig war er damals nicht gegangen. Ignaz war draufgängerisch, ganz anders als seine Schwester Oktavia, ein Luftibus mit unzähligen Ideen, der vieles ausprobierte und das Abenteuer liebte. Die Martys, so hiess es im Oberwalliser Dorf Varen, seien gescheite und unternehmungslustige Leute. Bevor er auswanderte, arbeitete Ignaz als Schreiner und führte drei Bäckereien in Varen, Leuk und Leukerbad. Die Räder seiner Mühlen baute er selbst. Das Mühlenrad im Nachbardorf Salgesch diente ihm dafür als Modell. Er war auch der Erste in Varen, der ein Auto besass. Misswirtschaft sei es gewesen, die zu Schulden im Umfang von 10 000 Franken und zum Bankrott geführt haben soll. Deshalb wanderte er 1925 in die USA aus, liess sich auf Long Island bei New York nieder und fand eine Anstellung als Schreiner. Er konnte sich schnell etablieren und erhielt als erster Zahltag einen Dollar in Gold. Mit den Jahren baute er sich auf Long Island ein Schreinerunternehmen mit bis zu 50 Mitarbeitenden auf und war zeitlebens einer der Einzigen, der in New York Wendeltreppen bauen konnte. Nach einem Jahr war er bereits so gut situiert, dass er einen Teil seiner Schulden zurückzahlen und Frau und Kinder nach Amerika nachholen konnte. Josephine fühlte sich jedoch nie wohl in den USA, war sehr eifersüchtig und lernte nie Englisch. Sie starb früh, geistig verwirrt.

Die damals 29-jährige Oktavia begleitete die Familie auf ihrer Reise nach Le Havre, denn die aus dem Saastal stammende und in Susten aufgewachsene Josephine hatte wenig Reiseerfahrung. Ganz im Gegensatz zu Oktavia, die aufgrund ihrer langjährigen Tätigkeit im Gastgewerbe mit häufigen Stellenwechseln schweizweit schon ziemlich herumgekommen war. Wie im Haushaltsbüchlein vermerkt, in dem Oktavia ab 1915 auf den Rappen genau und mit präziser Datumsangabe ihre Ein- und Ausgaben festhielt und dessen erste Seite sie mit «Spare in der Zeit, so hast du in der Not» überschrieb, kostete die Fahrt nach Le Havre und zurück 100 Franken. Auch einen Handkoffer für 65 Franken schaffte sie sich für die Reise an. Als das Schiff mit Josephine und den vier Kindern an Bord den Hafen von Le Havre Richtung New York verliess, stieg Oktavia wieder in den Zug und kehrte in die Schweiz, nach Varen, zurück. Sie trat die Rückreise nicht ohne eine gewisse Wehmut an, denn am liebsten wäre sie nach Amerika mitgefahren. Sie fühlte sich jedoch Jeremias Bayard verpflichtet, dem sie die Hochzeit versprochen hatte. Oktavias weiterer Lebensweg wäre wohl anders verlaufen, hätte sie sich zusammen mit ihrer Schwägerin auf den Weg über den Atlantik gemacht. Doch sie kehrte ins Wallis zurück, wurde Mutter von elf Kindern und führte zusammen mit ihrem Mann Jeremias ein Leben als Selbstversorger.

An der Schwelle zur Moderne

Das Wallis im Wandel

Varen befindet sich nahe der Sprachgrenze zwischen dem Ober- und dem Unterwallis, offiziell durch den Bach La Raspille getrennt, am Südhang des Tals auf 750 Metern über Meer. Ein Bergsturz in prähistorischer Zeit am rechten Rhoneufer formte den fast kahlen Hang mit steppenartiger Vegetation.2 Die Gegend ist geprägt durch ein südliches Klima mit sehr geringen Niederschlagsmengen. Das Dorf thront auf einer Terrasse oberhalb des Pfynwalds, einer der grössten zusammenhängenden Föhrenwälder der Alpen. Dort sucht sich die Rhone, umgangssprachlich auch «der Rotten» genannt, ihren Weg frei durch den Talboden. Die Kirche Maria Sieben Schmerzen befindet sich, abgesetzt vom Dorfkern, am südlichsten Punkt auf einem Felsvorsprung, von welchem der Hang rund 200 Höhenmeter gegen das Bahngeleise und den Rotten im Talgrund abfällt. Das 500-Seelen-Dorf3 war Anfang des letzten Jahrhunderts von Westen her über Salgesch erreichbar, wobei sich die Landstrasse durch Wiesen, Nussbäume und Weinberge den Hang hochschlängelte und die Sicht über die sanften Hügel des Mittelwallis bis ins Unterwallis freigab. Von Osten her führte der Weg von Susten im Talgrund über das oberhalb gelegene mittelalterliche Städtchen Leuk hinunter zur Dalabrücke mit dem Dalaturm aus dem 13. Jahrhundert. Die imposante Dalaschlucht im Rücken, stieg der Weg auf der anderen Seite zuerst steil, dann abflachend durch Wiesen und Weinberge hoch nach Varen.

Das Oberwallis war zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein geografisch und sprachlich isoliertes Randgebiet. Im ausgesprochenen Agrarland mit als Selbstversorger lebenden Kleinbauern arbeiteten im Jahr 1888 79 Prozent (schweizerischer Durchschnitt: 40%) und im Jahr 1910 noch 61 Prozent der Bevölkerung (schweizerischer Durchschnitt: 29%) hauptberuflich in Landwirtschaft, Minen und Wald.4 Dabei verteilten sich die Landwirtschaftsbetriebe auf mehrere Talstufen und waren aufgrund der erbrechtlichen Realteilung, das heisst der gleichmässigen Aufteilung des Erbes auf die Kinder, in zahlreiche Parzellen aufgesplittet. So war ein Hektar Walliser Rebland im Jahr 1916 durchschnittlich in 38 Parzellen aufgeteilt.5 Die Industrialisierung fand im Vergleich zu anderen Schweizer Regionen relativ spät statt und war vor allem auf die Entsumpfung der Rhoneebene durch die erste Rhonekorrektion (1863–1894) und die Verbreitung der Eisenbahn zurückzuführen. Dabei war die Entwicklung in den Jahren nach der Fertigstellung der Eisenbahnstrecke Sitten – Brig (1878) zunächst eher zögerlich.6 Dies änderte sich in den 1890er-Jahren, als die Nutzung der Elektrizität der Industrie ungeahnte Energiequellen eröffnete und neue Investitionen in bisher eher peripheren Gebieten zur Folge hatte. So wurde im Jahr 1908 die Aluminiumhütte der Aluminium Industrie AG (AIAG, auch Alusuisse genannt) in Chippis bei Siders eröffnet. Im selben Jahr nahm das Chemiewerk Lonza in Visp seine Produktion auf. Obwohl eine zunehmende Anzahl Personen im Oberwallis in der Folge in den Fabriken arbeitete, gaben sie ihr bäuerliches Leben nicht auf. Als sogenannte Arbeiterbauern führten sie mit der Hilfe der Familienmitglieder den familiären Landwirtschaftsbetrieb fort, was für die Unternehmer den Vorteil hatte, dass die Löhne tief gehalten werden konnten.7 Das mit der Eröffnung des Simplontunnels (1906) und der Fertigstellung der Eisenbahnstrecke Frutigen – Brig (1913) weiter vorstossende Eisenbahnnetz, das langsame Aufkommen des motorisierten Verkehrs und die besseren Strassenverbindungen – hier hinkte das Oberwallis bis zum Ersten Weltkrieg dem Unterwallis hinterher – führten weiter dazu, dass sich der seit Mitte der 1850er-Jahre aufkommende Fremdenverkehr deutlich verstärkte. Dies zeigte sich in einer Ausweitung des Angebots an Betten auch in den Seitentälern des Wallis. Bis weit ins 20. Jahrhundert waren Bauernkultur und Tourismus im Oberwallis jedoch zwei verschiedene Welten, die kaum miteinander in Kontakt kamen.8

Wie andere ländliche Gegenden der Schweiz war auch das Wallis stark vom Katholizismus geprägt. Auf nationaler Ebene war jedoch die Kultur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts vorwiegend protestantisch-liberal dominiert und durch Technik und Industrie bestimmt.9 Die ländlichen, katholisch-konservativen Gebiete, die gesamtschweizerisch eine Minderheit darstellten, waren wirtschaftlich weitgehend von den durch Liberalismus und Protestantismus geprägten, dynamischen Industriezentren des Mittellands abhängig. So arbeiteten zum Beispiel viele Dienstboten und Mägde für das reformierte Stadtbürgertum. Es gab jedoch auch stärker industrialisierte katholisch-konservative Gebiete wie der Kanton Solothurn, der 1847 im Sonderbundskrieg eindeutig aufseiten der Liberalen stand.10 Auch der Kanton St. Gallen, wo sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Stickereiindustrie etablierte, war konfessionell gespalten.11 Da der liberale Staat 1848 gegen den Widerstand der katholisch-konservativen Minderheit gegründet worden war, betrachteten die liberalen Kreise die Katholiken aus den ländlichen Regionen als rückständige Vertreter des Christentums und als unzuverlässige Patrioten. Die Katholisch-Konservativen auf der anderen Seite fühlten sich im modernen Staat nicht wohl. Sie kapselten sich gegen aussen ab, sahen ihre Identität bedroht und standen dem industriellen Fortschritt und den mittelländischen Zentren misstrauisch gegenüber. Den sozialen Wandel, den die moderne Entwicklung in der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auslöste, empfanden die Katholisch-Konservativen in den ländlichen Gebieten als fremdbestimmt. Auch gegenüber der liberalen Bildung verhielt sich ein Grossteil der katholischen Bevölkerung zurückhaltend. Die Bauern und Arbeiter hatten Angst, dass Bildung ihre Söhne und Töchter intellektuell und sozial den gewohnten Verhältnissen der Familie und des Dorfs entfremden würde.

Die katholischen Kirchenkreise reagierten defensiv auf die moderne Entwicklung, betonten die religiösen und ethischen Werte des eigenen Weltbilds und beschworen die vormodernen Gesellschaftsverhältnisse.12 Die Konfession erhielt damit einen wichtigen Stellenwert im Kampf gegen die andersdenkende Mehrheit. So versuchte die katholische Führung, ihre Gläubigen von den Bedrohungen der modernen Zeit so weit als möglich abzugrenzen und die kulturelle Identität des Katholizismus zu erhalten. Nach aussen wurden die Gläubigen in einem engmaschigen Netz von Kongregationen, Freizeitclubs und Vereinen abgeschirmt. Der gute Katholik besuchte katholische Schulen, nahm katholische Spitäler in Anspruch, war Mitglied katholischer Krankenversicherungen und katholischer Sparkassen und las katholische Tageszeitungen. Diese Abschottung hatte zur Folge, dass innerkatholische Unterschiede ausgeebnet und Spannungen zwischen den sozialen Schichten vermieden wurden. Sie verhinderte zum Beispiel die Abspaltung der katholisch organisierten linken Arbeiter und Angestellten in den industrialisierten Gebieten und kettete sie an den angestammten Bauern- und Gewerbeflügel in den ländlich geprägten Stammgebieten. Gegenüber den anderen beiden grossen politischen Subkulturen, dem Freisinn und der Anfang des 20. Jahrhunderts aufkommenden Sozialdemokratie, wurden die Interessen der Kirche durch den kirchen- und papsttreuen Flügel des Schweizer Katholizismus mit katholischen Volksorganisationen, Parteien und Vereinen vertreten. Die Katholisch-Konservative Partei nahm innerhalb des katholischen Organisationswesens die wichtigste Rolle ein, um die Leitvorstellungen der katholischen Weltanschauung in der Gesellschaft zu verbreiten. Dies gab den im Modernisierungsprozess zu kurz gekommenen Menschen und den wirtschaftlich zurückgebliebenen, katholisch geprägten Landregionen eine Stimme und führte sie an die Politik heran.13

Unter Einbezug der modernen Kommunikations- und der Transportmittel, die ihrerseits den sozialen Wandel vorantrieben, schuf der Katholizismus gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine organisierte katholische Massenreligiosität.14 Es entstanden neue Kultformen wie Andachten und Prozessionen, Wallfahrten und Heiligenfeste. Der Marienkult erlebte einen Aufschwung. Jegliches Verhalten gegen die geltenden Sitten wurde auf Fehlkonstruktionen der modernen Gesellschaft zurückgeführt.15 Die Geistlichen hielten die Gläubigen mit einem Moralismus, der mit Schuld, Fegefeuer, Hölle und Verdammnis drohte, in Schuldgefühlen gefangen. Sie intensivierten den Aufruf an die Familien und Schulen, die Heranwachsenden vor den sittlichen Gefahren der modernen Gesellschaft zu beschützen. So beinhalten die bischöflichen Hirtenbriefe der Schweiz, die in der Familie die erste und wichtigste Erziehungsinstitution sahen, zu jener Zeit vermehrt Gebote zu Enthaltsamkeit, sittlicher Kleidung, adäquater Lektüre und Gebet, was die Sorge vor weltlichen Vergnügen und dem zunehmenden Freizeitangebot der modernen Arbeitswelt zum Ausdruck brachte.16 Die Eltern sollten alles unternehmen, um die Kinder schon früh mit gutem Beispiel und durch Förderung der religiösen Erziehung im Glauben zu stärken. Die Bischöfe forderten vor allem die Mütter in vielen Schreiben auf, auf eine zurückhaltende Kleidung der Kinder zu achten und auch sich selbst ehrbar zu kleiden. So druckte der Walliser Bote im September 1930 das Mahnwort der Schweizer Bischöfe zum Bettag ab: «Die moderne Frauenmode entspricht dem christlichen Geiste vielfach nicht. Das Frauengewand soll reichen bis zum Hals, über die Knie und die Ellbogen. Durchsichtige Stoffe sind zu meiden. Diese Forderungen gelten allgemein. – Katholische Frauen, machet euch nicht zu Sklavinnen einer Mode, die nicht aus christlich gesinnten Kreisen stammt. Bedenkt die Verantwortung vor dem ewigen Richter, wenn ihr Ärgernisse ausstreut. ‹Wehe der Welt um der Ärgernisse willen›.»17 Bischof Bieler von Sitten konnte auch vielen Freizeitvergnügen wie Tanzen, Kino- und Theaterbesuchen nur Negatives abgewinnen, da diese die Gläubigen von der Sonntagsheiligung abhielten. «Wie viele Sünden», fragte er, «werden bei solchen nächtlichen Belustigungen begangen, wie manche Unschuld wird da zu Grabe getragen? [Man muss] die Beschlagnahme des Samstagabends […] geradezu teuflisch nennen.»18

Damit sich die katholischen Laien im öffentlichen Leben vermehrt in den Dienst der Kirche stellten, vereinigte Papst Pius XI. in den 1920er- und 1930er-Jahren alle katholischen Laienbewegungen unter dem Dach der «Katholischen Aktion». Damit wollte er ein Gegengewicht zu den damals sehr starken säkularen Gewerkschaften und der Arbeiterbewegung schaffen. Wichtige Elemente der Laienbewegungen waren neben dem Kampf gegen die Kommunisten und die «Gottlosen» die Thematisierung von Fragen wie Keuschheit, negativer Einfluss der Filmindustrie und «Auswüchse» der Frauenmode.19 Auch im Ober- und Unterwallis wurden Zellen der «Katholischen Aktion» mit dem Ziel geschaffen, die möglichen kommunistischen Aktivitäten zu überwachen. Obwohl es damals im Wallis keine offizielle Kommunistische Partei gab, sah Bischof Bieler in der Zerstrittenheit der katholisch-konservativen Parteien in seinem Kanton eine grosse Gefahr, die es den sozialistischen und kommunistischen Bewegungen erlauben würde, die Aufmerksamkeit der Bauern und Arbeiter auf sich zu lenken.20

In alpinen Regionen wie dem Wallis verbündete sich die katholische Kirche mit den Gemeinden als politischen Hauptakteuren, denn wesentliche Tätigkeiten der Landwirtschaft und der Viehzucht waren bis weit ins 20. Jahrhundert kollektiv organisiert und durch die Gemeinden kontrolliert.21 Dabei war die kirchliche Struktur in den Gemeinden meist nicht eindeutig von der politischen zu unterscheiden. Die Ausgaben für die Besoldung der Priester, den Unterhalt des Pfarrhauses oder für religiöse Feste gehörten zu den wichtigsten kommunalen Aufwendungen. Die katholischen Rituale sollten auch dazu dienen, Krankheiten oder Missernten fernzuhalten und den geregelten Ablauf der Jahreszeiten zu begleiten. Durch die Verbundenheit mit den autonomen Gemeinden, den Widerstand gegen die Reformbestrebungen der weltlichen Behörden und die Verhinderung der Bildung einer effektiven Zentralgewalt versuchte die katholische Kirche, ihre Macht und ihre Privilegien zu erhalten. Auf diese Weise trug sie dazu bei, erfolgreicher als anderswo die Grundstrukturen einer bäuerlichen und dezentralen, von den lokalen Organen kontrollierten Wirtschaft aufrechtzuerhalten.

Der Rückstand der Katholiken und ihre Konzentrierung auf die ländlichen Gegenden änderten sich mit den Umwälzungen des Zweiten Weltkriegs und dem enormen Wirtschaftsaufschwung der 1950er- und 1960er-Jahre. Das Wallis verzeichnete in den Jahren 1950 bis 1970 denn auch ein überdurchschnittliches industrielles Wachstum, während die Beschäftigung in der Landwirtschaft markant abnahm.22 Ein ausgesprochener Wohlstand breitete sich aus: Die meisten Schweizerinnen und Schweizer schafften sich bis in die 1970er-Jahre neben dem Auto ein Telefon und einen Fernsehapparat an.23 Dank Arbeitszeitverkürzungen verfügten die Menschen über immer mehr freie Zeit. Ferien wurden auch für die Arbeiter- und Angestelltenklasse erschwinglich. Der soziale Wohlfahrtsstaat wurde fortwährend ausgebaut. Nicht nur die öffentlichen Verkehrsmittel, sondern auch die private Motorisierung ermöglichten eine zunehmende Mobilität. Die aufkommende Freizeit- und Konsumgesellschaft führte dazu, dass der Sonntag vermehrt dazu genutzt wurde, Freizeitaktivitäten auszuüben und sich von der Arbeit zu erholen. Der Sonntag wurde verweltlicht und entglitt der Kontrolle der Kirche. Die Katholiken holten ihr wirtschaftliches Manko auf und gaben dabei grundlegende Werte der traditionellen katholischen Kultur auf. Die katholische Weltanschauung verlor ihren Absolutheitsanspruch. Die Modernisierung veränderte die hergebrachten Lebensweisen und die mit bäuerlichem Schaffen verbundenen Volksbräuche. Dabei kam es nicht plötzlich zu einer totalen Umkehrung der Werte, sondern zu einer Gleichzeitigkeit von Altem und Neuem. Während sich die technischen und wirtschaftlichen Lebensstrukturen rasch änderten, blieben die religiösen Volksbräuche eine Zeit lang weiterbestehen. So waren die Veränderungen der religiösen Praxis in den 1940er-Jahren zuerst unterschwellig, ab den 1960er-Jahren verliefen sie dann offensichtlich.

Familiengründung

Oktavia zieht es in die Welt hinaus

D’Chachlini wurde Oktavias Familie in Varen genannt. Der Ausdruck bezeichnet Personen, denen schnell etwas kaputtgeht oder die leicht an andere Personen geraten. Oktavias Vater Theophil verdiente Geld mit Schreinerarbeiten, die er im Erdgeschoss des Wohnhauses im Ortsteil z’oberst Dorf in Varen ausübte. Mutter Barbara, geborene Jaggi, arbeitete als Weberin in Heimarbeit, wobei sich der grosse Webstuhl in einem Lokal im selben Haus befand. Daneben hielt die Familie Marty Nutztiere und war im Weinbau tätig. Als fünftes Kind im Jahr 1897 geboren, wuchs Oktavia mit ihren sechs Geschwistern Serafine, Theodul, Céline, Marie, Ignaz und Anna auf. Marie trat als 19-Jährige ins geschlossene Kloster von Gerunden in Siders ein und hiess nach dem Ablegen des Ordensgelübdes Schwester Ursula. Céline verstarb 1910 als 25-Jährige an Lungenkrebs. Drei Jahre später verstarb ihr Vater Theophil 54-jährig ebenfalls an Krebs. In Gesprächen mit ihren eigenen Kindern erwähnte Oktavia später ihren Vater nur selten. Ihre Mutter war ihr hingegen sehr wichtig. Nach dem Tod von Barbara liess Oktavia jedes Mal, wenn sie von ihr träumte, ihr zu Ehren eine Messe lesen.24

Wie für die meisten Mädchen im Wallis zu Beginn des letzten Jahrhunderts endete die obligatorische Schulpflicht für Oktavia mit zwölf Jahren. Bis weit in die 1950er-Jahre hinein hatte der Kanton den Frauen nur spärliche Ausbildungsmöglichkeiten anzubieten: Sehr wenige Töchter aus Berggemeinden besuchten ein von Klosterfrauen geführtes Pensionat, eine Mädchenhandelsschule oder ein Lehrerinnenseminar.25 In der oberen sozialen Schicht war die Abwehrhaltung gegen jegliche Berufstätigkeit der Frau allgemein verbreitet. In gewerblichen Kreisen wie dem Detailhandel, dem Gastgewerbe oder der Hotellerie war die Mitarbeit der Töchter und Ehefrauen im Rahmen des Familienbetriebs hingegen selbstverständlich. Eine Notwendigkeit war der Einsatz der Frauen bei den Arbeiterbauern, sie mussten einen Grossteil der landwirtschaftlichen Tätigkeiten im familiären Betrieb übernehmen.26 Bei den als Selbstversorger lebenden Bauernfamilien stellte der zusätzliche Einsatz der Frauen in Heimarbeit, im Hausdienst oder im Gastgewerbe ein kleines Erwerbseinkommen dar. Dabei herrschten teilweise prekäre Arbeits- und Lohnverhältnisse, obwohl die Nachfrage nach weiblichen Arbeitskräften, insbesondere Dienstbotinnen, zu jener Zeit im Wallis gross war. Im Gegensatz zu anderen Kantonen wie Tessin oder Uri, wo die Frauen in der Textilindustrie einen wesentlichen Teil der Arbeiterschaft stellten, waren Frauen in den von der Schwerindustrie geprägten Betrieben des Wallis hingegen nur selten anzutreffen.27

Auch Oktavia war als junge Frau zuerst im Hausdienst und anschliessend im Gastgewerbe tätig. In ihrem Haushaltsbüchlein sind all ihre Arbeitsstellen mit den entsprechenden Einnahmen und Ausgaben festgehalten. Als Erstes war sie als Haushaltshilfe bei der verarmten Adelsfamilie von Werra im Nachbardorf Leuk angestellt. Als sie dort im Sommer 1915 mit ihrer Buchführung begann, war sie 18 Jahre alt. Oktavia und Jeremias kannten sich zu jener Zeit bereits. Jeremias neckte Oktavia auch später noch gerne. Immer, wenn sie damals von Varen nach Leuk gelaufen sei, so meinte er, habe man bis weit hinunter Richtung Dalaschlucht den Hintern wackeln sehen.

Neben einem grossen Landwirtschaftsbetrieb gehörten der Familie von Werra bis 1912 auch zwei Schlösser, eines im Talgrund in Susten und ein kleineres für die Wintermonate am Sonnenhang in Leuk.28 Damit war die Familie die grösste Arbeitgeberin der Region. Der Notar, Grossrat und stellvertretende Regierungsstatthalter Leo von Werra war in der Region für seine Grosszügigkeit bekannt. Seine Frau Henriette, geborene de Wolff, stammte aus dem französischsprachigen Sitten. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war das familiäre Vermögen aufgebraucht. Nicht nur die Versuche, die Landwirtschaft rentabler zu machen, sondern auch Leo von Werras Projekte als Unternehmer und Erfinder scheiterten. Dies führte den stark verschuldeten Baron in einen juristisch umstrittenen Konkurs, und er verlor 1912 seinen gesamten Besitz. Das Schloss in Susten wurde zwangsversteigert. Es beherbergt seither ein Alters-, Pflege- und Behindertenheim. Die Familie von Werra mit ihren acht Kindern musste dauerhaft in ihre Winterresidenz nach Leuk ziehen und war in den darauffolgenden Jahren in grosser finanzieller Bedrängnis.

Oktavia verdiente in Leuk einen für damalige Verhältnisse geringen Lohn von 25 Franken im Monat, der manchmal durch ein paar wenige Franken Trinkgeld aufgebessert wurde. Sie fühlte sich bei der Familie von Werra jedoch sehr wohl und sprach immer positiv von der Zeit in Leuk. Henriette von Werra sei eine flotte Frau gewesen. Bei ihr lernte sie nicht nur Französisch, auch ihre Kochkünste eignete sie sich dort an. Kochen und Sparen lerne man bei reichen Leuten, so sagte sie. Omeletten mit Holderblüten war eines der Gerichte, das sie in Leuk lernte und später für ihre Familie zubereitete.

Im Oktober 1915, als sie erst ein paar Monate bei der Familie war, begleitete Oktavia die fast vierjährige Emma und den 15 Monate alten Franz von Werra von Leuk hinunter zum Bahnhof Susten, von wo aus sie mit dem Zug zu Adoptiveltern nach Süddeutschland gebracht wurden. Aufgrund der grossen materiellen Not hatten sich Leo von Werra und seine Frau Henriette dazu entschieden, zwei der insgesamt acht Kinder nach Deutschland zur Adoption freizugeben. Die Kinder wuchsen bei einer süddeutschen Adelsfamilie in Beuron auf, die allerdings in den 1930er-Jahren ebenfalls verarmte. Die scheue und introvertierte Emma kehrte nach dem Zweiten Weltkrieg nach Leuk zurück und lebte dort bis zu ihrem Tod. Der Draufgänger Franz hingegen trat 1935 in die deutsche Luftwaffe ein. Während des Kriegs wurde er über England abgeschossen und geriet in Kriegsgefangenschaft. Während eines Gefangenentransports in Kanada sprang er vom fahrenden Zug und floh über den Sankt-Lorenz-Strom in die damals neutralen USA. Diese Geschichte machte ihn zum gefeierten Helden, und bei seiner Rückkehr wurde er von Adolf Hitler und Hermann Göring empfangen. Im November 1941 kam Franz bei einem Übungsflug über der Nordsee ums Leben.29

Auszug aus Oktavias Haushaltsbüchlein, Leuk ( 1916).

Nach dem Ende der Anstellung bei der Familie von Werra im Sommer 1917 arbeitete Oktavia gemäss den Angaben im Haushaltsbüchlein neun Jahre lang im Gastgewerbe an verschiedenen Orten in der Schweiz. Die Stellen fand sie entweder über ein Stellenvermittlungsbüro oder über Zeitungsannoncen. Nach eineinhalb Jahren in Brig wechselte sie 1919 nach Leysin, welches zu jener Zeit neben Davos ein international bekanntes Zentrum zur Behandlung von Knochentuberkulose war. Der therapeutische Ansatz basierte auf guter Ernährung, dem Aufenthalt im Freien und kalten Wassergüssen. Auguste Rollier, der 1903 in Leysin ein Sanatorium für Kinder mit Tuberkulose errichtete und bis 1940 rund 40 Sanatorien ausbaute, setzte zudem auf die heilende Kraft der Sonne.30 In Leysin wird sich Oktavia möglicherweise einen Teil ihres medizinischen Wissens angeeignet haben, mit dem sie später nicht nur ihren Kindern, sondern auch den Dorfbewohnern in Krankheitsfällen behilflich war. 1920 kehrte sie nach Varen zurück und führte elf Monate lang das Café de la Poste, eine der drei Gaststätten im Dorf. Jeweils am Sonntagabend stattete ihr Jeremias dort einen Besuch ab. Er blieb allerdings immer nur bis zehn Uhr. Das sei seine Zeit gewesen, um heim ins Bett zu gehen. Oktavia gefiel diese Arbeit, und am liebsten hätte sie die Gaststätte gleich übernommen. Für Jeremias kam das aber nicht infrage.

Auch in Varen führte sie Buch über ihre Einnahmen und ihre Ausgaben für Bier, Wein, elektrisches Licht, das Patent oder die Zeitung. Danach zog sie weiter nach Mariastein (1921), Onex bei Genf und Genf (1922/23), wobei sie jeweils mit dem Zug von Varen zu den Arbeitsstellen pendelte, bevor sie im Juni 1923 für die Sommersaison auf die Fiescheralp ins Hotel Jungfrau-Eggishorn wechselte, einem Grandhotel am Fuss des Eggishorns. Sie fühlte sich wohl dort und stand in einem guten Verhältnis zur Besitzerfamilie Cathrein, die auch verschiedene Hotels auf der Riederalp führte. Die Fotografie aus jener Zeit zeigt eine elegante Frau mit dunklem Rock, Bluse, Jacke, Hut mit breiter Krempe, passenden Schuhen und Unterarmtasche, die selbstbewusst in die Kamera blickt.

Nicht nur wegen ihres Einstiegs ins Gastgewerbe nahm Oktavias Lohn zu jener Zeit sprunghaft zu. Die Hotellerie erholte sich damals auch langsam vom Schock des Ersten Weltkriegs.31 Während sie 1921 in Mariastein 80 Franken Lohn und bis zu 60 Franken Trinkgeld im Monat verdiente, erhielt sie 1923 im Hotel Jungfrau-Eggishorn auf der Fiescheralp neben einem bescheidenen Lohn von 15 Franken bis zu 440 Franken Trinkgeld. Dies war allerdings ein saisonaler Arbeitsplatz, der während zweier bis dreier Monate einen überaus hohen Einsatz erforderte. Im Gegensatz zur Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, als sich die Kundschaft der herrschaftlichen Gebirgshotels vorwiegend aus dem vermögenden europäischen Grossbürgertum zusammensetzte, dürfte Oktavia im Hotel Jungfrau-Eggishorn während der Zwischenkriegszeit aufgrund des Aufkommens des Inlandtourismus überwiegend mit wohlhabenden Schweizer Gästen in Kontakt gekommen sein.32 Der Luxus des Berghotels kontrastierte dabei auch in der Zwischenkriegszeit mit der Lebenswelt der Bergbauern. Während sich die Bauern auf der Alp in der Aletschregion bis weit ins 20. Jahrhundert vorwiegend von Schpiis [kalten Speisen wie Roggenbrot, Käse und getrockneten Fleischwaren] ernährten, wurde den Gästen im Hotel Jungfrau-Eggishorn Sardinen, Spargeln, Artischocken oder Safran und die Getränke in eigens dafür vorgesehenen Wasser-, Wein-, Champagner-, Vermouth-, Liqueur-, Absinth-, Bier- und Milchgläsern serviert. Auch die Ausstattung war sehr differenziert. Dazu gehörten Fumoir, Salon, Hotelhalle, Speisesaal und Gaststube. In weiteren Gebäuden befanden sich ein Postbureau, zwei Kapellen, ein Verkaufsbazar und anliegend ein Tennisplatz.33

Oktavia als junge Frau (undatierte Aufnahme).

Das verdiente Geld gab Oktavia in den ersten drei Jahren ihrer Buchführung fast ausnahmslos der Mutter. Es war für ihre Eltern ein dringend benötigter finanzieller Zustupf. Als ihr Lohn in den 1920er-Jahren stieg, gab sie ihren Eltern einen Teil des Lohns und überwies den Rest auf ein eigenes Bankkonto. Sie selbst lebte sehr sparsam. Geld gab sie nur für das Notwendigste aus: für Strümpfe, Unterröcke, Flickarbeit und Stoffe, für Briefmarken und Briefpapier, Haarkämme und Haarwasser, für Fotografien und für die Reisen von und zu ihren Arbeitsstellen. Genussmittel wie Schokolade, Kaffee oder ein Glas Wein beziehungsweise Freizeitaktivitäten wie eine Schifffahrt leistete sie sich nur ausnahmsweise. Ein einmaliger Besuch in einem Theater und in einem Schwitzbad in Bern im Jahr 1925 kostete je fünf Franken Eintritt. Hingegen liess sie ab 1924 für zwei bis fünf Franken regelmässig Messen für ihre verstorbenen Vorfahren lesen. Wegen fehlender Krankenversicherung übernahm sie die Arzt- oder Zahnarztkosten von 30 bis 70 Franken jeweils selbst.

Nach Abschluss der Sommersaison 1923 auf der Fiescheralp arbeitete Oktavia an drei Orten am Genfersee, in Lausanne, in Saint- Cergue bei Nyon und in Chexbres bei Lausanne, bevor sie nach Varen zurückkehrte und erneut im Café de la Poste servierte. Im Mai 1924 reiste sie nach Lourdes zur Wallfahrt. In der Sommersaison 1924 arbeitete sie wiederum auf der Fiescheralp und wechselte für die Wintersaison 1924/25 nach Grenchen. Die nächsten Stationen waren La Chaux-de- Fonds, Laufenburg, Zürich, Varen, Grindelwald, Bern und Montana, wo sie jeweils nur wenige Wochen oder Monate blieb. Ohne zugesicherte Stelle reiste sie danach ins Tessin und kam dort mit nur fünf Franken in der Tasche an. Als Erstes ging sie in eine Kirche und liess für einen ihrer Vorfahren eine Messe lesen. Kurz darauf fand sie dann die Stelle im Kurhaus Cademario mit Blick auf den Luganersee. Ihre Tochter Anny erinnert sich noch heute, dass diese Geschichte sie als Kind sehr beeindruckte: Da kann man eine Messe lesen lassen und erhält dann eine Stelle.

Wie schon in Leysin kam sie im Kurhaus im Tessin mit den damaligen modernen medizinischen Behandlungen in Kontakt. Der aus der Ostschweiz stammende Arzt Adolf Keller-Hoerschelmann vereinte in der neu gebauten Naturheilanstalt im sonnigen Süden alternative Heilmethoden im Bereich des Sports, der Diät, der Atmungstechniken und der Suggestion zu einem eigenen reformistischen Ansatz. Die natürliche Lebens- und Heilweise mit Bewegung, Entspannung, Licht, Luft und Sonne sollte zur Heilung wie auch zur Vorbeugung von krankhaften Störungen beitragen. In den 1920er-Jahren ging das Kurhaus auch in Sachen Ernährung neue Wege. So wurden Fastentage und Rohkosttage durchgeführt und den Gästen gedämpftes, salzloses Gemüse angeboten.34

Nach ein paar Monaten in Cademario und der Reise nach Le Havre kehrte Oktavia ins Wallis zurück, um im November 1926 Jeremias Bayard zu heiraten. Schon im Vorjahr hatte sie mit den Vorbereitungen für ihre Hochzeit begonnen und sich in regelmässigen Abständen Teile ihrer Aussteuer gekauft: Zweimalig erwarb sie 1925 in einem Warenhaus in Bern Leintücher, Kissen, Kissenbezüge, Duvets, Türvorlagen, Moltons, Tischtücher, Stoff und Geschirr. Von ihrer Mutter erhielt sie selbst gewobene, robuste und sehr langlebige Bettwäsche. Sie liess in Lausanne für 50 Franken Fotografien von sich anfertigen, während Ringe und Ringsiegel 125 Franken kosteten. Zum Zeitpunkt der Hochzeit war Oktavia 29 und Jeremias 31 Jahre alt, ein damals übliches Heiratsalter, denn die jungen Leute mussten in bäuerlichen Gegenden oftmals zuwarten, bis sie genügend Geld für den Ehestand verdient hatten oder ihnen ein Teil des elterlichen Erbes zukam.35 Wie sie selbst notierte, hatte Oktavia in den elf Jahren insgesamt 10 710 Franken gespart, welche sie in die Ehe einbrachte. Davon hatte sie zu jenem Zeitpunkt 3000 Franken ihrer Schwester Serafine und 1089 Franken ihrem Bruder Theodul geliehen, wobei sie von beiden regelmässigen Zins erhielt. Der Rest lag auf verschiedenen Bankkonten. Jeremias hingegen verfügte zum Zeitpunkt der Hochzeit über kein eigenes Geld. Er brachte jedoch eine recht ansehnliche Anzahl Güter in die Ehe ein.

Aussteuerrechnung Oktavias (1926).

Jeremias führt die Tradition fort

Jeremias, auch Mias oder ds’Miji genannt, wuchs zusammen mit seinem vier Jahre älteren Bruder Theodor in der oberen Wohnung eines schmalen Hauses am Kegelplatz auf, einem etwas von der Hauptgasse zurückversetzten Platz im Zentrum von Varen. Die Familie lebte von der Landwirtschaft und vom Rebbau. Seine Mutter Leonie, geborene Varonier, zog die Buben allein auf, denn 1897, als Jeremias zweijährig war, starb sein Vater an Auszehrung, eine damals übliche Bezeichnung für eine durch Krankheiten wie Krebs oder Tuberkulose verursachte Abmagerung. Auf diesen Schicksalsschlag folgten gleich zwei weitere: Innerhalb eines Jahres verlor die Mutter nicht nur ihren Mann, sondern auch ihre beiden Töchter. Da Leonie die Rebarbeiten nicht allein bewältigen konnte, griff sie nach dem Tod ihres Mannes auf die Hilfe von Tagelöhnern zurück. Auch Jeremias und Theodor mussten der Mutter schon sehr früh bei der Bewirtschaftung des familiären Guts helfen, weshalb Jeremias auch keinen Militärdienst verrichtete.